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Entschleunigung: Bewusster leben

Wir sind vielleicht die letzte Generation, die über gute Bedingungen für ein gesundes Leben verfügt. Unsere Kinder und Enkelkinder werden einmal in einer anderen Welt leben, und wir tragen mit unserem Konsum dazu bei. Das wissen wir – und ändern dennoch nichts an unserem Verhalten. Schuld daran ist ein »Bug« im Programmcode des Gehirns, erklärt der französische Neurobiologe Sébastien Bohler. In seinem neuen Buch erläutert er, wie wir den veralteten neuronalen Code umschreiben können.
Ein Raum voller Pakete

In 30 Jahren wird die Welt mit dem, wie wir sie heute kennen, nichts mehr zu tun haben. Jahr für Jahr steigen die Temperaturen und der Meeresspiegel; tausende Hektar Land werden zu Wüste, und Millionen von Menschen machen sich auf den Weg in eine neue Heimat. Dafür sind wir, die Menschen, verantwortlich. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte geht es für die Menschheit darum, das Überleben ihrer eigenen Art zu sichern – nicht im Kampf gegen Raubtiere, Hunger oder Krankheiten, sondern gegen sich selbst. Warum handeln wir angesichts der drohenden Katastrophe weiterhin so, wie wir es immer getan haben?

Die Antwort darauf findet sich tief verborgen im Inneren unseres Schädels. Das Gehirn des Menschen ist darauf programmiert, einige grundlegende Ziele zu verfolgen, die seinem Überleben dienen: essen, sich fortpflanzen, Macht gewinnen, dabei möglichst wenig Energie aufwenden und so viele Informationen wie möglich über die Umwelt sammeln. Diese fünf Ziele bildeten das Leitmotiv jener Gehirne, die dem unseren bei der Evolution der Arten vorangegangen sind. Und das gilt für die ersten Tiere in den Ozeanen vor einer halben Milliarde Jahren ebenso wie heute für Unternehmer, die Tausende von Mitarbeitern führen und ihre Aktien auf dem Smartphone verwalten. Die Mechanismen, die ihre Handlungen steuern, sind simpel, robust, haben die Vergangenheit überdauert und dabei wesentliche Eigenschaften beibehalten.

Das System hat sich als so effektiv erwiesen, dass es sich auf alle Wirbeltierarten übertragen hat. Im so genannten Striatum, einer Struktur im Großhirn unterhalb der Rinde, liegen Neurone, die bei jedem überlebensförderlichen Verhalten Dopamin ausschütten und somit Lust erzeugen. Sie sind die treibende Kraft für Fische, Reptilien, Vögel und Säugetiere wie den Menschen.

Das Striatum kann sich selbst keine Grenzen setzen. Es ist in seinem Bauplan nicht angelegt

Allerdings ist die menschliche Großhirnrinde in den vergangenen Millionen Jahren erheblich gewachsen und viel mächtiger als die eines Fisches oder Reptils. Dank hoch entwickelter Technologien, sei es für die Ernährung, den Informationsaustausch oder die Herstellung von Gütern, ist dieser Kortex heute in der Lage, dem Striatum fast alles zu bieten, was es will, manchmal ohne Aufwand. Und das Striatum zögert nicht lange; es kann sich selbst keine Grenzen setzen. Das ist in seinem Bauplan nicht angelegt.

Deshalb fällt es uns schwer, uns selbst zu zügeln, wenn sich immer mehr Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung bieten: mit Lebensmitteln oder mit Konsumgütern, die sozialen Status vermitteln, mit Pornografie im Internet oder mit dem Strom immer neuer Nachrichten. Unser Verhalten ist zudem Treibstoff für die Wirtschaft, die es daher nutzt und fördert.

Laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation von 2016 sterben heute mehr Menschen auf der Erde an Über- als an Unterernährung. Mehr als 1,9 Milliarden Erwachsene sind übergewichtig, davon mehr als 650 Millionen fettleibig. Die Zahlen haben sich in 40 Jahren verdreifacht, und bis 2030 werden voraussichtlich 38 Prozent der Menschheit übergewichtig und 20 Prozent fettleibig sein.

