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Deutschlands Vorgeschichte: Die Keltenmetropole jenseits der Alpen

Am Oberlauf der Donau entstand im 7. Jahrhundert v. Chr. eine Drehscheibe des europäischen Handels. Die keltische Heuneburg entfaltete sich zum Machtzentrum einer reichen Region.
Rekonstruktion der Heuneburg um 600 v. Chr.

Zahlreiche flache Lastkähne und Flöße legen am Hafen direkt unterhalb des vorspringenden Geländerückens an. An der Heuneburg beginnt und endet eine Wasserstraße, die 2700 Kilometer Richtung Osten bis zum Schwarzen Meer führt. Über die Donau gelangen Waren aus der griechischen Welt ins Keltenreich. Doch nicht nur aus dem Osten beziehen die Herren der Heuneburg Güter: Über die Alpenpässe kommen Luxusgüter – italischer Wein und etruskischer Schmuck –, aus dem Norden erreichen Wolle, Bernstein, Ölschiefer und Geweihe die Keltenmetropole. Und oben auf dem Burgberg verarbeiten Handwerker in dicht an dicht stehenden Schmieden die Materialien zu kostbarem Schmuck, Schwertern und prunkvollen Gefäßen.

»Die Heuneburg war damals der Nabel der keltischen Welt«, sagt der Archäologe Dirk Krausse vom Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart, der den Keltensitz auf der Heuneburg und dessen Umgebung in Baden-Württemberg untersucht. »Die Menschen waren richtig reich.« Offenbar hatten die Kelten den Standort geschickt gewählt: Von hier war der Oberlauf der Donau das ganze Jahr befahrbar. Auch über Land war der Ort gut angebunden.

Pyrene – Keltenstadt an der Donau

Die Region um die Heuneburg entwickelte sich früh in der keltischen Geschichte zu einer Drehscheibe des Handels. Um 620 v. Chr. entstand aus einigen Siedlungen auf dem Plateau oberhalb der Donau die älteste Stadt nördlich der Alpen. In ganz Mitteleuropa gab es keinen vergleichbar großen Ort. Mit der Außensiedlung direkt unterhalb des Plateaus erstreckten sich die Gehöfte über rund einen Quadratkilometer.

Die Handelsmetropole war offenbar weit über die Grenzen des Keltenreichs hinaus berühmt. So erwähnt der griechische Geschichtsschreiber Herodot (485-424 v. Chr.) eine »Polis Pyrene« – nur mit einem Satz, als ob sowieso jeder die Stadt kennen würde: »Der Istros (Donau) entspringt bei den Kelten und der Stadt Pyrene und fließt mitten durch Europa« (»Historien«, Buch 2, Kapitel 33, 3). Mehr Erklärungen liefert Herodot nicht, vielmehr widmet er sich anschließend den exotischen Regionen entlang des Nil. Das bekannte Pyrene an der Donau dient ihm als Gegenpol zur wilden Welt Ägyptens. Krausse hält es für möglich, dass mit Pyrene die Heuneburg gemeint war.

Arena auf der Alte Burg | Die Bergkuppe war vor mehr als 2600 Jahren zu einem zungenförmigen Plateau eingeebnet worden. Die Archäologen vermuten, dass die Kelten dort Pferde- und Wagenrennen abgehalten haben.

Lange Zeit untersuchten die Archäologen nur den Burgberg. Dort lag das frühkeltische Machtzentrum – ein kleiner, aber reicher Fürstensitz, umgeben von einer imposanten Lehmziegelmauer im Stil mediterraner Bauwerke. Doch erste Ausgrabungen in der Umgebung machten klar, dass die Heuneburg das Herz einer viel größeren Region bildete. »Wenn es Pyrene wirklich gab, war das nicht allein die Heuneburg, sondern das gesamte Umfeld«, sagt Krausse. »Wir sprechen hier über ein Gebiet von mindestens 30 Quadratkilometern, in dem alles miteinander vernetzt war – und zwar schon lange, bevor um 620 v. Chr. an der Heuneburg die Lehmziegelmauer entstand.« Das haben laut Krausse die jüngsten Datierungen ergeben.

