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Raumfahrtgeschichte: Die Frauen hinter der Mondlandung

In der Frühphase der Raumfahrt führten Frauen wichtige Berechnungen durch. Später wurden einige von ihnen zu Programmiererinnen – und halfen beim Gelingen der Apollo-Missionen.
Weibliche »Computer« am Jet Propulsion Laboratory

Eigentlich sucht Nathalia Holt im Jahr 2010 nach einem Namen für ihr Baby. Als die US-amerikanische Journalistin »Eleanor Frances« googelt, stößt sie auf ein jahrzehntealtes Foto. Es zeigt eine Astronomin namens Eleanor Francis Helin, die eine wissenschaftliche Auszeichnung der NASA entgegennimmt. Das macht Holt neugierig.

Bald entdeckt sie eine weitere Aufnahme, diesmal aus den 1950er Jahren. Es zeigt eine Frauengruppe am Jet Propulsion Laboratory in Pasadena, so genannte »Computer«, die an dem späteren NASA-Institut Rechnungen durchführten. »Ich war geschockt, dass ich von diesen Frauen noch nie etwas gehört hatte«, erinnert sich Holt im Gespräch mit »Spektrum.de«.

Die Geschichte der menschlichen Computer

Die Journalistin macht die einstigen Rechnerinnen kurzerhand ausfindig und führt Interviews. Ihre Recherche fasst sie schließlich in einem Buch zusammen, das im April 2016 in den USA erscheint: »Rise of the Rocket Girls: The Women Who Propelled Us, from Missiles to the Moon to the Mars«.

Holts Recherche hat einen maßgeblichen Beitrag geleistet, den Blick auf eine gesellschaftliche Gruppe zu werfen, die bei den Rückblicken auf Apollo lange übersehen wurde: die der Frauen. Mittlerweile ist klar, dass sie eine wichtige Rolle in der Frühzeit des US-amerikanischen Raumfahrtprogramms gespielt haben – und damit auch maßgeblich zu den Apollo-Missionen und der ersten Mondlandung beigetragen haben.

Eleanor Helin

Einem Millionenpublikum wurde das spätestens mit dem Film »Hidden Figures« bewusst, der im Dezember 2016 in die Kinos kam. Er erzählt die Geschichte der »Human Computers«, die zu großen Teilen Frauen waren. Im Vordergrund der Handlung stehen die drei afroamerikanischen Mathematikerinnen Katherine Johnson, Dorothy Vaughan und Mary Jackson, die an der West Area Computing Unit am Langley Research Center Berechnungen für die Vorläuferorganisation der NASA durchführen. Der Name ihrer Gruppe: »Coloured Computers«.

Der Film ist auf Basis des gleichnamigen Buchs entstanden. Er erzählt nicht nur eindrucksvoll, welchen Vorurteilen und Diskriminierungen schwarze Frauen in den 1950er Jahren in den USA ausgesetzt waren, insbesondere in der männerdominierten Luft- und Raumfahrt. »Hidden Figures« zeigt auch, wie abhängig der Erfolg der damaligen Missionen von den menschlichen Computern war.

»Der Film hat uns alle überrascht«, sagt Gerhard Kowalski, Raumfahrt-Journalist seit mehr als 40 Jahren. »Dass ausgerechnet schwarze Frauen gerechnet hatten, das war ein Tabuthema.« Die Raumfahrt habe damals viel mit Geheimhaltung zu tun gehabt, erläutert Kowalski, weshalb man lange wenig über diese Episode gewusst habe. Er selbst hat sich große Teile seiner Karriere mit der russischen Raumfahrt beschäftigt sowie mit der ostdeutschen Raumfahrt vor der Wiedervereinigung: »In Russland hatten Studenten gerechnet, das wusste man.«

Die Frauen haben an einem Morgen mehr erreicht als Ingenieure an einem ganzen Tag

Für Insider waren die Schilderungen aus »Hidden Figures« und »Rocket Girls« hingegen weniger überraschend. Die Sache mit den weiblichen Computern in der Luft- und Raumfahrt sei aus seiner Sicht ein alter Hut, sagt Paul Ceruzzi, Kurator emeritus am National Air and Space Museum in Washington D.C.: »Es ist schon länger bekannt, dass Frauen bereits in den 1930er und 1940er Jahren für die amerikanische Luftfahrt Windkanalberechnungen durchgeführt haben.«

