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Intelligenz: »Es gibt Hochbegabte in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen«

Ob Mathecrack oder Spitzensportler, Mann oder Frau: Hochbegabung hat viele Gesichter. Entscheidend sind nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch die Persönlichkeit, sagt die Psychologin Franzis Preckel.
Absolventin

Bei dem Wort »hochbegabt« denken viele an Mathegenies. Oder an nerdige Physiker wie die Figur des Dr. Sheldon Cooper aus der Fernsehserie »Big Bang Theory«. Doch Hochbegabung hat viele Gesichter: Auch jemand, der im Sport- oder Musikbereich Spitzenleistungen vollbringt, kann hochbegabt sein. Oder jemand mit außergewöhnlicher Führungskompetenz, sagt Franzis Preckel. Die Psychologin leitet den Lehrstuhl für Hochbegabtenforschung und -förderung an der Universität Trier. Im Interview erklärt sie, was eine Hochbegabung von einer hohen Intelligenz unterscheidet, ob Männer und Frauen sich hinsichtlich ihrer Begabungen unterscheiden und wie man Personen, die außergewöhnliche Leistungen zeigen, am besten fördert.

»Spektrum.de«: Frau Preckel, ist hochbegabt gleichbedeutend mit hochintelligent?

Franzis Preckel: Das ist nur eine mögliche Sichtweise. Aktuell wird Hochbegabung zumeist vielfältiger konzipiert. Intelligenz ist ein wichtiges Merkmal dabei, aber längst nicht das einzige. Im Grunde gibt es Hochbegabte in allen gesellschaftlich relevanten Leistungsbereichen. Neben dem akademischen Bereich mit Mathematik, Naturwissenschaften, Sprachen und Geisteswissenschaften ist das auch in der Kunst, in der Musik, im Sport und so weiter der Fall. Und Führungsfähigkeit und diplomatisches Geschick sind ebenfalls Domänen, in denen Hochbegabung vorkommt.

Franzis Preckel | Die Psychologin leitet den Lehrstuhl für Hochbegabtenforschung und -förderung der Universität Trier.

Wie lässt sich eine Hochbegabung dort feststellen?

Das ist in manchen Bereichen tatsächlich schwierig – nämlich immer dann, wenn objektive Maßstäbe fehlen, was unter besserem, leistungsstärkerem Verhalten zu verstehen ist. Etwa im sozial-emotionalen Bereich. Dort gibt es zwar das Konzept der emotionalen Intelligenz; ob es sich dabei überhaupt um eine Fähigkeit handelt oder eher um ein Persönlichkeitsmerkmal, ist jedoch umstritten.

Trotzdem ist meist von Hochbegabung die Rede, wenn eine Person sehr gut in einem Intelligenztest abschneidet.

Ja, der Test liefert hier wertvolle Informationen. Doch das ist nur ein Baustein. Früher ging man oft, heute seltener, davon aus, dass Hochbegabung ab einem Intelligenzquotienten von 130 beginnt. Die Mehrheit der Menschen kommt auf einen Wert um die 100, etwa 68 Prozent der IQs liegen zwischen 85 und 115. Ein IQ von 130 zeigt also an, dass ein besonderes intellektuelles Potenzial vorhanden ist. Wenn man Hochbegabung aber weiter fasst, zum Beispiel als Potenzial für die Entwicklung von besonderen Leistungen, gehört neben der Intelligenz noch mehr dazu. Zum Beispiel die Leistungsmotivation, Gewissenhaftigkeit oder der Glaube an die eigenen Fähigkeiten. Eine reine Definition von Hochbegabung auf Basis des IQ wird daher heute von vielen abgelehnt. Ein einzelnes Intelligenztestergebnis reicht eben nicht aus, um sich ein umfassendes Bild von den Fähigkeiten einer Person machen.

Wie stark klaffen Hochbegabungen auseinander?