Dass wir dem Überfluss an Nahrung so hilflos gegenüberstehen, liegt daran, dass wir darauf nie vorbereitet wurden. Die meiste Zeit auf Erden waren Nahrungsressourcen knapp. Unsere Vorfahren in der Steinzeit suchten tagelang ohne Garantie auf Erfolg nach Wurzeln, Beeren, Wild. Wer seine Beute in der Hand hielt, hatte keinen Vorteil davon, etwas übrig zu lassen. Vielmehr war derjenige im Vorteil, der am meisten aß: Er überlebte länger und konnte mehr Nachkommen zeugen. Das stellte kein Problem dar, solange die Menschheit mit anderen Tierarten um Nahrung konkurrierte und die Ressourcen begrenzt waren. Doch als wir lernten, unsere eigene Nahrung kontrolliert und nahezu unbegrenzt zu produzieren, wurden die »Fressgene« zu unseren größten Feinden. Sie verursachen Fettleibigkeit und damit verbundene Krankheiten wie Alzheimerdemenz und Schlaganfälle, die heute 1,5 beziehungsweise 6 Millionen Todesfälle pro Jahr verursachen. Und sie schaden der Umwelt, da die Überproduktion von Lebensmitteln – insbesondere von Tiernahrung – zu sehr hohen CO2-Emissionen führt, die erheblich zum Treibhauseffekt und zur globalen Erwärmung beitragen.

Je weiter in der Ferne ein möglicher Nutzen liegt, desto weniger Wert messen wir ihm bei

Im Jahr 2017 kündigten die Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump das Pariser Klimaabkommen auf, das Maßnahmen zur Stabilisierung der Kohlendioxidemissionen bis 2030 vorsieht, um die globale Erwärmung bis 2100 auf zwei Grad Celsius zu begrenzen. In den sozialen Netzwerken zirkulierte ein satirisches Video, das den US-Präsidenten mit einem Schild zeigte, und die Aufschrift lautete sinngemäß: »Das Klima interessiert mich nicht, denn ich werde ohnehin bald tot sein.«

Der Spruch greift tiefer, als es zunächst scheinen mag. Er birgt etwas, was uns betroffen machen sollte. Natürlich könnten wir meinen, dass Donald Trump ein egoistischer alter Mann ist, den Klima und Natur nicht kümmern und der zuallererst seine persönlichen Ziele verfolgt, ohne Rücksicht auf Milliarden von Menschen, die auf der Erde leben.

Aber dahinter steckt noch etwas anderes. Im Grunde heißt es: »Du und ich, wir kümmern uns nicht so sehr darum, was in 20 oder 30 Jahren passieren wird. Was zählt, ist das Hier und Jetzt. Wir müssen uns nicht einschränken, sind frei, mit dem Flugzeug die Welt zu bereisen, neue Autos, Telefone und Computer zu kaufen, wann immer eine neue Version auf den Markt kommt, das Öl aus dem Boden zu ziehen und die Rechner auf vollen Touren laufen zu lassen. Und wir wollen all das aufgeben? Wofür? Nur der Zukunft zuliebe?«

Diese fatale Denkweise, die seit mehr als 40 Jahren erforscht wird, läuft auf eine einfache Überlegung hinaus: Je weiter in der Ferne ein möglicher Nutzen liegt, desto weniger Wert misst das Gehirn ihm bei. Steht eine Belohnung in Aussicht, werden die Neurone im Striatum aktiv – in Erwartung der bevorstehenden Freuden, wie unter anderem Studien von Wolfram Schultz an der britischen University of Cambridge zeigten. Sein Team beobachtete außerdem, dass die Stärke der Dopaminausschüttung davon abhängt, wie viel Zeit noch bis zur Belohnung verstreichen wird: je länger die Verzögerung, desto schwächer die Reaktion. Deswegen interessieren wir uns weniger für etwas, was in ferner Zukunft bevorsteht.

Wir tragen das evolutionäre Erbe eines impulsgesteuerten Motors in uns, der blind für die Zukunft ist

Genau das hat der Menschheit über Jahrmillionen hinweg das Überleben gesichert. Ein Zeitraum, in dem sich die Grundstrukturen des menschlichen Gehirns und die Verbindungen zwischen Neuronen im Kern unseres Nervensystems ausbildeten. Seit Millionen von Jahren überleben vor allem jene Tiere, deren Striatum so konfiguriert ist, dass es eine sofortige Belohnung einer späteren vorzieht. Alle heutigen Wirbeltiere tragen das evolutionäre Erbe dieses impulsgesteuerten Motors in sich, der blind für die Zukunft ist.