Auf dieser Grundlage wurden damals Flugzeuge entwickelt. Der Name »Computer« kam dabei nicht von ungefähr – zumal das Wort einfach »rechnen« bedeutet: »Die Planung verlief genau so, wie es heute ein Computer macht: Jede Frau machte einen Rechenschritt.«

Computer wurden besser bezahlt als Lehrerinnen

Der Grund dafür, dass das ausgerechnet Frauen waren, ist ebenso banal wie enttäuschend: »Sie waren einfach billiger als Männer.« Und für Frauen, die in den 1930er und 1940er Jahren Mathematik studiert hätten, habe es nur wenig andere mögliche Berufe gegeben. »Ihre einzige Alternative war, als Lehrerin zu arbeiten.«

Im Vergleich dazu war der Job als menschlicher Computer wiederum besser bezahlt. Für Absolventinnen eines technischen Studiums war er auch die einzige Möglichkeit, in dieser Branche aktiv zu sein: Weibliche Ingenieure gab es damals so gut wie nicht. Zudem war Arbeit im Süden Virginias, wo die Heldinnen von »Hidden Figures« herkamen, insgesamt rar: »Es war ein armer Teil des Landes, und es war ein besserer Job, als sie irgendwo anders bekommen konnten.«

Gleichzeitig sei die Arbeit als Computer nicht besonders anspruchsvoll und auch nicht sehr sinnhaft gewesen: »Die Frauen mussten nicht wissen oder verstehen, wofür die Berechnungen gut waren.« Ihr Beitrag habe vor allem eine hohe Sorgfalt verlangt, sagt Ceruzzi.

Mehr geleistet als so mancher Ingenieur

Diese Sichtweise bestätigt ein Bericht der damaligen NASA-Vorgängerorganisation National Advisory Committee for Aeronautics (NACA) aus dem Jahr 1942: Die ersten weiblichen Computer in Langley hätten Berechnungen angestellt, die zuvor im Aufgabenbereich der (männlichen) Ingenieure lagen. Die Frauen hätten die Daten jedoch »schneller und genauer« berechnet – und an einem Morgen zuweilen mehr erreicht als ein Ingenieur an einem ganzen Tag.

Generell ging es den Verantwortlichen damals anscheinend auch darum, die Kosten zu senken: Die menschlichen Computer seien angestellt worden, um die Berechnungen effizienter zu machen und die Ingenieure zu entlasten, so ein Dokument des Langley Research Center über den sozialen Einfluss der weiblichen Computer.

Eine der ersten Rechnerinnen war Virginia Tucker. Die ehemalige Lehrerin bildete 1935 zusammen mit vier anderen Frauen den ersten »Computer-Pool« in Langley. In den folgenden Jahren wuchs die Gruppe auf mehrere hundert Frauen an: Tucker selbst reiste dafür an verschiedene Universitäten, um Frauen zu rekrutieren. 1946 leitete sie die Abteilung – da hatte sie bereits rund 400 Frauen angeworben und angelernt.

Katherine Johnson | Die Mathematikerin wurde 1953 von der NASA-Vorgängerorganisation NACA als menschlicher »Computer« eingestellt. Der Kinofilm »Hidden Figures« setzte ihr 2016 ein Denkmal. Das Bild zeigt Johnson im Jahr 1966 an ihrem Schreibtisch im Langley Research Center.

Getrennte Büros, getrennte Toiletten

In den 1940er Jahren wurden laut Langley Research Center gezielt afroamerikanische Frauen rekrutiert, zunächst allerdings streng getrennt von ihren weißen Kolleginnen: Sie hatten getrennte Büros, die in weit voneinander entfernten Gebäudeflügeln lagen. Es gab sogar eigene Toiletten, manche der weißen Computer wussten nichts von ihren Kolleginnen.

1953 stößt Katherine Johnson dazu, die ebenfalls zuvor als Lehrerin gearbeitet hat – und der »Hidden Figures« ein Denkmal gesetzt hat. Sie arbeitet zunächst bei der NACA als Computer, indem sie Daten aus Windkanalexperimenten berechnete und diese grafisch darstellte. Doch sie will sich nicht mit der ihr zugedachten Rolle abfinden: Statt nur blind zu rechnen, möchte sie wissen, wie diese Ergebnisse eingesetzt werden.

