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Umweltverschmutzung durch Mikroplastik: Die Kunstrasen-Kontroverse

Die EU prüft derzeit, gegen Mikroplastik-Emissionen von Kunstrasenplätzen vorzugehen. Aus Sicht der Wissenschaft sind jedoch noch viele Fragen ungeklärt.
Kunstrasen-Fußballfeld

Deutschland steht eine emotionale Umweltdebatte bevor: Die bei Sportlern äußerst beliebten Kunstrasenplätze könnten die Umwelt im großen Stil mit Mikroplastik belasten. Diesen Eindruck erweckte zumindest eine Studie von Fraunhofer-Forschern aus dem Jahr 2018. Die Europäische Union überlegt derzeit, gegen das Kunststoffgranulat vorzugehen. Eine Entscheidung wird erst für das Jahr 2020 erwartet, wie der »Spiegel« berichtet. Aber schon jetzt kochen die Emotionen hoch: Müssen sich tausende Vereine, die viel Geld für ihre Kunstrasen ausgegeben haben, nach neuen Spielfeldern umschauen?

Fußball-, Tennis-, Hockey- und Minigolfplätze mit Kunststoffgrund stehen an und für sich im Ruf, vergleichsweise umweltschonend zu sein. Sie sind eine Alternative zu natürlichem Rasen, der viel intensivere – und oft wenig nachhaltige – Pflege benötigt. Wässern, Düngen, Mähen und das Vernichten von Unkraut verbrauchen wertvolle Ressourcen, blasen Schadstoffe in die Luft und gehen vermutlich auf Kosten der Biodiversität. Ein Kunstrasen gilt als pflegeleichter, lässt sich teils auch im Winter nutzen und kann potenziell viel länger halten – wo sollte da ein Problem lauern?

Eine klare Antwort auf diese Frage glaubten Jürgen Bertling und seine Kollegen vom Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik UMSICHT in Oberhausen gefunden zu haben, als sie 2018 in einer Studie nach Quellen für winzige Kunststoffteilchen suchten. Das Ergebnis überraschte viele Beobachter: Die in der Öffentlichkeit häufig als Hauptverdächtige genannten Mikroplastikfasern, die beim Waschen von Textilien abgerieben werden, landeten nur auf Platz 10. Die in verschiedenen Kosmetikprodukten steckenden Mikroplastikteilchen schafften es gar nur auf Platz 17 der Rangliste.

»Ein Kunstrasen erreicht beinahe die Eigenschaften des echten Grüns«
Tobias Müller, Kunstrasenhersteller Polytan

Spitzenreiter war der Abrieb aus Reifen von Autos, Lkws, Skateboards, Fahr- und Motorrädern, der die Umwelt in Deutschland jedes Jahr mit rund 100 000 Tonnen winziger Kunststoffteilchen belastet. Danach folgen auf den Plätzen 2 bis 4 Emissionen bei der Abfallentsorgung, der Abrieb von Polymeren und Bitumen in Asphalt und Verluste bei Zwischenprodukten in der Kunststoffindustrie.

Auf Platz 5 tauchten in der Rangliste Mikroplastikteilchen aus dem Kunstrasen von Sportplätzen auf. Allein von Fußballplätzen könnten beim Kicken auf Kunstrasen jedes Jahr knapp 8000 Tonnen Mikroplastik in die Umwelt gelangen, legen die Zahlen der Fraunhofer-Studie nahe. Grundlage der Schätzung waren allerdings keine direkten Messungen auf den Sportplätzen, zwischen den Stollen der Fußballschuhe oder in den Büschen am Rand der Anlage – solche Untersuchungen scheint es bisher nicht zu geben.

Das verschwundene Granulat

Vielmehr stützten sich die UMSICHT-Forscher auf Verbrauchsmengen, mit denen verloren gegangenes Material ersetzt wird. So baut sich hier zu Lande ein Kunstrasen für einen Fußballplatz meist aus einer zwei bis drei Zentimeter dicken, elastischen Unterschicht auf, die oft auf einem Kiesbett mit einer guten Drainage liegt. Darüber befindet sich der Kunstrasen. Er besteht aus einem kräftigen Gewebe, aus dem die 30 bis 40 Millimeter langen Kunstfasern ragen, die den Rasen mit seinen Grashalmen ersetzen.

