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Online-Glücksspielsucht: Nichts geht mehr

Auch in Deutschland dürfen Menschen von nun an legal in Online-Casinos zocken. Suchtexperten sind besorgt: Denn virtuelles Glücksspiel macht besonders leicht abhängig.
Mann spielt an virtueller Slot Machine

Als Archäologen im Gebiet des früheren Mesopotamiens Würfel aus Knochen und Elfenbein fanden, war klar: Schon vor 5000 Jahren wurde gezockt. Bereits die alten Ägypter, die Römer und die Germanen würfelten sich zuweilen um Haus und Hof. Nicht erst seit dem Mittelalter gab es deshalb immer wieder Versuche, Glücksspiel zu verbieten. Bis heute tobt ein Ringen um das Recht, auf den Zufall zu setzen.

Zurzeit haben es Glücksspieler so leicht wie nie. Um Roulette, Black Jack, Lotto oder Poker zu spielen, braucht man nicht einmal mehr vom Sofa aufzustehen – das Internet bietet allerlei Möglichkeiten. Um online Geld setzen zu können, muss man nur ein Benutzerkonto anlegen und dieses mit einem bestimmten Betrag aufladen. Die Einzahlung erfolgt per Banküberweisung, Scheck, Kreditkarte oder über Online-Bezahldienste wie Paypal. Waren es 1996 nur zehn Glücksspiel-Websites, stieg die Zahl 2010 schon auf 2300. Heute gibt es mehr als 4000 Orte im Netz, an denen man zocken kann – darunter Pokerräume, digitale Wettbüros, Bingo-Portale und Online-Casinos. Das Problem: Laut einer Umfrage befindet sich jeder fünfte Deutsche, der sich in solchen virtuellen Spielhallen aufhält, auf dem Weg in eine Abhängigkeit oder steckt längst mittendrin.

Weil Glücksspiel süchtig machen kann, ist es in Deutschland streng reglementiert. Online-Casinos waren aus diesem Grund bislang offiziell sogar ganz verboten. Lediglich Online-Lotterien und -Sportwetten durften teils mit entsprechender staatlicher Lizenz angeboten werden. Das hatten die Bundesländer im bisher geltenden Glücksspielstaatsvertrag gemeinsam beschlossen. Dieser trat 2012 in Kraft – jedoch ohne Beteiligung von Schleswig-Holstein. Der Landtag hatte dort bereits 2011 ein umstrittenes Gesetz zur Regelung des Glücksspiels verabschiedet. Es ermöglichte die Lizenzvergabe an private Anbieter von Online-Casinos. 2013 trat die neue Landesregierung Schleswig-Holsteins dann doch dem Glücksspielstaatsvertrag bei, die zuvor vergebenen Lizenzen blieben aber bestehen. Ab dem 1. Juli 2021 gilt nun für ganz Deutschland ein neuer Glücksspielstaatsvertrag. Ihm zufolge ist es fortan bundesweit möglich, Online-Casinos in einem gewissen Umfang legal zu betreiben.

Hilfe für Betroffene

Wenn Sie selbst oder Angehörige von Spielsucht betroffen sind, können Sie sich an eine Beratungsstelle wenden. Geeignete Anlaufstellen in Ihrer Region finden Sie zum Beispiel beim Suchthilfeverzeichnis der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V..

Unter 0800 1 37 27 00 erreichen Sie die kostenfreie Telefonberatung zur Glücksspielsucht der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Ein Grund für den neuen Beschluss: Wer sein Glück online herausfordern wollte, fand trotz des Verbots immer Mittel und Wege, etwa auf illegalen Websites. Daneben konnte man auch als Deutscher auf ausländische Seiten mit gültiger Lizenz zugreifen. Laut europäischem Recht dürfen Online-Anbieter, die eine gültige Lizenz in einem EU-Mitgliedsstaat besitzen, ihre Waren und Dienstleistungen nämlich EU-weit anbieten. Entsprechende Glücksspielportale haben ihren Sitz zum Beispiel in Malta. Die Folge: Online-Casinos waren in Deutschland auf dem Papier zwar illegal, der deutsche Staat hatte jedoch de facto keine Handhabe gegen virtuelle Spielstätten aus dem Ausland. Zwar machten sich deutsche Spieler auf solchen EU-Seiten theoretisch strafbar, verfolgt wurde das aber kaum.