So wurde der Mensch zu einer tödlichen Gefahr für sich selbst. Sein tief sitzendes neuronales Programm verfolgt weiterhin blind jene Ziele, die sich während der Evolution bewährt haben, die aber an die globalisierte Welt von heute nur unzureichend angepasst sind. Die technischen Mittel, die der Mensch im Lauf der Jahrhunderte entwickelt hat, stellte er stets in die Dienste der vorrangigen Ziele des Striatums. Die riesige Großhirnrinde des Homo sapiens, die ihm immer mehr Möglichkeiten verschaffte, hat sich in den Dienst eines Zwerges gestellt, der sich an Macht, Sex, Essen, Faulheit und seinem Ego berauscht. Das hochgerüstete Kind in uns kennt heute keine Grenzen mehr. Die entscheidende Frage lautet nun: Kann sich die Menschheit andere Ziele setzen als die, die das Striatum vorgibt?

Anfang 2017 unternahmen zwei Forscher der Universität Zürich ein Experiment, dessen Ergebnisse viele Beobachter überraschten. Sie luden Freiwillige in ihr Labor ein und gaben ihnen Geld, das sie entweder für sich behalten oder mit einer unbekannten Person im Nachbarraum teilen konnten. Während die Versuchspersonen eine Entscheidung trafen, erfasste ein Magnetresonanztomograf ihre Hirnaktivität.

Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT)

Die fMRT zählt zu den bildgebenden Verfahren, den verbreitetsten Messmethoden der Hirnforschung. Ein Magnetresonanztomograf bildet die Arbeit von Nervenzellen ab, indem er den Sauerstoffgehalt im Blut der betreffenden Region erfasst: Dieser dient als Indikator für den Grad der Durchblutung eines Hirnareals. Natürlich spuckt der Tomograf nicht einfach wie eine Sofortbildkamera ein Ergebnis aus; vielmehr werden die Messwerte nach bestimmten Regeln verrechnet. Bei der funktionellen Magnetresonanztomografie stellt ein Bild die Veränderung in der Hirnaktivität dar, die sich aus dem Vergleich von einer Tätigkeit mit dem Ruhezustand ergibt: meist in Form von gelblichen oder roten Flecken, die einen geringen, mäßigen oder starken Aktivitätszuwachs repräsentieren sollen. Anders als in der medizinischen MRT-Diagnostik veranschaulichen Hirnforscher damit in der Regel die durchschnittliche Veränderung der neuronalen Aktivität bei einer Gruppe von Versuchspersonen.

Die erste bedeutsame Erkenntnis war, dass Frauen häufiger als Männer das Geld mit Fremden teilten. Aber am meisten überraschte die Forscher, was sich in diesem Moment im Gehirn der weiblichen Versuchspersonen abspielte: Das Striatum regte sich. Der großzügige Akt aktivierte bei ihnen also jene Netzwerke, die Belohnung und Freude vermitteln – was üblicherweise den wichtigsten primären Verstärkern vorbehalten ist. So war es bei den Männern: Ihr Striatum wurde aktiv, wenn sie das Geld für sich behielten.

Den Autoren zufolge verhalten sich Frauen wahrscheinlich deshalb in solchen Situationen großzügiger als Männer, weil ihr Gehirn seit der Kindheit entsprechend geformt wurde. Gemäß dieser Hypothese lernen Mädchen und Frauen, sich entgegenkommend und großzügig zu zeigen. Kleine Jungen hingegen werden eher zu einer selbstbewussten, unabhängigen und konkurrenzbewussten Haltung erzogen.

Tatsächlich gelten diese sozialen Normen in der überwältigenden Mehrheit der Gesellschaften auf der ganzen Welt, einschließlich der liberalsten unter ihnen. In vielen Familien in den Vereinigten Staaten oder Westeuropa (mit Ausnahme von Skandinavien) fördert man bei Mädchen uneigennütziges, freundliches und fürsorgliches Verhalten und wirkt egoistischen oder individualistischen Anwandlungen entgegen. Ganz anders bei Jungen, deren Entgleisungen eher toleriert werden.

Das zeigt, dass der Mensch nicht nur Essen, Sex, Nichtstun oder Macht zu schätzen weiß. Diese Verstärker beherrschen uns unter anderem deshalb, weil es für die Industrie ein Leichtes ist, aus ihnen Profit zu schlagen. Aber sie sind nicht der einzige Weg, Freude am Leben zu finden. Weibliche Großzügigkeit ist lediglich ein Beispiel dafür, dass das Striatum lernen kann, andere Dinge zu lieben, und dass sich unsere Ziele durch soziale Normen umdefinieren lassen. Eltern, Schule, Medien und Politik können Altruismus, Mäßigung und Respekt vor der Umwelt vermitteln, indem sie diese schätzen und belohnen und das Striatum so auf neue Gleise setzen.

