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Genetik: Die Frau, das komplexe Wesen

Der feine Unterschied liegt in den Genen: Männer arbeiten mit einem X- und einem Y-Chromosom, die sie beide vollständig nutzen. Frauen hingegen legen eines ihrer beiden X-Chromosomen still - aber längst nicht so still, wie man bisher dachte.
X-Chromosom
Frauen haben einfach etwas mehr zu bieten als Männer. Als die Natur die Vorzüge von Männlein und Weiblein erkannte, nahm sie ein Chromosomenpaar und machte daraus die beiden Geschlechtschromosomen X und Y.

Menschlicher Chromosomensatz | Der Chromosomensatz des Menschen: Grün markiert ist das X-Chromosom.
Die Verteilung der Erbinformationsträger geriet ihr dabei etwas ungleich: Die weiblichen Exemplare des Menschen stattete sie mit zwei X-Chromosomen aus, der männlichen Welt hingegen gestand sie anstelle des zweiten X- nur ein Y-Chromosom zu, das über drei statt vier Arme verfügt. Im Laufe der Evolution verlor es etliche seiner Gene; heute kommt das kleine Chromosom mit weniger als hundert davon aus – sein großer Bruder arbeitet mit mehr als tausend Erbfaktoren. Dafür erhielt das Y im Genom eine edle Aufgabe: Es macht den Mann erst zum Mann, indem es für typisch männliche Eigenschaften wie die Ausbildung der Geschlechtsorgane und die Fähigkeit zur Spremienproduktion sorgt.

Im Gegenzug verzichtet die Frau auf die vollständige Ausschöpfung ihres doppelten Gensatzes auf dem X-Chromosom und legt in jeder einzelnen ihrer Zellen eines der beiden still. Weil hierbei aber mal das eine, mal das andere der beiden Geschlechtschromosomen abgeschaltet wird, ist die Frau, genetisch gesehen, ein Mosaik – was sich mitunter als unschätzbarer Vorteil erweist: Ist nämlich auf einem X-Chromosom ein Gen schadhaft, übernimmt das gesunde Äquivalent auf dem anderen Chromosom einer Nachbarzelle die Aufgabe.

Der Mann steht in so einem Fall auf verlorenem Posten: Seiner Y-Version fehlt eben dieses Äquivalent, und der Mangel kann nicht einfach ausgebügelt werden – deswegen treten auf dem X-Chromosom verankerte genetische Leiden wie die Bluterkrankheit hauptsächlich beim männlichen Geschlecht in Erscheinung.

Die weibliche Fähigkeit, eines der beiden X-Chromosomen stillzulegen, sowie die biologischen Konsequenzen, die daraus entstehen, machen das Geschlechtschromosom für die Wissenschaft besonders interessant. Eine Arbeitgruppe aus mehr als 250 Forschern unter der Federführung von Mark Ross vom Sanger-Institut in Cambridge entzifferte nun die DNA-Sequenz des X-Chromosoms und entdeckte ein paar Besonderheiten [1].

So ist das weibliche Geschlechtschromosom auffallend arm an Genen: Insgesamt wird nur ein Drittel des Chromosoms abgelesen – deutlich weniger, als aktuell für andere Chromosomen geschätzt. 1098 Gene fanden die Wissenschaftler, von denen bereits 699 bekannt sind. Nur 54 der X-chromosomalen Gene haben ein Äquivalent auf dem Y-Chromosom – dieses schrumpfte im Vergleich zu seiner urprünglichen Version vor 300 Millionen Jahren zu einem Schatten seiner selbst.

Überraschend hoch ist mit zehn Prozent der Anteil einer Klasse von Genen, die normalerweise im Hoden aktiv sind, die aber auch bei verschiedenen Krebsarten verstärkt abgelesen werden. Bisher galt, auf dem X-Chromosom fänden sich nur wenige am Krebsgeschehen beteiligte Gene.

Mit 56 Prozent außergwöhnlich reichlich vorhanden sind auch so genannte repetetive Sequenzen, also mehrfach vorhandene Abschnitte mit jeweils einer sehr ähnlichen Abfolge ihrer Nukleotid-Bausteine. Der durchschnittliche Anteil solcher Bereiche liegt auf allen Chromosomen zusammen genommen bei 45 Prozent. Besonders häufig vertreten unter diesen repetitiven Sequenzen ist eine Gruppe namens L1 – sie allein macht 29 Prozent des X-Chromosoms aus. Möglicherweise ist L1 ein entscheidender Faktor beim Stilllegen des einen weiblichen X-Chromosoms.

Den Abschaltvorgang untersuchten nun eingehend Laura Carrel von der Pennsylvania State University und Huntington Willard von der Duke-Universität in Durham – beide haben an der Chromosomentschlüsselung mitgewirkt – an 471 Genen des X-Chromosoms von vierzig Frauen [2].

Als die Forscher die Aktivität dieser Gene auf dem angeschalteten X-Chromosom mit der des abgeschalteten überprüften, waren sie überrascht. Denn das stillgelegte Chromosom war alles andere als stumm: Nur drei Viertel der Gene hatten tatsächlich ihre Arbeit eingestellt. Stolze 15 Prozent entzogen sich jedoch konsequent der Inaktivierung und produzierten munter Proteine. Damit verfügen Frauen im Vergleich zu Männern über die doppelte Menge dieser Proteine. Bei manchen Frauen erwiesen sich weitere zehn Prozent der X-chromosomalen Gene als unentschlossen: Auf einem Teil der stillgelegten Chromosomen ruhten sie tatsächlich, bei anderen hingegen waren sie in unterschiedlichem Ausmaß aktiv.

Frauen sind also wesentlich komplexer als bisher angenommen. Nicht genug, dass sie deutlich mehr Gene haben als Männer – die immerhin auf ihrem Y-Chromosom ein paar Gene besitzen, welche den Frauen fehlen – und dass sie durch das zufällige Abschalten eines X-Chromosoms Fehler im Genom übertünchen können, ihren genetischen Überschuss nutzen sie auch noch unterschiedlich stark.

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