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Lexikon der Mathematik: reelle Zahlen

Ergebnis der Erweiterung des archimedischen Körpers ℚ der rationalen Zahlen zu einem vollständigen archimedischen Körper ℝ. Dieser Erweiterung kann etwa mit Hilfe von Cauchy- Folgen, von Dedekind-Schnitten oder von Intervallschachtelungen durchgeführt werden. Jeweils muß man die Körperoperationen und die Ordnung geeignet definieren.

Weiter können die reellen Zahlen als Dezimalbruchentwicklungen definiert oder geometrisch als Punkte der Zahlengeraden gedeutet werden. Schließlich kann man ℝ axiomatisch als vollständigen archimedischen Körper einführen. Dann sind die Körperoperationen und die Ordnung schon als Teil der Definition gegeben.

Cauchy-Folgen

Nach Georg Gantor (1883) und Charles Méray (1869) definiert man den Körper ℝ der reellen Zahlen als Restklassenkörper C/N des (kommutativen) Rings C der Cauchy-Folgen rationaler Zahlen bzgl. des (maximalen) Ideals N der Nullfolgen, d. h. als Menge von Äquivalenzklassen bzgl. der durch \begin{eqnarray}\begin{array}{cc}({p}_{n})\sim({q}_{n}):\iff {p}_{n}-{q}_{n}\to 0 & (n\to \infty )\end{array}\end{eqnarray} auf C erklärten Äquivalenzrelation. Für (pn) ∈ C sei ⟨pn⟩ die Äquivalenzklasse von (Pn) bzgl. ~ Für (pn) ~ (p′n) und (qn) ~ (q′n) gilt \begin{eqnarray}({p}_{n}+{q}_{n})\sim({p}^{\prime}_{n}+{q}^{\prime}_{n})\end{eqnarray} d. h. die Definition \begin{eqnarray}\langle {p}_{n}\rangle +\langle {q}_{n}\rangle :=\langle {p}_{n}+{q}_{n}\rangle \end{eqnarray} ist sinnvoll. Ebenso ist die Definition \begin{eqnarray}\langle {p}_{n}\rangle \langle {q}_{n}\rangle :=\langle {p}_{n}{q}_{n}\rangle \end{eqnarray} sinnvoll. Mit der Null 0 : = ⟨0⟩, der Eins 1 := ⟨1⟩, der durch \begin{eqnarray}\begin{array}{cc}-\langle {p}_{n}\rangle :=\langle -{p}_{n}\rangle & (\text{Negatives}\ \text{}\text{}\ \text{}\text{}\ \text{zu}\ \text{}\text{}\ \text{}\text{}\ \langle {p}_{n}\rangle )\end{array}\end{eqnarray} gegebenen additiven Inversenoperation und der durch \begin{eqnarray}\begin{array}{cc}{\langle {p}_{n}\rangle }^{-1}:=\left\langle \displaystyle\frac{1}{-{p}^{\prime}_{n}}\right\rangle & (\text{Reziprokes}\ \text{}\text{}\ \text{}\text{}\ \text{zu}\ \text{}\text{}\ \text{}\text{}\ \langle {p}_{n}\rangle \ne 0)\end{array}\end{eqnarray} mit \({P}^{\prime}_n := p_n\) für pn ≠ 0 und \({P}^{\prime}_n := 1\) für pn = 0 gegebenen multiplikativen Inversenoperation ist (ℝ, +, 0, ·, 1) ein Körper. Die Abbildung \begin{eqnarray}\Phi :{\mathbb{Q}}\ni p\mapsto \langle p\rangle \in {\mathbb{R}}\end{eqnarray} bettet den Körper ℚ in den Körper ℝ ein. Mit den positiven reellen Zahlen \begin{eqnarray}{{\mathbb{R}}}_{+}:=\left\{\langle {p}_{n}\rangle \,|\,\exists \varepsilon \in {{\mathbb{Q}}}_{+},N\in {\mathbb{N}}\,\,{\forall }_{n}\ge N\,\,{p}_{n}\gt \varepsilon \right\}\end{eqnarray} gilt \({\mathbb{R}}=-{{\mathbb{R}}}_{+}\uplus \{0\}\uplus {{\mathbb{R}}}_{+}\) (Trichotomie). Die Ordnung von ℚ wird durch \begin{eqnarray}r\lt s:\iff s-r\in {{\mathbb{R}}}_{+}\end{eqnarray} für r, s ∈ ℝ zu einer Ordnung auf ℝ fortgesetzt. Damit ist ℝ ein vollständiger archimedischer Körper.