Wo die Straßen verliefen

Seit 2014 erforscht sein Team in einem Langzeitprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gezielt die Umgebung des Fürstensitzes. Die Archäologen wollen wissen, wie die Stadt zwischen dem 7. und dem 5. Jahrhundert v. Chr. in ihr Umland eingebunden war. Sie vermuten, dass um das wirtschaftliche und politische Zentrum mit seinen geschätzten 4000 Einwohnern eine komplexe Siedlungskammer existierte, in der wohl insgesamt rund 17 000 Menschen lebten.

Doch wo lagen die Dörfer, Höfe, Gräberfelder und Heiligtümer? Bereits bekannt sind Höhenbefestigungen wie die Große Heuneburg oder die Alte Burg. Krausse erzählt zudem von ersten Grabungen auf dem Bussen – auch bekannt als heiliger Berg Oberschwabens –, der aber bisher vollkommen unerforscht ist. Parallel laufen Projekte auf der etwa neun Kilometer entfernten Alte Burg bei Langenenslingen am Steilhang der Schwäbischen Alb. Dort, das legen außergewöhnliche Funde von menschlichen Skeletten nahe, befand sich wohl ein bedeutender Versammlungs- und Kultort der frühen Kelten. Insgesamt befände sich ihr Projekt gerade in einer »ziemlich dynamischen Situation«, sagt Krausse. »Meine eigene Perspektive hat sich in den letzten Monaten gewandelt. Wir sind auf höchst erstaunliche Dinge gestoßen, etwa auf Straßen aus frühkeltischer Zeit. So etwas kannten wir bislang gar nicht.«

»Wenn es Pyrene wirklich gab, war das nicht allein die Heuneburg, sondern das gesamte Umfeld«Dirk Krausse, Archäologe, Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart

Mit Hilfe der Fernerkundung, genauer der Lidar-Technik, enthüllten die Archäologen die Spuren einer Prozessionsstraße, die von der Heuneburg in Richtung Alte Burg führte und dort in einem heute von Bäumen überwachsenen Stück hoch zum Kultplatz verlief. »Das scheint eine Trasse gewesen zu sein«, sagt Krausse, »was dafür spricht, dass beide Plätze zusammengehörten.«

Teilstücke der Trasse haben die Forscher bereits ausgegraben, etwa einen Hohlweg in einem Waldstück bei Langenenslingen, der unweit einer großen Karstquelle vorbeiführt, vergleichbar mit dem berühmten Blautopf. Auch die letzte Wegetappe im Anstieg hoch zur Alte Burg haben die Archäologen stellenweise frei gelegt und anhand der Funde ins 6. Jahrhundert v. Chr. datiert. Im Hohlweg war die Straße zehn Meter breit und mit Kalkstein geschottert. Auf dem Belag zeichneten sich noch die Fahrspuren von Wagen ab. »Wenn beide Enden der Straße frühkeltisch sind, muss das Stück dazwischen ebenfalls frühkeltisch sein«, vermutet Krausse.

Ein kolossaler Blick in die Ferne

Die Straße liefert nicht das einzige Indiz dafür, dass die Heuneburg und die Alte Burg einst miteinander verbunden waren. Auch die Sichtachse zwischen beiden Orten haben die Kelten landschaftsarchitektonisch hervorgehoben: Wer aus dem Tor des Fürstensitzes trat, erblickte vier Grabhügel, jeder etwa 8 Meter hoch und 60 Meter breit. Genau dazwischen lag in der Ferne die Alte Burg. Und dort war ein Erdwall so hoch aufgeschüttet worden, dass er von der Heuneburg aus am Horizont zu erkennen war. Wie ein markanter Zacken ragte der Kultplatz in der Schwäbischen Alb auf.

Krieger von Hirschlanden | Die anderthalb Meter hohe Sandsteinfigur fand sich am Fuß eines keltischen Grabhügels. Die zirka 2600 Jahre alte Statue zeigt einen nackten Mann mit Helm, Halsreif und Dolch. Es ist die älteste Großskulptur eines Menschen in Mitteleuropa.