In Vorbereitung auf die Legalisierung im Sommer 2021 wurde das Betreiben von Online-Casinos bereits ab Oktober 2020 von den Behörden nicht mehr geahndet, wenn sich die Anbieter an bestimmte Auflagen hielten. In dieser Probezeit galt schon unter anderem: Es gibt ein Einsatzlimit von 1000 Euro pro Monat, der Einsatz für ein einzelnes Automatenspiel darf höchstens einen Euro betragen, und mit einem Notknopf auf der Website müssen sich gefährdete Spieler für 24 Stunden selbst sperren können. Plattformen, die sich an die Regeln hielten, sollen bei der Vergabe von Lizenzen ab Juli 2021 bevorzugt werden. Allerdings ergaben Recherchen des NDR, dass viele Anbieter den Kontrollen entgingen und bei den Auflagen tricksten.

Etwa 200 000 Menschen in Deutschland sind spielsüchtig

Maßnahmen wie das Einsatzlimit, der Notknopf und eine zentrale Sperrdatei für abhängige Spieler sollen verhindern, dass Nutzer von Glücksspielportalen im Internet in eine Spielsucht abrutschen oder sich diese weiter verschlimmert. Vom pathologischen Spielen, umgangssprachlich Spielsucht genannt, spricht man, wenn Spieler die Kontrolle verlieren. Trotz des Vorsatzes, nach ein paar Runden aufzuhören oder nur einen bestimmten Einsatz zu verspielen, schaffen sie es nicht, aufzuhören. Das Verlangen, weiterzumachen, ist zu groß: nur noch einmal, um das verlorene Geld wieder reinzuholen. Die Probleme entwickeln sich in der Regel schleichend über mehrere Monate oder Jahre. Statistiken zeigen, dass rund 230 000 Menschen in Deutschland ein problematisches Spielverhalten aufweisen. Bei etwa 200 000 ist das Problem krankhaft.

Mehr und mehr dominiert das Glücksspiel ihr Leben. Familie, Beruf und andere Interessen treten in den Hintergrund. Oft ziehen sich Betroffene sozial zurück, um Streit und Kritik aus dem Weg zu gehen. Sie wirken in sich gekehrt, depressiv oder ängstlich. Das Spielen ist für sie zugleich Entspannung und Trost, verschärft die Probleme aber immer weiter. Mitunter bauen sich Spielsüchtige ein raffiniertes Lügengeflecht auf, um finanzielle Engpässe zu erklären. Sie lösen Lebensversicherungen auf, leihen sich immer wieder größere Summen oder stehlen teils sogar Geld und Wertgegenstände von Angehörigen. Nach dem finanziellen Ruin oder auf Drängen von Freunden und Familie nehmen sich Betroffene wiederholt vor, aufzuhören. Doch die Versuche scheitern häufig nach einigen Tagen oder Wochen. Manchmal treibt sie eine Stresssituation zurück zum Spiel, manchmal entzündet auch gerade die Entspannung der finanziellen Lage erneut den Drang.

Besonders häufig betroffen sind Männer und Jugendliche – auch weil sie mehr Mut zum Risiko haben. »Dass es eine Art Spielercharakter gibt, ist aber veraltet. Der Weg in die Abhängigkeit hat nichts mit Willensschwäche zu tun«, erklärt Nina Romanczuk-Seiferth. Sie ist Professorin für Neurobiologie der Psyche und Neuropsychotherapie an der Berliner Charité und leitet dort die Arbeitsgruppe Spielsucht. Forscher wie Romanczuk-Seiferth konnten zeigen, dass es bei Menschen mit einem pathologischen Spielverhalten ähnlich wie bei Drogensüchten zu Veränderungen im Gehirn kommt. Schaltkreise, die mit Belohnung und Motivation in Verbindung stehen, reagieren zunehmend auf alles, was mit dem Spielen zu tun hat. Andere angenehme Tätigkeiten wie Freunde treffen, Essen oder Sex aktivieren das Belohnungszentrum immer weniger und verlieren so zunehmend ihren Reiz.

Wer online zockt, ist besonders gefährdet

Eine 2021 veröffentlichte Metaanalyse von 104 Studien zum Thema zeigt: Der wichtigste Risikofaktor für problematisches Spielverhalten ist nicht etwa in der Persönlichkeit oder den Lebensumständen des Spielers zu finden, sondern in der Art des Spiels. Am gefährdetsten war tatsächlich, wer im Internet zockte. »Online-Glücksspiel ist ein besonders großes Problem«, bestätigt Nina Romanczuk-Seiferth. »Je mehr Gelegenheiten zum Spielen, desto höher die Suchtgefahr.« Denn Smartphone und Co sind ständig und überall verfügbar. So kann 24 Stunden, sieben Tage die Woche gezockt werden – unbeobachtet und anonym.