Vorteile dieses Zugang zu den reellen Zahlen (z. B. verglichen mit dem über Dedekind-Schnitte) sind etwa, daß man Addition und Multiplikation aus der Addition und Multiplikation von Folgen bekommt, und daß er sich auch nutzen läßt zur Vervollständigung metrischer Räume (wobei wiederum die Vollständigkeit von ℝ benutzt wird).

Dedekind-Schnitte

Gemäß Julius Wilhelm Richard Dedekind (1872) definiert man die reellen Zahlen als Dedekind-Schnitte in den rationalen Zahlen, also \({\mathbb{R}}:={\mathbb{D}}({\mathbb{Q}})\). Man identifiziert Dedekind-Schnitte mit ihren rechten Mengen und setzt \begin{eqnarray}D+E:=\{d+e|d\in D,e\in E\}\end{eqnarray} für D, E ∈ ℝ und \begin{eqnarray}DE:=\{de|d\in D,e\in E\}\end{eqnarray} für D, E > 0. Jeder Schnitt D läßt sich als Differenz D = PQ zweier Schnitte P, Q ≥ 0 schreiben. Für zwei beliebige Schnitte D, E mit Darstellungen D =PQ und E = RS mit Schnitten P, Q, R, S ≥ 0 setzt man \begin{eqnarray}DE:=PR+QS-PS-QR.\end{eqnarray} Diese Multiplikation ist wohldefiniert und macht ℝ zu einem vollständigen archimedischer Körper. Die Abbildung \begin{eqnarray}\Phi :{\mathbb{Q}}\ni x\mapsto \{r\in {\mathbb{Q}}\,|\,r\gt x\}\in {\mathbb{R}}\end{eqnarray} bettet den geordneten Körper ℚ in den geordneten Körper ℝ ein.

Intervallschachtelungen

Von Paul Gustav Heinrich Bachmann (1892) stammt die Definition der reellen Zahlen als Restklassen bzgl. der durch \begin{eqnarray}\begin{array}{ll}I\sim J:\iff & I\,\text{und}\, J\,\text{haben eine gemeinsame Verfeinerung}\end{array}\end{eqnarray} auf der Menge der rationalen Intervallschachtelungen erklärten Äquivalenzrelation. Eine rationale Intervallschachtelung ist eine absteigende Folge von nicht-leeren abgeschlossenen Intervallen in ℚ, deren Längen gegen 0 konvergieren, also eine Folge (In) von Intervallen In = [an, bn ] ⊂ ℚ mit an, bn ∈ ℚ, a1a2 ≤ … < … ≤ b2b1 und bnan → 0 für n → ∞. Für zwei Intervallschachtelungen I = (In) und J = (Jn) heißt J eine Verfeinerung von I, falls JnIn für alle n ∈ ℕ.

Durch Definition von Addition, Multiplikation und Ordnung für Intervallschachtelungen I und damit (nach Nachweis der Repräsentantenunabhängigkeit) für deren Restklassen ⟨I⟩ entsteht ein vollständiger archimedischer Körper ℝ. Die Abbildung \begin{eqnarray}\Phi :{\mathbb{Q}}\ni p\mapsto \langle [q,q]\rangle \in {\mathbb{R}}\end{eqnarray} bettet den geordneten Körper ℚ in den geordneten Körper ℝ ein.

Vorteile dieses Verfahrens sind etwa seine Anschaulichkeit und die Tatsache, daß die Elemente einer Intervallschachtelung Näherungen bekannter Genauigkeit für die zugehörige reelle Zahl darstellen.

Dezimalbruchentwicklungen

Karl Theodor Wilhelm Weierstraß (1872) definierte die reellen Zahlen als Dezimalbruchentwicklungen, d. h. als unendlich lange Zeichenketten \begin{eqnarray}\pm {a}_{n}{a}_{n-1}\ldots {a}_{1}{a}_{0},{a}_{-1}{a}_{-2}{a}_{-3}\ldots \end{eqnarray} mit n ∈ ℕ0, ak ∈{0, …, 9} für kn und an ≠ 0 im Fall n > 0, wobei man die Entwicklung −0,000… sowie Entwicklungen, die auf eine Folge von lauter Neunen enden, ausschließt oder mit geeigneten anderen Entwicklungen identifiziert. Man definiert für Dezimalbruchentwicklungen Addition, Multiplikation und Ordnung als Operationen bzw. Relation von Zeichenketten und zeigt, daß dann ℝ mit der Null 0 := +0,000… und der Eins 1 := +1,000 … ein vollständiger archimedischer Körper ist.

