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Spaltung: Driften die Wertvorstellungen weltweit auseinander?

Was seine Werte betrifft, scheint der Westen weltweit immer mehr isoliert zu sein. Toleranz und Offenheit seien anderswo weniger wichtig, ergab eine Studie. Doch ob die ausgewerteten Daten dieses Fazit überhaupt hergeben, ist unklar.
Menschen überqueren eine Straße in einem Einkaufsviertel in Tokio.
Menschen überqueren eine Straße in einem Einkaufsviertel in Tokio. Laut einer neuen Studie entwickeln sich die Wertvorstellungen in den Gesellschaften global auseinander, nähern sich aber regional an.

Trotz Globalisierung und weltweit wachsendem Wohlstand unterscheiden sich die Wertvorstellungen westlich geprägter Nationen immer stärker von denen in anderen Ländern. Zu diesem Ergebnis kommen die Wirtschaftswissenschaftler Joshua Conrad Jackson und Danila Medvedev von der University of Chicago. Zugleich hätten sich benachbarte Länder wertemäßig angenähert, schreiben die beiden Forscher in »Nature Communications«. Werte hätten sich demnach global auseinanderentwickelt, regional aber angepasst. Zudem mache allgemeiner Wohlstand eine Gesellschaft nicht offener, toleranter oder säkularer.

Die Wissenschaftler stützten sich auf Umfragen des World Values Survey. Die Datenbank umfasst Aussagen von mehr als 406 000 Menschen aus 76 Ländern über deren Vorstellungen – hinsichtlich Homosexualität, Schwangerschaftsabbruch, Religion, dem Vertrauen zu Behörden, Nationalstolz oder der politischen Orientierung. Erhoben wurden die Daten in regelmäßigen Abständen zwischen 1981 und 2022.

Wie stark die Werte auseinandergedriftet sind, lässt sich laut der Autoren an folgendem Beispiel nachvollziehen: In Australien bejahten anfangs noch 39 Prozent der Teilnehmenden die Frage, ob Kinder gehorsam sein müssten. Damals sagten das auch 32 Prozent der Befragten in Pakistan. Jahrzehnte später waren nur noch 18 Prozent der Australier dieser Meinung, aber 49 Prozent der Pakistani.

Laut Fachleuten, die an der aktuellen Studie nicht beteiligt waren, haben Jackson und Medvedev methodisch sauber gearbeitet und einen geeigneten Datensatz ausgewertet. Allerdings merkt die Sozialpsychologin Constanze Beierlein von der Hochschule Hamm-Lippstadt gegenüber dem Science Media Center an, dass die Fragen aus dem World Values Survey »streng genommen keine Werte messen«, also »keine Leitprinzipien im Leben von Menschen«. In dieselbe Kerbe schlägt der Soziologe Eldad Davidov von der Universität Köln: »Aus meiner Sicht geht es in dieser Studie um Einstellungen, Meinungen und Verhalten, nicht um Werte.« Diese seien zwar nicht weniger wichtig, allerdings würden Menschen sie leichter ändern. Das mache die Ergebnisse der Studie weniger überraschend. Ebenso seien die Antworten nicht unbedingt über Ländergrenzen hinweg vergleichbar. Wie Beierlein sagt, können »wir nicht ›automatisch‹ davon ausgehen …, dass Wertefragen in allen Kulturen dasselbe messen«.

Der Politologe Christian Welzel von der Leuphana Universität Lüneburg bestätigt die Stoßrichtung der Studie, schränkt deren Aussagen aber auch ein. Zwar sei »eine leichte Tendenz zur Divergenz in Wertorientierungen zwischen den Kulturzonen der Welt« zu beobachten, doch einen bedeutenden Aspekt hätten die Chicagoer Wirtschaftswissenschaftler außer Acht gelassen: »Die Wertentwicklung geht in allen Weltregionen in dieselbe Richtung, nämlich hin zu stärkerer Säkularität und Emanzipation.« Das Auseinanderdriften der Werte resultiere aus einem bestimmten Grund, betont Welzel gegenüber dem Science Media Center. »Die Weltkulturen würden »sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf dieser Strecke zu mehr Säkularität und Emanzipation bewegen«.

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  • Quellen

Jackson, J.C., Medvedev, D.: Worldwide divergence of values. Nature Communications 2024

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