Als sie für eine Abteilung zur Flugforschung Berechnungen anstellt, die nur mit Männern besetzt war, nutzt sie ihre Chance: Sie verlangt, ebenfalls an den Besprechungen teilnehmen zu dürfen, die bis dahin Männern vorbehalten waren. Da es kein explizites Verbot für Frauen gibt, kann sie schließlich an den Meetings teilnehmen.

Damit bleibt sie allerdings eine Ausnahme. »Die Frauen taten, was ihnen aufgetragen wurde«, erinnert sie sich 2015 in einem Interview mit der NASA. »Sie stellten keine Fragen oder dachten über ihre direkte Aufgabe hinaus. Ich habe Fragen gestellt, ich wollte wissen, wieso wir das machen.«

Das »Mädchen« soll checken, ob die Zahlen stimmen

Offenbar macht sich Johnson damit schnell einen Namen unter den Ingenieuren, unter anderem, weil sie sich gut mit analytischer Geometrie auskennt. Letztlich schreibt sie zusammen mit Kollegen wissenschaftliche Abhandlungen über ihre Berechnungen, auf deren Grundlage schließlich Alan Shepard als erster Amerikaner ins Weltall fliegt.

In den 1960er Jahren werden die Frauen schließlich von Computern aus Schaltkreisen ersetzt. Aber die riesigen, raumfüllenden IBM-Maschinen sorgen zuweilen für Misstrauen seitens der Astronauten: Als der Astronaut John Glenn 1962 die vom Computer berechnete Umlaufbahn des ersten Flugs in den Erdorbit sieht, soll er nach »dem Mädchen« verlangt haben – also Johnson. Er werde nur dann fliegen, »wenn sie sagt, dass die Zahlen richtig sind«.

»Margaret Hamilton war entscheidend für den Erfolg von sechs Flügen zum Mond zwischen 1969 und 1972«
Paul Ceruzzi, National Air and Space Museum

So schildert es »Hidden Figures«-Buchautorin Margot Lee Shetterly; die Szene hat es auch in den Kinofilm geschafft. Doch während Johnson darin nur wenige Sekunden rechnet, um die Flugbahn zu überprüfen, haben die Rechnungen in der Realität vermutlich mehrere Tage gedauert. Das merkten die Autoren des Weltraum-Geschichtsblogs »CollectSpace« an, die einige zentrale Fakten des Films überprüft haben.

Mit Einführung der ersten elektronischen Computer wechseln einige der Frauen ihren Job. »Sie wurden Programmiererinnen«, erzählt Raumfahrthistoriker Ceruzzi. Programmieren galt darum eine Zeit lang als »unmännlich«. Margaret Hamilton war eine der ersten Programmiererinnen, »eine der besten«, wie Ceruzzi sagt. Hamilton ist heute relativ bekannt, insbesondere ein Bild von ihr, das sie vor einem hohen Papierstapel zeigt. Es handelt sich dabei um den Ausdruck der Apollo-Flugsoftware, die sie als »Director of Apollo Flight Computer Programming« verantwortete.

Diese Aufgabe sei schwieriger gewesen als vergleichbare Programmierungen heutzutage, betont Ceruzzi: »Die Software für den Apollo Guidance Computer musste Wochen bis Monate installiert werden, bevor die Rakete startete.« Schließlich gab es keine Fernwartung, »die Software war fest verdrahtet mit dem Computer«. Hamilton und ihr Team seien der Aufgabe aber mehr als gewachsen gewesen.

Software für die Apollo-Astronauten

»Hamilton war entscheidend für den Erfolg von sechs Flügen zum Mond zwischen 1969 und 1972«, sagt Ceruzzi. Ihre wahre Stärke zeigte die Software dann bei der Landung von Neil Armstrong auf dem Mond, bei der der Bordcomputer plötzlich einen Fehler meldete. Historiker sind sich uneins über den genauen Grund für den Alarm. »Aber wir wissen, dass die Software von Hamiltons Gruppe es ermöglichte, unwichtige Prozesse zu schließen und den überlasteten Bordcomputer neu zu starten«, sagt Ceruzzi. Das habe die Astronauten schließlich sicher landen lassen.