Vorteile dieses Verfahrens sind etwa seine Anschaulichkeit und sein Bezug zum praktischen Rechnen. Auch andere Basen als 10 können als Grundlage der Entwicklung benutzt werden.

Zahlengerade

Die reellen Zahlen lassen sich geometrisch darstellen als Punkte einer beliebig gewählten Geraden g der euklidischen Ebene. Man legt auf g zwei verschiedene Punkte 0 und 1 fest. Dadurch wird eine Durchlaufungsrichtung von g und damit eine Ordnung bestimmt. Man nennt g Zahlengerade und die in 0 beginnende, durch 1 laufende Halbgerade, die gerade die nicht-negativen reellen Zahlen enthält, Zahlenstrahl. Die Addition entspricht dem Aneinandersetzen der zugehörigen Strecken (unter Beachtung der Richtung) und die Multiplikation einer Streckung.

Eigenschaften von ℝ

ℝ ist der kleinste den Körper ℚ umfassende vollständige Körper, d. h., jeder ℚ umfassende vollständige Körper enthält einen zu ℝ isomorphen Unterkörper.

Beispielsweise mit dem zweiten Cantorschen Diagonalverfahren sieht man, daß das Intervall [0,1) und damit erst recht ℝ überabzählbar ist: Hat man abzählbar viele beliebige Zahlen a1, a2, a3, … ∈ [0, 1), nimmt dazu Darstellungen \begin{eqnarray}\begin{array}{ccc}{a}_{1} & = & 0\cdot{\alpha }_{1}^{1}{\alpha }_{1}^{2}{\alpha }_{1}^{3}\ldots \\ {a}_{2} & = & 0\cdot{\alpha }_{2}^{1}{\alpha }_{2}^{2}{\alpha }_{2}^{3}\ldots \\ {a}_{3} & = & 0\cdot{\alpha }_{3}^{1}{\alpha }_{3}^{2}{\alpha }_{3}^{3}\ldots \\ \vdots & \vdots & \vdots \end{array}\end{eqnarray} im Dezimalsystem und wählt für alle n ∈ ℕ mittels αn := 0 für \({\alpha }_{n}^{n}\ne 0\) und an := 5 für \({\alpha }_{n}^{n}=0\) Ziffern an ∈ {0, 5}, die verschieden von den in der Diagonalen stehenden sind, dann ist die durch die Dezimaldarstellung \begin{eqnarray}a := 0\cdot{\alpha }^{1}{\alpha }^{2}{\alpha }^{3}\ldots \in [0,1)\end{eqnarray} definierte Zahl a verschieden von allen an und damit \begin{eqnarray}\{{a}_{1},{a}_{2},{a}_{3},\ldots \}\ne [0,1).\end{eqnarray} Die Elemente von ℝ \ ℚ, also die nicht-rationalen reellen Zahlen, nennt man irrationale Zahlen. Da ℚ abzählbar ist, ist mit ℝ auch ℝ \ ℚ überabzählbar. Auch die Menge \\({\mathbb{A}}\subset {\mathbb{R}}\) der algebraischen reellen Zahlen, also der reellen Zahlen, die Nullstelle eines vom Nullpolynom verschiedenen Polynoms mit rationalen Koeffizienten sind, ist abzählbar und damit die Menge \({\mathbb{R}}\backslash {\mathbb{A}}\) der transzendenten reellen Zahlen überabzählbar. Es gilt \begin{eqnarray}{\mathbb{N}}\subset {\mathbb{Z}}\subset {\mathbb{Q}}\subset {\mathbb{A}}\subset {\mathbb{R}}.\end{eqnarray}

ℝ ist nicht algebraisch abgeschlossen, denn z. B. gibt es kein x ∈ ℝ mit x2 + 1 = 0. Die minimale Erweiterung von ℝ zu einem algebraisch abgeschlossenen Körper führt zu den komplexen Zahlen. Dort gibt es ein solches x, nämlich x = i.

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  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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