Das Bild der keltischen Siedlungskammer nimmt Konturen an. Vieles spricht dafür, dass jeder Ort eine bestimmte Aufgabe erfüllte. Die Alte Burg war der zentrale Kultplatz, und die Heuneburg hatten die ersten Siedler wohl aus besonderen Gründen als Standort gewählt: Sie wollten die verkehrsgeografisch günstige Lage oberhalb der Donau nutzen. »Mit dem Handelsplatz direkt an den Fluss zu gehen – das ist ein sehr modernes Konzept der Besiedlung«, sagt Krausse. Zu Gunsten einer guten Anbindung an den Fernhandel hatten die Fürsten offenbar auf eine monumentale Lage verzichtet.

Damit klärt sich auch eine Sache, die Forscher stets irritierte: Für einen frühkeltischen Fürstensitz ist die Heuneburg eher untypisch. Anders als etwa am Mont Lassois im Burgund hatten die Herrscher auf eine monumentale Architektur verzichtet. Das Plateau der Heuneburg ist weder weithin sichtbar noch erstreckte sich dort eine große Burg mit mächtigen Wallanlagen. »Der Mont Lassois oder der Ipf bei Bopfingen sind Beispiele für die typische keltische Landschaftsarchitektur. Man nutzte eine markante Topografie, um den Anschein einer monumentalen Anlage zu verstärken«, sagt Krausse.

Das Olympia der Kelten

Die Alte Burg rückt immer mehr in den Fokus der Forscher. Im Herbst 2020 soll eine Konferenz speziell zu diesem Fundplatz stattfinden. Wie die jüngsten Grabungen zeigen, war der Berg zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. zu einer 340 Meter langen sowie 50 bis 60 Meter breiten Anlage ausgebaut worden. »Das Plateau sieht aus wie eine lange Zunge«, sagt Krausse. Felsblöcke mussten dafür entfernt, die Bergkuppe eingeebnet und schließlich eine imposante Mauer errichtet werden – 12 Meter hoch und 13 Meter mächtig. »Aus der Alte Burg wurde ein riesiges Monument geschaffen – ein gigantischer Aufwand«, sagt Krausse. Warum diese Mühen, dazu hat der Archäologe eine begründete These: »Vermutlich fanden dort Wettkämpfe statt. Es könnte das Olympia der frühen Kelten gewesen sein.«

Krausse stützt seine Annahme auf die Form des Plateaus, die an römische Zirkusanlagen erinnert. Zudem haben die Ausgräber entlang der mittigen Längsachse ein kleines Mäuerchen entdeckt. Dieses endet im selben Abstand – nämlich 15 Meter – sowohl vor der mächtigen Stützmauer als auch vor der Plateaukante. Fungierten die Mauerköpfe womöglich als Wendemarken für Pferde- oder Wagenrennen? Das jedenfalls vermutet Krausse. Um seine These zu belegen, will der Forscher aber noch weitere Grabungen anstrengen.

Griechische Sitten zum Vorbild

Auch der Archäologe Philipp Stockhammer von der Ludwig-Maximilians-Universität München kann sich vorstellen, dass die Alte Burg als Stätte für Zeremonien und Wettkämpfe diente – vielleicht nach griechischem Vorbild. Das schließt der Prähistoriker aus einer weiteren Beobachtung, die er und seine Kollegen im Forschungsprojekt BEFIM (»Bedeutungen und Funktionen mediterraner Importe im früheisenzeitlichen Mitteleuropa«) gemacht haben. Die Wissenschaftler beschäftigen sich mit den Ess- und Trinkgewohnheiten der Kelten. Dazu untersuchen sie Rückstände in Tongefäßen – in Bechern aus einheimischer und solchen aus fremder Produktion. Das Ergebnis: In Amphoren aus dem Mittelmeerraum entdeckten die Forscher Spuren von Oliven- und Rizinusöl. Allerdings nur in Transportbehältern, die ab zirka 530 v. Chr. zur Heuneburg gelangt waren. »Diese Öle waren nicht zum Verzehr gedacht«, sagt Stockhammer. »Sie dienten wahrscheinlich der Körperpflege.« Im antiken Griechenland verteilten die Athleten Öl auf ihre nackten Körper. Nach der sportlichen Ertüchtigung schabten sie das Öl dann mit einem sichelförmigen Gerät, der Strigilis, wieder ab – samt dem Staub vom Palästraboden, der an den Sportlern haftete.