John Glenn | Der US-Astronaut steigt 1962 in seine Raumkapsel, die ihn in den Erdorbit bringen soll. Im Vorfeld soll er darauf bestanden haben, dass Katherine Johnson die Flugbahn der Mission überprüft.

Die Fähigkeit, zwischen wichtigen und unwichtigen Aufgaben zu unterscheiden, war für Computerprogramme eine Besonderheit – insbesondere in der damaligen Zeit. »Daran sollten wir denken, wenn wir heute von Software-Projekten lesen, die ihr Budget sprengen oder mit fatalen Fehlern ausgeliefert wurden«, meint Ceruzzi. Hamiltons Code habe so gut wie keine Fehler gehabt.

Darüber hinaus habe die Programmiererin immer ihren Humor bewahrt. So habe sie kleinere Fehler im Programm »lustige kleine Dinge« genannt. Und wenn es darum ging, ein Programm auf Fehler zu überprüfen, nutzte sie die von ihr begründete »Augapfel-Methode«: »Dabei schaute sie auf den Code und versuchte ihn so zu lesen, als sei sie ein Computer. Das hat funktioniert.«

Der Raumfahrthistoriker Ceruzzi hat mit vielen, auch weniger prominenten Zeitzeuginnen gesprochen. »Die Frauen waren sehr stolz auf das, was sie taten«, sagt er. Viele von ihnen wären freilich selbst gerne ins All geflogen, »aber sie hatten keine Chance«. Nicht nur das – ihre Existenz war bis vor wenigen Jahren völlig unbekannt.

Das änderte sich erst durch die Recherche von Nathalia Holt, der Journalistin, die auf der Suche nach einem Namen für ihr Kind auf die Bilder der weiblichen Computer gestoßen war. Laut eigener Aussage hat sie das Buch nicht nur geschrieben, um ihre Erfahrungen zu dokumentieren und ihnen die nötige Anerkennung auszusprechen. »Sondern auch, weil ich neugierig war, wie sie damals die Herausforderungen rund um Arbeit und Mutterschaft lösten.«

Eine neue Generation weiblicher Ingenieurinnen

Holt berichtet von einer Mitarbeiterin, die ihren Jahresurlaub nach der Geburt ihres Kindes nahm, um ihren Beruf nicht zu verlieren, und nach sechs Wochen wieder arbeitete. »Damals mussten werdende Mütter kündigen.« Die Frau habe immerhin später bei der NASA dafür gesorgt, dass Mütter nach der Geburt eines Kindes in ihren Beruf zurückkehren konnten.

Holt ist überzeugt, dass ohne diese Frauen die Apollo-Missionen nicht so erfolgreich verlaufen wären, allen voran Apollo 11: »Die Fingerabdrücke dieser Frauen sind überall in dieser Mission«. Die Rakete, der Treibstoff – das alles sei auf der Grundlage der Berechnungen dieser Frauen entwickelt worden.

Margaret Hamilton | Die Amerikanerin leitete das Team, das den Computer der Apollo-Landungen programmierte – aus Sicht von Technikhistorikern eine beeindruckende Pionierleistung. Diese Aufnahme stammt aus dem Jahr 1989.

Große Anerkennung bekamen die weiblichen Computer aber erst nach medial wirksamen Veröffentlichungen wie »Hidden Figures« und zuvor »Rocket Girls«. So erhielt Katherine Johnson für ihre Beiträge zur Berechnung der Flugbahnen für das Mercury-Programm und den ersten bemannten Flug zum Mond im Rahmen der Apollo-11-Mission die Presidential Medal of Freedom – beinahe 50 Jahre nach den entsprechenden Arbeiten.

Dabei habe sie etwas sehr Wichtiges erreicht, wie Holt betont: »Diese Frauen haben die Kultur arbeitender Mütter bei der NASA begründet.« Dank ihres Einsatzes sei es möglich gewesen, »eine neue Generation weiblicher Ingenieurinnen zu etablieren, die bis heute unsere Raumfahrtagentur dominiert«. So arbeiten heute am Jet Propulsion Laboratory auf jeder Hierarchieebene mehr Frauen als in jedem anderen NASA-Institut – »und das ist die direkte Folge der Bemühungen dieser Pionierinnen«.

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