Zwischen diesen Fasern wird eine Schicht aus Quarzsand aufgetragen. Sie beschwert unter anderem den Kunstrasen und hält die Kunstfasern aufrecht. Für sich genommen würde sie eine relativ hohe Verletzungsgefahr für Sportler bedeuten. Daher wird Kunstrasen zusätzlich mit Gummigranulat bestreut, das den Untergrund elastischer macht. Es verbessert auch den Kontakt zwischen Schuhen und Platz sowie das Rollverhalten von Bällen enorm. »Damit erreicht der Kunstrasen beinahe die Eigenschaften des echten Grüns«, sagt Tobias Müller, der beim Kunstrasenhersteller Polytan im bayerischen Burgheim die Abteilung Marketing und Kommunikation leitet.

Sprinten die Sportler über den Platz, schlagen eine scharfe Flanke oder grätschen dem schussbereiten Gegenspieler den Ball vom Fuß, spritzt ein kleiner Teil des Granulats auf. An den Schuhen und den Trikots der Spieler sowie auf ihrer verschwitzten Haut bleibt solches Mikroplastik leicht hängen und wird so vom Spielfeld getragen. Auch Wind und Regen können Granulat vom Platz treiben und schwemmen. Und muss der Kunstrasen im Winter von Schnee geräumt werden, kann es dabei ebenfalls abgetragen werden.

Mikroplastik-Emission bei der Pflege

Obendrein wird das Material beim Spielen verdichtet. Polytan empfiehlt daher, den Kunstrasen alle ein bis zwei Wochen mit Geräten aufzubürsten. Das lockert das Granulat und richtet niedergetretene Fasern wieder auf. Allerdings kann die Masse dabei an den Bürsten hängen bleiben und vom Platz gelangen.

Ein Teil der so ausgetragenen Mikroplastikteilchen landet vermutlich in der Umgebung oder im Abwasser. Weil dieser Abtrag auf dem Kunstrasen fehlt, empfehlen die Hersteller, ihn vor allem an stark beanspruchten Stellen wie im Fünfmeterraum vor dem Tor und am Elfmeterpunkt zu ergänzen.

Die Fraunhofer-Forscher zitieren zwei Pflegeanleitungen von Polytan aus den Jahren 2012 und 2016. In ihnen empfiehlt der Kunstrasenhersteller, pro Jahr eine halbe bis eine Tonne Granulat nachzufüllen. Der Hersteller Porplastic soll laut Studie im Jahr 2016 sogar sieben Tonnen Nachfüllung empfohlen haben.

Die UMSICHT-Wissenschaftler haben sich für ihre Untersuchung auch die Ergebnisse von drei Studien aus Dänemark, Schweden und Norwegen angeschaut. Da sie nach eigenen Angaben weder den unterschiedlichen Aufbau der Kunstrasenfelder verschiedener Hersteller noch deren Marktanteile kannten, bildeten die Fraunhofer-Forscher den Durchschnittswert der dort genannten Nachfüllangaben. Demnach sollten pro Platz 3,15 Tonnen Granulat jährlich nachgefüllt werden.

Auch bei der Zahl der Kunstrasenplätze in Deutschland mussten die Fraunhofer-Wissenschaftler schätzen. Hier gingen sie von 2500 Spielfeldern aus. Multipliziert mit den durchschnittlichen 3,15 Tonnen Nachfüllung pro Platz erhielten sie die genannte Menge von knapp 8000 Tonnen Granulatnachfüllung pro Jahr. Diesen Wert setzten sie in ihrer 2018er Studie offenbar mit dem in die Umwelt emittierten Mikroplastik gleich.

Entrüstete Hersteller

Bei den Herstellern löste die grobe Schätzung einen Sturm der Entrüstung aus. »Wir kommen auf ganz andere, viel niedrigere Zahlen«, sagt Polytan-Marketingchef Tobias Müller. Nach Berechnungen seiner Firma werden pro Polytan-Kunstrasenfeld jährlich bloß 150 bis 300 Kilogramm Granulat nachgefüllt. Auch das RAL Deutsche Institut für Gütesicherung und Kennzeichnung in Bonn und der DIN-Normenausschuss Bauwesen (NABau) kommen zu anderen Ergebnissen als die Fraunhofer-Forscher.

»Die Zahlen aus den skandinavischen Studien lassen sich ohnehin kaum mit den deutschen Verhältnissen vergleichen, weil die Plätze dort meist ganz anders aufgebaut sind«, findet Müller. So hätten die nordischen Kunstrasen oft keinen festen, elastischen Unterbau. Skandinavische Platzwirte würden daher mit entsprechend größeren Mengen Gummigranulat auffüllen, um die nötige Elastizität zu erreichen.

