Direkt zum Inhalt

Evolution: Alge macht ungewöhnlichen Evolutionssprung

Ein extrem seltener Vorgang: Eine Alge macht ein Bakterium zu ihrem Zellorgan. Dadurch wird sie zum ersten höheren Lebewesen, das Luftstickstoff verwerten kann.
Mikroskop-Foto von Braarudosphaera bigelowii. Eine begeißelte Alge.
Die Alge Braarudosphaera bigelowii. Der Pfeil markiert die neue Organelle – sie sieht noch aus wie ein Cyanobakterium.

Es ist einer der seltensten Prozesse der Evolution – und ohne ihn würde es uns nicht geben. In wenigen außergewöhnlichen Fällen können Zellen einen fremden Organismus in ein eigenes Organ verwandeln. Als es zum ersten Mal geschah, in der Frühzeit des Lebens, entstanden die Mitochondrien, ohne deren Energieproduktion es keine höheren Lebensformen gäbe. Später dann bildeten sich aus einem Cyanobakterium die Chloroplasten, mit denen Pflanzen Sonnenenergie einsammeln. Nun hat ein weiterer Organismus die Grenze von der Symbiose zum Zellbaustein überschritten, berichtet Team um Tyler H. Coale und Valentina Loconte von der University of California. Laut ihrer Veröffentlichung in der Fachzeitschrift »Science« hat ein Cyanobakterium seine Unabhängigkeit verloren und produziert nun als Organelle Ammoniak für die Alge Braarudosphaera bigelowii. Damit sind Braarudosphaera und ihre Verwandten die einzigen bekannten höheren Lebewesen, die eigenständig den Stickstoff der Luft nutzen können.

Bisher hatten ausschließlich Bakterien diese besondere Fähigkeit. Luftstickstoff (N2) ist chemisch extrem stabil und kann nur durch spezielle Metalloenzyme geknackt werden, die neben Eisen auch die in der Biologie seltenen Metalle Molybdän oder Vanadium enthalten. Das ist biochemisch sehr aufwändig. Deswegen leben die meisten dazu fähigen Bakterien als Symbionten in anderen Organismen, die ihnen im Austausch für Ammoniak andere Nährstoffe zur Verfügung stellen – zum Beispiel auch in den Wurzeln von Bohnen und Erbsen. Die als Nitroplasten bezeichneten Organellen von Braarudosphaera waren einst ebensolche Symbionten – und dass sie ihre Unabhängigkeit verloren, ist weniger als 90 Millionen Jahre her.

Tatsächlich gingen Fachleute lange davon aus, dass die Nitroplasten noch symbiotische Bakterien seien. Denn die Grenze zwischen Symbiose und Zellbestandteil ist fließend. Auch echte Symbionten verlieren nach und nach Gene, die sie dank ihres Wirtes nicht mehr brauchen, und können nach einer Weile nicht mehr unabhängig existieren. Doch die Integration der Nitroplasten in Braarudosphaera geht sogar noch weiter als das, wie das Team um Coale und Loconte in der Forschungsarbeit entdeckte. Der einstige Symbiont hat nicht nur seine Gene für Fotosynthese und Stoffwechsel verloren, sondern enthält Gene und Proteine seines Wirts, passt seine Größe an die Bedürfnisse der Alge an, ist in ihr Zellskelett integriert und teilt sich streng koordiniert zusammen mit ihr. All diese Merkmale sind typisch für klassische Organellen.

Allerdings kann es noch nicht allzu lang her sein, dass das Bakterium die Grenze zum Organell überschritt. Denn die Nitroplasten sehen frei lebenden Bakterien immer noch so ähnlich, dass sie lange als Symbionten galten. Genetische Untersuchungen zeigen, dass Algen und Bakterien wohl vor rund 150 Millionen Jahren zusammenfanden. Zu jener Zeit waren Nährstoffe in den Ozeanen außerordentlich knapp. Vor etwa 90 Millionen Jahren waren die Symbionten dann fest an ihre jeweiligen Wirte gebunden, so dass sie deren Artbildung im Laufe der Evolution streng folgten. In den Jahrmillionen danach verloren sie immer mehr Gene, die Wirtszelle begann, spezialisierte Proteine für ihren Stoffwechsel zu liefern und integrierte sie in ihre Zellstruktur. So entwickelten sich beide gemeinsam von einer Gemeinschaft zu einer Zelle mit Bonusorgan.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Quellen

Science, 10.1126/science.adk1075, 2024

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.