»Je mehr Gelegenheiten zum Spielen, desto höher die Suchtgefahr«Nina Romanczuk-Seiferth, Suchtexpertin

Dass die mit der Legalisierung von Online-Casinos geplanten Maßnahmen Spieler ausreichend schützen, bezweifeln einige Experten. Die neue Regelung könnte vielmehr dazu führen, dass Anbieter weitere Spielerinnen und Spieler anwerben. »Das gleicht einer Kundenbeschaffungsmaßnahme in diesem gefährlichen Markt«, sagt etwa die Vorsitzende des Fachverbands Glücksspielsucht, Ilona Füchtenschnieder. So sei das Einzahlungslimit von 1000 Euro pro Monat zu hoch angesetzt. Für die meisten sei das schließlich ein beträchtlicher Teil des Lebensunterhalts, kritisieren Fachverbände.

Ob die geplanten Schutzmaßnahmen wie das Einsatzlimit wirken, sei zudem im Vorfeld nicht wissenschaftlich geprüft worden. Das bemängelt auch Nina Romanczuk-Seiferth von der Charité: »Oft erscheinen solche Maßnahmen eher halbherzig. Wenn man zum Beispiel für Glücksspiel wirbt und dann nur in winzig kleiner Schrift dazu schreibt ›Glücksspiel kann süchtig machen‹, ist das meiner Meinung nach nicht sehr effektiv. Ich hätte es einer Legalisierung vorgezogen, dass man das bestehende Verbot vernünftig umsetzt.«

Ähnlich bewertet Hans-Jürgen Rumpf von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität zu Lübeck und Vorsitzender des Fachbeirats Glücksspielsucht die Reform: »Unabhängig von den Lücken im Spieler- und Jugendschutz bergen die betreffenden Online-Glücksspiele durch ihre schnelle Spielgeschwindigkeit in Verbindung mit der hohen Verfügbarkeit ein sehr hohes Suchtpotenzial.« So entdeckte ein Klient aus der Suchtberatung der Charité in der Coronapandemie, als die Spielhallen geschlossen waren und andere Möglichkeiten zur Entspannung und Zerstreuung wegfielen, erst so richtig das Spielen im Internet für sich. Am Ende verspielte er mehr als 30 000 Euro.

Psychotherapie und Stressbewältigung helfen raus aus der Sucht

Wer an diesem Punkt angekommen ist, der benötigt in aller Regel professionelle Hilfe, um sich aus seiner Sucht zu befreien. »In der Psychotherapie lassen sich die Automatismen des Spielens Schritt für Schritt verlernen«, erklärt Nina Romanczuk-Seiferth. »Gleichzeitig üben die Patienten andere Strategien ein, mit Stress fertig zu werden.«

»Spielhallen lassen sich umschiffen, dagegen ist es kaum möglich, Laptop und Handy aus dem Weg zu gehen«Nina Romanczuk-Seiferth, Suchtexpertin

Für Menschen, die hauptsächlich Glücksspiel im Internet betreiben, erweist sich dieser Weg allerdings oft als steiniger. »Insbesondere zu Beginn einer Therapie, bevor neue Umgehensweisen erlernt wurden, raten wir Betroffenen, Reize zu vermeiden, die an das Spielen erinnern und somit das Verlangen danach triggern können«, sagt die Expertin. »Das ist für Menschen, die vor allem online spielen, ungleich schwieriger. Spielhallen lassen sich umschiffen, dagegen ist es kaum möglich, Laptop und Handy aus dem Weg zu gehen. Viele brauchen die Geräte allein schon für die Arbeit.«

Wichtig ist in jedem Fall, sich frühzeitig Hilfe zu holen – und sich nicht aus Scham oder Hoffnungslosigkeit davor zu scheuen. Anlaufstellen bieten unter anderem Beratungszentren, Fachkliniken und Hilfetelefone. Sie können Spielsüchtigen helfen, die ersten Schritte zu tun, um die gefährliche Abwärtsspirale zu durchbrechen.

Hilfe für Betroffene

Wenn Sie selbst oder Angehörige von Spielsucht betroffen sind, können Sie sich an eine Beratungsstelle wenden. Geeignete Anlaufstellen in Ihrer Region finden Sie zum Beispiel beim Suchthilfeverzeichnis der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V..

Unter 0800 1 37 27 00 erreichen Sie die kostenfreie Telefonberatung zur Glücksspielsucht der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

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