Während auf einen Quadratmeter deutschen Kunstrasens laut Deutscher Industrienorm (DIN) fünf Kilogramm Gummigranulat gefüllt werden und gekräuselter Kunstrasen sogar mit zwei Kilogramm auskommt, sind es in Skandinavien 12 bis 18 Kilogramm. Entsprechend größer wäre die Mikroplastikmenge, die in die Umwelt gelangt. Haben die Fraunhofer-Forscher also nicht nur Äpfel mit Birnen, sondern Kirschen mit Kürbissen verglichen?

Theorie und Praxis

Es gibt jedenfalls noch weitere Hinweise darauf, dass die Sache im Detail komplizierter ist als angenommen. Zu den Unsicherheiten der theoretischen Berechnungen kommen erhebliche Unterschiede in der alltäglichen Praxis auf Fußballplätzen. Spielt oder trainiert dort nur einmal in der Woche eine Amateurmannschaft, dürften die Spieler viel weniger Granulat vom Platz befördern als auf einem Kunstrasen, der das ganze Jahr über täglich etliche Stunden mit den Stollen der Fußballschuhe konfrontiert ist. Und bürstet der Platzwart seinen Rasen wöchentlich, tragen die Geräte dort jährlich ungewollt sehr wahrscheinlich mehr Granulat ab als von einem Feld, das vielleicht nur einmal im Jahr gebürstet wird.

Man kann das Kunststoffgranulat durch Kork ersetzen – aber ist die Umweltbilanz dann wirklich besser?

Solche Unterschiede zwischen Theorie und Praxis bekommt man besser in den Griff, wenn man die Beteiligten befragt. Genau das haben die Fraunhofer-Forscher zwischen März und Juni 2019 nachgeholt und sich bei 80 deutschen Großstädten nach deren Kunstrasenplätzen erkundigt. Immerhin 32 haben geantwortet. Die UMSICHT-Forscher haben auf dieser Basis ihre Schätzung auf 3750 Plätze korrigiert, was den vom Deutschen Fußballverbund DFB genannten 5000 Plätzen näher kommt. Die befragten Kommunen bestätigten indirekt auch die Vermutung, dass die Mikroplastik-Emissionen von Kunstrasen sehr unterschiedlich sein könnten: Kam eine Gemeinde mit 50 Kilogramm Granulat pro Platz im Jahr aus, ließ eine andere 1500 Kilogramm ausbringen – beides liegt wohlgemerkt deutlich unter der Schätzung der 2018er Studie.

Trotzdem sagen solche Nachfüllmengen noch immer wenig über den tatsächlichen Granulatverlust aus: Vielleicht füllen einige Platzwarte statt mit Granulat mit Sand auf? Oder sie sparen sich die aufwändige Praxis, obwohl es eigentlich empfohlen wird? Damit ließen sich immerhin Kosten sparen, was Gemeinden mit klammen Kassen nicht ungelegen kommen dürfte. Letztendlich müssen mittlerweile selbst die Experten einräumen, dass noch weiterer Forschungsbedarf besteht, »für eine vertiefte Analyse«, wie es die UMSICHT-Wissenschaftler ausdrücken.

Daher haben sie nun alle Betroffenen – von den Herstellern bis zu den Kommunen – aufgerufen, sich an einer geplanten Studie zu beteiligen, die Kunstrasenplätze ganzheitlich bewerten soll. »Da werden wir natürlich gern unsere Erfahrung einbringen«, sagt Müller. Dem Interesse abträglich könnte allerdings die Forderung der Fraunhofer-Forscher sein, die Teilnehmer sollten sich mit jeweils bis zu 20 000 Euro an den Kosten der geplanten Studie beteiligen. Eine solche finanzielle Beteiligung von Industriepartnern gehört schon immer zum Fraunhofer-Geschäftsmodell.

Möglicherweise unterschätzt: Der Abrieb der Fasern

Ein weiterer Antrieb für diese Forschung kommt von der Europäischen Union und dort von der Europäischen Chemikalien-Agentur (ECHA) in Helsinki. Die ECHA prüft derzeit Möglichkeiten, den Eintrag von höchstens fünf Millimeter großen Mikroplastikteilchen in die Umwelt stark zu verringern. Bis zum 22. September 2019 bringen Fachleute dazu ihre Meinungen und Ergebnisse und damit auch die wackligen Zahlen zu den Kunstrasenplätzen bei der ECHA ein. Daran beteiligen sich natürlich auch das deutsche Umweltbundesamt in Dessau-Roßlau und die Fraunhofer-Forscher vom UMSICHT-Institut.