Was alles in einer einzigen kleinen Rosine steckt

Wie kann man sich im Erwachsenenalter eine neue Sicht auf die Welt aneignen? Um bewusster mit Essen umzugehen, empfiehlt der französische Psychiater und Wissenschaftsautor Christophe André Achtsamkeitstechniken. Eine davon ist die »Rosinenübung«. Dazu brauchen Sie nicht mehr als ein paar Rosinen, wie man sie heute in den Regalen der Supermärkte neben Cashews, Erdnüssen und kandierten Früchten findet. Anstatt sich jedoch sofort eine Hand voll einzuverleiben, greifen Sie vorsichtig nach einer einzelnen kleinen Beere. Nehmen Sie die schrumpelige Beere zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachten Sie sie genau. Studieren Sie ihre Konturen, Falten und Vertiefungen, ihre bräunliche, teils goldene Farbe. Selbst an diesem kleinen Ding gibt es 1000 Details zu bewundern. Dann halten Sie die Rosine näher an die Nase. Riechen Sie ihren charakteristischen, süßsauren Duft? Lassen Sie sich Zeit. Bemerken Sie einen leichten Speichelfluss im Mund?

Rosinen in vier Farben | Wenn man sich ein wenig Zeit nimmt, veranstalten verschrumpelte Weinbeeren ein kleines Feuerwerk für die Sinne.

Jetzt, nachdem Sie die kleine Traube sorgfältig beobachtet und erschnuppert haben, stecken Sie sie in den Mund. Aber nicht kauen! Spüren Sie auf der Zunge, wie die kleinen Geschmacksknospen reagieren. Erkunden Sie die Rosine mit der Zungenspitze, lassen Sie sie zwischen Lippen und Zähnen umherwandern. Sie hinterlässt einen süßen Geschmack und ein saures Kribbeln. Versuchen Sie nun, sie im Mund nach hinten zwischen die Backenzähne zu schieben. Saugen Sie den Saft aus ihr heraus und achten Sie auf den Geschmack. Die Haut weicht auf, das Fruchtfleisch kommt zum Vorschein. Es ist unglaublich, was alles in einer einzigen kleinen Rosine steckt. Dann kauen Sie sie langsam und sorgfältig. Wenn Sie diese Übung Schritt für Schritt in Ruhe durchführen, brauchen Sie dafür 5, 10 oder sogar 15 Minuten.

Den Resonanzraum der Sinne erweitern

Die »Rosinenübung« wird in Therapiegruppen für Menschen angeboten, die unter Übergewicht leiden oder ihr Essverhalten nicht kontrollieren können. Studien zeigen, dass die Patienten daraufhin mehr Freude am Essen haben, ohne dass sie viel zu essen brauchen. Das Ziel ist, den Alltag bewusster zu erleben. Eine Rosine ist, gemessen an ihrem Nährstoffgehalt, ziemlich wenig. Unsere bewusste Aufmerksamkeit bestimmt, wie intensiv wir ihren Geschmack, den Zucker und die Aromen wahrnehmen.

Indem wir den Resonanzraum unserer Sinne erweitern, bereiten wir dem Striatum mehr Freude, obwohl die Menge an Nahrung kleiner ist. Etwas weniger zu essen, langsam und mit allen Sinnen, ist eine Möglichkeit, dem Striatum neue, intensive Erfahrungen zu verschaffen.

Auch im zwischenmenschlichen Bereich kann weniger mehr sein. Anstatt die Zahl der Freunde auf Facebook zu mehren, können wir in die Qualität dieser Beziehungen investieren. Wir lassen uns weismachen, wir bräuchten zu unserem Glück ein Auto, das mindestens so luxuriös und leistungsstark ist wie das der Nachbarn. Doch wir haben die Wahl: die Werbebotschaften für bare Münze zu nehmen und immer mehr zu konsumieren – oder uns am Fahren eines altmodischen Autos zu erfreuen und an Freundschaften, in denen es nicht darum geht, wer mehr vorzuweisen hat.

Ein Bewusstsein für das zu entwickeln, was uns umgibt, ist kein realitätsfernes oder unrealistisches Ziel. Es gibt Meditationstechniken, die sich bewährt haben. Die Achtsamkeitsmeditation etwa zielt darauf ab, die eigene Aufmerksamkeit sanft zu lenken und bewusst dem zuzuwenden, was in uns und um uns herum geschieht. Sich kurzfristigen Impulsen und dem Lockruf der schnellen Belohnung zu widersetzen. Sich frei zu entscheiden, langfristig zu denken und die Zukunft selbst zu bestimmen.

In der ersten Version des Artikels befanden sich zwei Übersetzungsfehler, die inzwischen behoben sind. Wir bedanken uns bei den aufmerksamen Lesern für ihre Hinweise.

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