Direkt zum Inhalt
Login erforderlich
Dieser Artikel ist Abonnenten mit Zugriffsrechten für diese Ausgabe frei zugänglich.

Mikrogravitation: Plasmaphysik in der Schwerelosigkeit

In der Grundlagenforschung ist es wichtig, die Eigenschaften von Materie genau zu verstehen und ganz neue Materieformen herzustellen. Häufig resultieren daraus praktische Anwendungen. Neben dem irdischen Labor bieten die Schwerelosigkeit und Mikro­gravitation ungeahnte Möglichkeiten. Hier präsentieren wir die komplexen Plasmen, die in Parabelflügen und auf Raumstationen erforscht und manipuliert werden.

Seit nun mehr fast 20 Jahren werden auf der Internationalen Raumstation ISS wissenschaftliche Versuche durchgeführt. Neben medizinischen und biologischen Studien untersuchen Forscher dort Fragestellungen der Materialwissenschaften und Physik. Eines der ersten Experimente war das PKE-Nefedov-Labor zur Untersuchung staubiger Plasmen in der Schwerelosigkeit. Dabei steht PKE für Plasmakristall-Experiment, was wir im Detail erklären werden.

Auf der ISS herrschen einzigartige Bedingungen, die auf der Erde undenkbar sind. Nur hier können verschiedenartigste Systeme in fast idealer Schwerelosigkeit über einen längeren Zeitraum studiert werden. Dabei versteht man unter Schwerelosigkeit nicht, wie allgemein angenommen, die Abwesenheit von Gravitation, sondern vielmehr, dass auf einen Körper (abgesehen von Scheinkräften wie der Fliehkraft) allein die Schwerkraft wirkt. Das beste Beispiel ist der im Gravita­tionsfeld der Erde im Vakuum frei fallende Fahrstuhl, in dem Schwerelosigkeit herrscht. Das war ein Gedankenexperiment von Albert Einstein, das ihm bei der Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie half. Derartige Experimente werden in Falltürmen wie am Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) in Bremen ausgenutzt, um Schwerelosigkeit zu erzeugen. Auch die ISS »fällt« mit 28 000 Kilometer pro Stunde um die Erde herum, sodass sie sich im Zustand der Schwerelosigkeit befindet. Häufig wird dies auch als Mikro­gravitation bezeichnet, da auf der ISS keine absolute Schwerelosigkeit vorliegt, sondern Beschleunigungen im Bereich vom 10–5-Fachen der Erdbeschleunigung g existieren. Dabei entspricht 1 g einer Beschleunigung von 9,81 Meter pro Sekunde zum Quadrat, die ein Körper durch die Gravitation in der Nähe der Erdoberfläche Richtung Erdmittelpunkt erfährt.

Warum ist es nun von Interesse, physikalische Versuche in der Schwerelosigkeit durchzuführen? Dafür gibt es unterschiedliche Gründe: Zunächst einmal hat die Schwerkraft für bestimmte Forschungen eine störende Wirkung. So werden zum Beispiel Flüssigkeiten stark von ihr beeinflusst. Auf der Erde bilden sie, abgesehen von kleinen Tropfen, ebene Oberflächen aus, während in der Schwerelosigkeit auf Grund der Oberflächenspannung Flüssigkeiten als Kugeln vorliegen. Auch Sedimentation, Auftrieb und thermische Konvektion, das heißt das Aufsteigen der wärmeren und leichteren Flüssigkeit und Absinken der kühleren und schwereren, die in der Schwerelosigkeit nicht auftreten, können manche Untersuchungen oder Präzisionsmessungen auf der Erde beeinträchtigen. So können beispielsweise thermophysikalische Eigenschaften von Schmelzen, wie die Dichte oder die Viskosität, deren Kenntnis für die Simulation von neuen Werkstoffen notwendig ist, in der Mikrogravitation weitaus genauer bestimmt werden. Zurzeit befindet sich dazu das Experiment Electromagnetic Levitator, kurz EML, unter der Leitung des Instituts für Materialphysik im Weltraum des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln auf der ISS.

Ein weiteres interessantes Gebiet für Forschung unter Bedingungen der Mikro­gravitation stellt die Physik der »weichen Materie« dar. Darunter versteht man Bausteine in der Größe von Mikro- bis Millimetern, die in einem homogenen Hintergrund (Flüssigkeit oder Gas) eingebettet sind und sich gegeneinander leicht verschieben lassen. Dazu gehören zum Kolloide, die feste Partikel in einer Flüssigkeit enthalten, oder Schäume, bei denen sich kleine Luftblasen in einer Flüssigkeit befinden. Hier verhindert vor allem die Sedimentation und der Auftrieb der Partikel in Kolloiden beziehungsweise der Zerfall von Schäumen durch das Herauslaufen der Flüssigkeit unter Schwerkraft präzise Studien stabiler Systeme über einen längeren Zeitraum. Diese Versuche können zum grundlegenden Verständnis der Physik dieser und ähnlicher Systeme beitragen und dienen demnach der Grundlagenforschung; sie können allerdings auch für technische Anwendungen von Interesse sein. Schließlich stellen darüber hinaus granulare Medien und Quantensysteme wie die Bose-Einstein-Kondensate (siehe S. 24) wichtige Forschungsthemen unter Mikrogravitation dar.

Wege in die Schwerelosigkeit

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Liebes Gehirn, konzentrier dich doch mal!

Unser Gehirn empfängt ununterbrochen Reize aus unserer Umgebung. Wie können wir trotzdem fokussiert sein und uns auf bestimmte Dinge konzentrieren? In dieser Ausgabe der »Woche« widmen wir uns dem Phänomen der Aufmerksamkeit und Konzentration. Außerdem: Neutrino-Experiment KATRIN bekommt Konkurrenz.

Spektrum - Die Woche – »Das fühlt sich an wie eine Narkose«

Menschen im Winterschlaf? Was in dieser Zeit mit dem Körper passieren würde und wieso die Raumfahrt daran so interessiert ist, lesen Sie im aktuellen Titelthema der »Woche«. Außerdem: Zwischen den Zeilen einer Heiligenschrift aus dem Jahr 510 lässt sich das Alltagsleben am Donaulimes entdecken.

Spektrum Kompakt – Die Suche nach der Weltformel

Seit nunmehr 100 Jahren fragen sich Physiker: Wie lassen sich die vier Grundkräfte vereinen? Fachleute haben dafür wildeste Theorien entwickelt. Und manche stellen auch die Frage: Gibt es eine solche Weltformel überhaupt?

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.