Ganz abgesehen von den vielen verschiedenen Bereichen, in denen eine Hochbegabung auftreten kann, ist allein Intelligenz sehr facettenreich. Aktuell unterscheidet man neben der allgemeinen Intelligenz noch zahlreiche spezifischere Fähigkeiten, die darunterfallen: etwa numerische Intelligenz, verbale Intelligenz und räumliches Denken. Interessanterweise hat man festgestellt, dass sich die Performance in den verschiedenen Bereichen der Intelligenz umso stärker unterscheidet, je höher die allgemeine Intelligenz einer Person ist. Das heißt, wer hochintelligent ist, besitzt eher eine besondere Stärke – kann also bei einem insgesamt eher hohen Niveau beispielsweise noch mal deutlich besser mit Zahlen umgehen als mit Worten. Wer umgekehrt eine durchschnittliche allgemeine Intelligenz aufweist, schneidet tendenziell in verschiedenen Teilen des Intelligenztests ähnlich gut ab.

Wie kommt das?

Hierfür gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Man kann sich zum Beispiel einen Computer vorstellen, bei dem alle Komponenten von einem zentralen Prozessor abhängig sind. Ist dieser langsam, limitiert das die maximale Leistung aller Komponenten, so dass diese alle ähnlich langsam arbeiten. Ist der Prozessor hingegen sehr schnell, kommen die Unterschiede in der Effizienz der einzelnen Komponenten mehr zum Vorschein. Das ist aber nicht unbedingt eine korrekte und ganz sicher eine stark vereinfachte Beschreibung der Prozesse, die tatsächlich für den Effekt verantwortlich sind.

»Wer hochintelligent ist, besitzt eher eine besondere Stärke«

Unterscheiden sich Jungen und Mädchen hinsichtlich ihrer Talente?

Am besten dokumentiert ist, dass Jungen besser im räumlichen Denken abschneiden und Mädchen besser im sprachlichen Bereich. Der Vorsprung ist allerdings jeweils eher gering. In der Mathematik, in den Naturwissenschaften und bei der allgemeinen Intelligenz sind sie im Schnitt gleichauf. In den Medien werden Geschlechterunterschiede oft überbetont. Eine Studie, die zu dem Schluss kommt, dass Männer und Frauen verschieden sind, ist einfach interessanter. Dabei sind die Unterschiede innerhalb eines Geschlechts deutlich größer als die zwischen den Geschlechtern. Ein spannendes Phänomen gibt es jedoch: Männer bewegen sich häufiger an den Rändern der Verteilung. Sie haben öfter sehr hohe, aber auch öfter sehr niedrige Werte, etwa in Mathematik.

Ist das ein Grund, warum männliche Genies, zum Beispiel in Film und Fernsehen, präsenter sind?

Wohl kaum. Männer sind in prominenten Positionen einfach deutlich überrepräsentiert. Zusammen mit Lena Keller von der FU Berlin und Martin Brunner von der Uni Potsdam haben wir uns einmal die Spitzenleistenden in Mathematik in den Pisa-Daten angeschaut. Hier liegt das Geschlechterverhältnis innerhalb der Top fünf Prozent in 82 Ländern bei etwa 1 zu 1,5 zu Gunsten der Jungen. Das heißt, von zehn Jugendlichen, die besonders gut in Mathe abschneiden, sind vier Mädchen und sechs Jungen. Schon in den MINT-Studienfächern klafft die Lücke zwischen der Anzahl an männlichen und weiblichen Studenten jedoch deutlich weiter auseinander. Tatsächlich findet man in Physik, Chemie, Ingenieurwesen und Informatik auch recht viele durchschnittlich begabte Männer. Dazu ist gerade auch eine Studie in der Fachzeitschrift »Science« erschienen.

Woran liegt das? Trauen sich Männer mehr zu?

Wichtige Gründe sind sicherlich kulturell kommunizierte Rollenbilder und auch die faktische Verteilung von Positionen zwischen den Geschlechtern. Für die Pisa-Daten fanden wir beispielsweise in Ländern, in denen mehr Frauen Führungspositionen bekleiden oder an der Uni studieren, mehr Mädchen unter den Top fünf Prozent in Mathe. Studien zeigen zudem, dass Männer und Frauen im Schnitt etwas andere berufliche Interessen oder Werte haben. Männer begeistern sich eher für Dinge, Technik, für Abstraktes; Frauen finden tendenziell Lebendiges, also Tiere, Menschen, Pflanzen reizvoller. Wenn Männer in die Wissenschaft gehen, wählen sie häufiger Fächer wie Chemie und Physik, Frauen gehen eher in die Medizin, Psychologie oder Biologie.