Die Fraunhofer-Forscher haben neben dem Granulat auf dem Kunstrasen inzwischen auch die Kunstfasern selbst im Visier. So haben sich die Wissenschaftler von April bis Juni 2019 mindestens 50 Kunstrasenplätze im Raum Oberhausen, Mülheim und Essen genauer angeschaut. Dabei stellten sie fest, dass von den Kunstfasern offensichtlich Teile abgerieben werden und in die Umwelt gelangen. Anscheinend können unter der Wucht der Fußballstollen Fragmente von den Kunstfasern abspleißen. Solche Mikroplastikteilchen bleiben wohl auch bei der Pflege des Platzes in den Bürsten der Geräte hängen.

Die Annahme liegt nahe, dass dieser Austrag mit der Belastung und dem Verschleiß des Platzes wächst – am Kunstrasen nagt also ebenfalls der Zahn der Zeit. Selbst wenn dieses Mikroplastik aus Verschleiß im Rahmen der ECHA-Aktivitäten derzeit keine Rolle spielt, würden es die Fraunhofer-Forscher gerne gemeinsam mit den Granulat-Emissionen untersuchen.

Es gibt Alternativen – aber wie gut sind sie?

Bis solche Ergebnisse vorliegen, dürfte noch einige Zeit vergehen. In der Zwischenzeit gilt es, die Menge des ausgetragenen Mikroplastiks möglichst klein zu halten. Und dafür gibt es durchaus einige Möglichkeiten: zum Beispiel so genannte Abklopfplätze, auf denen Sportler ihre Schuhe vom anhaftenden Granulat befreien können. Das kann dann anschließend wiederverwendet werden kann, versprechen Hersteller. Diese haben mitunter ebenfalls Rückhaltesysteme im Angebot, bei denen um die Plätze Rinnen verlegt werden, in denen bei einem Platzregen ausgeschwemmte Teilchen landen.

Laut Polytan-Pflegeanleitung kann es außerdem helfen, wenn der Platzwart beim Schneeräumen mindestens einen Zentimeter Schnee liegen lässt. Dadurch werde ebenfalls viel weniger Granulat ausgetragen. Schmilzt der Schnee am Ende des Winters, bleibt das darin ausgetragene Mikroplastik am Boden liegen, kann zusammengekehrt und wiederverwendet oder recycelt werden.

Bei den Herstellern gibt man sich auch sonst Mühe, Umweltbewusstsein zu demonstrieren. »Wir haben längst den Anteil von synthetischem Kautschuk im Gummigranulat stark reduziert«, sagt Polytan-Sprecher Müller. Mittlerweile bietet der Hersteller Granulat mit 30 Prozent Gummi und 70 Prozent Kreide an. Zudem lässt sich der Kunststoff zum Teil durch Hanf ersetzen, der obendrein noch Wasser aufsaugt und so die Eigenschaften des Kunstrasens weiter verbessert, oder durch Kork, der ähnliche Eigenschaften hat.

Kork kommt auf einigen Plätzen bereits zum Einsatz. Allerdings sollte man dabei nicht nur auf die Mikroplastikproblematik achten, sondern einen ganzheitlichen Ansatz wählen, findet Tobias Müller: »Wie viel Mikroplastik wird zum Beispiel von den Reifen beim Transport des Korks aus Portugal in deutsche Stadien abgerieben?« Ebenso ist offen, ob man überhaupt genug Kork anbauen kann, ohne dabei die Umwelt zu schädigen.

Vielleicht kann die Wissenschaft auch in diesen Fragen einen Beitrag leisten. Nötig wäre es wohl: Menschen werden weiterhin Fußball, Tennis, Hockey und Minigolf spielen wollen. Dafür brauchen sie entsprechende Plätze, die möglichst nachhaltig sein sollten. Von heute auf morgen ganz neue Spielfelder anzulegen, dürfte die finanziellen Möglichkeiten vieler Vereine und Kommunen übersteigen – erst recht, wenn sie erst vor ein paar Jahren in einen vermeintlich umweltschonenden Kunstrasen investiert haben.

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