Das Gold der Keltenfürstin | Die zirka zwei Zentimeter breiten Perlen vom Bettelbühl ähneln Stücken aus Italien, stammen aber vermutlich aus einer keltischen Werkstatt.

»Vielleicht übernahmen die Kelten im Verlauf des 6. Jahrhunderts v. Chr. nicht nur mediterrane Trinksitten, sondern auch die mediterranen Körperbilder«, sagt Stockhammer. Weil die Kelten die griechische Art der Körperpflege adaptierten und überhaupt engen Kontakt mit den Mittelmeergesellschaften pflegten, hätte sich ihr Körperideal geändert. Das würden die keltischen Statuen nahelegen, wie der so genannte Krieger von Hirschlanden (nahe Ditzingen bei Stuttgart). Der Oberkörper der anderthalb Meter hohen Sandsteinfigur mit seinen dünnen Armen würde frühkeltischen Statuetten ähneln, die kräftigen Unterschenkel und Beine hingegen stark an griechische Statuen erinnern, erklärt der Archäologe.

Nur – was war um 530 v. Chr. in der Stadt an der Donau passiert? Die Burg, die um 620 v. Chr. eng mit kleinen Häusern bebaut und mit der markanten Lehmziegelmauer befestigt worden war, brannte komplett ab. Warum, ist bisher nicht bekannt. Sicher ist aber, dass die Stadt nicht mehr so aufgebaut wurde wie zuvor: Statt vieler kleiner Handwerkerhäuser entstanden auf dem Burgberg prächtige, mehrere hundert Quadratmeter große Villen. Offenbar hatte eine neue Führungsschicht die Kontrolle übernommen.

Wein gab es nur noch für die Elite

Spuren für diesen gesellschaftlichen Wandel fand Stockhammers Team ausgerechnet in den Trinkgefäßen. Attisches Luxusgeschirr aus Griechenland ließ Archäologen schon lange vermuten, dass die Kelten den mediterranen Trinksitten nacheiferten. Doch die Begeisterung für Wein ist älter als die importierten Gefäße, welche die Menschen der Heuneburg erst am Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. nutzten. Zuvor genossen sie den importierten Wein aus heimischen Bechern – sowohl die Bewohner der Heuneburg als auch die der umliegenden Gehöfte. Bislang waren Prähistoriker davon ausgegangen, dass die Kelten den Wein ausschließlich aus dem zugehörigen griechischen Edelgeschirr konsumierten. Und dann auch nur die Elite.

»Erst verbindet der Wein die Menschen, dann trennt er die Elite von den einfachen Kelten«Philipp Stockhammer, Archäologe, Ludwig-Maximilians-Universität München

Das änderte sich um 530 v. Chr. Einzig die Burgleute tranken den fremden Traubenwein – und nur aus attischer Keramik, sagt Stockhammer. Die einfachen Einwohner blieben außen vor. Der Archäologe wertet das Ergebnis als Hinweis auf einen fundamentalen Wandel: »Erst verbindet der Wein die Menschen, dann trennt er die Elite von den einfachen Kelten.«

Was genau damals passierte, ist noch nicht geklärt, in jedem Fall nehmen die Bezüge zu mediterranen Sitten weiter zu. »Wir finden eine immer deutlichere Orientierung am Süden, ein immer größeres Interesse an mediterranen Lebenspraktiken«, sagt Stockhammer. Sicher ist, dass es einen intensiven Warenaustausch gab, der sogar weiter ging als bis ins antike Griechenland. Im Fürstinnengrab vom Bettelbühl nahe der Heuneburg fand sich ein bronzener Stirnpanzer für ein Pferd. Form und Dekor kennen Archäologen sonst aus dem assyrischen Raum, dem heutigen Nahen Osten. In dem Grab lagen zudem filigrane Goldschmiedearbeiten, die stilistisch etruskischen Stücken aus Italien ähneln. »Die Menschen waren in der Vergangenheit viel vernetzter, als wir lange dachten«, erklärt Stockhammer. »Daher kann ich mir auch vorstellen, dass Herodot die Heuneburg kannte.«

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