Welche Rolle spielen genetische Unterschiede für das Ungleichgewicht der Geschlechter an der akademischen Spitze?

Eine untergeordnete. Dagegen spricht zum Beispiel folgender Befund: Das Geschlechterverhältnis im intellektuellen Höchstleistungsbereich verändert sich. In den vergangenen Jahrzehnten gab es viel mehr mathematisch hochbegabte Jungen als Mädchen: Das Verhältnis lag etwa bei 19 zu 1. Jetzt sind wir bei etwa 1,5 zu 1 angekommen. Das kann nur die Folge eines gesellschaftlichen Wandels sein. Wären Männer auf Grund ihrer Gene im Bereich mathematischer Spitzenleistungen überrepräsentiert, hätten sich die Zahlen nicht so schnell angeglichen. Evolutionäre Veränderungen dauern viel länger.

Wie stark unterscheiden sich Hochbegabte in ihrer Leistung?

Innerhalb der Gruppe der Hochbegabten existiert eine große Bandbreite. Das wird sehr deutlich, wenn man sich die Verteilung der Intelligenz ansieht. Der IQ der meisten Menschen liegt im Durchschnittsbereich zwischen 85 und 115 Punkten, das umfasst also eine Bandbreite von 30 Punkten. Sieht man sich aber den Bereich ab einem IQ von 130 an, sind dort Unterschiede von 45 Punkten und mehr möglich. Es gibt Menschen mit einem IQ von mehr als 175. Das trifft vielleicht auf eine Person unter gut drei Millionen zu. Entsprechend gib es auch keine eigens konstruierten Intelligenztests für diesen Spitzenbereich, das würde sich nicht lohnen. Um eine entsprechende Intelligenz festzustellen, legt man den Betreffenden deshalb meist im Kindes- und Jugendalter Fragen vor, die eigentlich für Ältere gedacht sind – zum Beispiel für Studierende. Und Intelligenz ist ja nur ein Aspekt von Hochbegabung.

»Eine entscheidende Zutat für Spitzenleistungen in allen Domänen ist etwas, was wir ›teachability‹ nennen: die Fähigkeit, Feedback zu nutzen und aus Fehlern zu lernen«

Sollte man eine Hochbegabung also möglichst früh feststellen?

Das ist so eine Sache. Eines der größten Missverständnisse ist, dass man als Hochbegabter geboren wird und dann so bleibt. Frühe Tests können nützlich sein, doch sie sind nur eine Momentaufnahme. Unsere Fähigkeiten sind stets im Wandel und entwickeln sich weiter, wenn wir sie nutzen. Mit jedem zusätzlichen Jahr Schulbildung steigt zum Beispiel die Intelligenz um ein bis fünf Punkte. Man kann also sagen: Bildung macht schlau.

Gilt das auch für andere Bereiche wie Sport und Musik?

Absolut. Eine entscheidende Zutat für Spitzenleistungen in allen Domänen ist etwas, was wir »teachability« nennen: die Fähigkeit, Feedback zu nutzen und aus Fehlern zu lernen. Das braucht man sowohl beim Lösen von Gleichungen als auch beim Stabhochsprung.

Wie fördert man Hochbegabte optimal?

Ein Potenzial, etwa eine hohe Intelligenz, muss sich entwickeln können. Sonst verkümmert es womöglich. Dauerhafte Unterforderung wirkt sich nicht nur negativ auf die Fähigkeiten einer Person aus, sondern ebenso auf deren Motivation und Leistungsbereitschaft. Kinder brauchen beispielsweise Unterstützung dabei, herauszufinden, was zu ihnen passt, was sie mögen und gut können. Förderung besteht daher anfangs darin, Gelegenheiten zu schaffen und die Betreffenden dazu zu ermutigen, vieles auszuprobieren. Hat man seinen Bereich gefunden, ist es wichtig, Lernfortschritte machen zu können. Man braucht gute Lehrer, die an einen glauben und einem viel beibringen können. Mitunter kann es sinnvoll sein, die Betreffenden Klassen überspringen zu lassen oder Jugendlichen schon ein Studium zu ermöglichen. Ich finde aber nicht, dass Hochbegabte hier eine Sonderstellung haben – denn jeder hat ein Anrecht darauf, die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Das gilt unabhängig vom Begabungsniveau. Gute Förderung setzt also voraus, dass eine Gesellschaft entspannt mit solchen Unterschieden umgehen kann.

Intelligenz – ein umstrittenes Konzept

Der Begriff Intelligenz kommt vom lateinischen Verb »intellegere«, was so viel bedeutet wie »verstehen« oder »begreifen«. Doch obwohl er in der Alltagssprache fest verankert ist, sind sich Psychologen bis heute nicht einig, was Intelligenz eigentlich genau ausmacht.

Einer der Ersten, der sich an die Vermessung der Verstandeskraft machte, war der Franzose Alfred Binet (1857-1911). Er bekam 1905 von der Regierung den Auftrag, minderbegabte Schüler zu identifizieren, die für eine Sonderschule in Frage kamen. Bis dahin hatte man erfolglos versucht, die geistigen Fähigkeiten anhand des Schädelumfangs zu bestimmen. Binet überlegte sich daraufhin 30 Aufgaben mit ansteigender Schwierigkeit, die Kinder jeweils erst ab einem bestimmten Alter lösen können sollten. Je mehr Aufgaben ein Schüler bewältigen konnte, desto höher war sein »Intelligenzalter«. Der deutsche Psychologe William Stern (1871-1938) schlug 1912 schließlich ein neues Maß für die geistige Leistungsfähigkeit vor, bei dem das Intelligenzalter durch das Lebensalter geteilt wurde, und nannte es »Intelligenzquotient«.

Der moderne Intelligenzquotient (IQ) hat mit diesem Verfahren inzwischen nur noch den Namen gemein. Heute gibt der IQ an, wie gut eine Person im Vergleich zu Gleichaltrigen abschneidet. Gemessen wird er mit psychologischen Tests wie dem Hamburg-Wechsler-Intelligenztest (HAWIE). Mit Hilfe verschiedener Aufgaben erfasst dieser das logische Denken, die Denkgeschwindigkeit, die Merkfähigkeit sowie das Sprachverständnis. Dabei bekommen die Teilnehmer etwa Matrizen präsentiert, die aus mehreren Kästchen mit abstrakten Formen bestehen. Die Aufgabe ist es, logische Zusammenhänge zwischen ihnen zu erkennen und so das Muster im fehlenden Kästchen korrekt zu ergänzen oder eine Reihe von Figuren sinnvoll fortzusetzen. Bei anderen Aufgaben gilt es, möglichst schnell ein bestimmtes Symbol unter vielen durchzustreichen, Zahlen nachzusprechen oder beim Benennen von Objekten seinen Wortschatz unter Beweis zu stellen.

Die meisten Menschen schneiden in den verschiedenen Disziplinen ähnlich gut ab: Kaum jemand schlägt sich im Gedächtnisteil überragend und ist im Matrizentest grottenschlecht. Hinter dieser Gemeinsamkeit vermuten Experten eine Art Grundzutat der Intelligenz: den »g-Faktor«, auch Generalfaktor oder allgemeine Intelligenz genannt. Nichts sagt den Erfolg in Schule und Beruf besser vorher als er. Allerdings stellt er nur einen groben Richtwert dar. Für ein differenzierteres Fähigkeitsprofil ist eine Reihe spezifischer Tests oder der Einsatz so genannter Intelligenzstrukturtests nötig.

Die Intelligenz eines Menschen wird zwar auch von seinen Genen bestimmt, doch nur in einer anregenden Umgebung kann eine Person ihr geistiges Potenzial vollständig entfalten. Neurobiologische Studien zeigen zudem, dass das Gehirn intelligenter Menschen effizienter arbeitet.

Kritiker bemängeln, dass das Konzept der Intelligenz zu eng gefasst ist. Viele von ihnen wünschen sich, dass die soziale und emotionale Begabung eines Menschen stärker berücksichtigt wird. Ein weiteres Manko: Die meisten Intelligenztests setzen – selbst wenn die Entwickler es vermeiden wollten – bestimmtes Wissen voraus. Menschen aus anderen Kulturen, die beispielsweise weniger in Schriftsprache verkehren, schneiden deshalb automatisch schlechter ab.

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