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Wildtierschutz: Leben hinter drahtlosen Zäunen

Je seltener Wildtiere dem Menschen und seinen Haustieren über den Weg laufen, desto besser ist es - für alle Beteiligten. Unsichtbare Zäune sollen sie jetzt voneinander trennen.
Löwe in der Savanne

Andrew Steins Neugier war geweckt: Schon seit Stunden sammelte der alte Mann Holz. Was hatte er damit vor? Der amerikanische Biologe, zu Besuch im Dorf Jungwe, im Okavango-Delta des nördlichen Botswanas, beschloss nachzufragen.

»Ich fragte also den Mann, ob er Feuerholz für eine Zeremonie benötige. Doch er sagte ›Nein, ich bereite mich auf den Besuch von Nduraghumbo vor‹«, erinnert sich Stein. Nduraghumbo, auf Deutsch »Oberhaupt der Siedlung«, das war kein geschätzter Gast, nicht mal ein Mensch, sondern ein besonders umtriebiger Löwe in der Region. Den Namen in der lokalen Sprache Mbukushu hatte sich Stein ausgedacht. Dass der Mann nicht mehr wie früher zu Waffen und Gift griff, um seine Rinder zu schützen, zeigte Stein: Seine Bemühungen trugen Früchte. Er, der den Löwen Namen gibt und von ihren Schicksalen berichtet, hatte die Menschen vielleicht zum Umdenken bewegt.

20 000 Quadratkilometer misst das Okavango-Delta. Das Feuchtgebiet beherbergt mehr als 500 Vogelarten, die größte Elefantenpopulation Afrikas und einige der am stärksten gefährdeten Säugetiere der Welt. Mensch und Tier leben hier in unmittelbarer Nachbarschaft, mit all den damit verbundenen Problemen.

Stein ist Gründer der Naturschutzorganisation CLAWS Conservancy. Die Gruppe versucht, neue Wege zu finden, um bedrohte Raubtiere vor dem Aussterben zu bewahren. Besonders Löwen, Wölfe und Leoparden stehen im Fokus der Wissenschaftler. Das Löwenprojekt der Gruppe in Botswana trägt den Namen Pride in Our Prides (»Stolz auf unsere Rudel«) und begann 2014. Ein Jahr zuvor kamen im Delta beinahe zwei Drittel aller Löwen ums Leben, nachdem die Menschen eine massive Vergiftungskampagne gestartet hatten, um ihre Rinder vor den Raubtieren zu schützen.

Wie trennt man Löwen und Rinder voneinander?

Im und um das Okavango-Delta leben rund 100 000 Menschen von Subsistenzwirtschaft, also Landwirtschaft für die Selbstversorgung. Viehhaltung hat dabei eine große Tradition, und deswegen grasen schätzungsweise 45 000 Rinder in den Auen des Weltnaturerbes – und das oft mit wenig Kontrolle. Diesem massiven Einmarsch von Mensch und Vieh stehen inzwischen nur noch rund 1200 Löwen gegenüber. »Die Rinder sind tagsüber ohne Aufsicht, sie fressen das Gras um die Dörfer und wandern anschließend in das Gebiet der Löwen, auf der Suche nach mehr«, so Stein.

Für CLAWS Conservancy ist es also von entscheidender Bedeutung, Löwen von Mensch und Rind fernzuhalten. Dabei spielen virtuelle Zäune, auf Englisch Geofencing, eine wichtige Rolle. Beim Geofencing wird kein physischer Zaun errichtet, sondern es werden Areale anhand ihrer GPS-Koordinaten festgelegt. Zwischen den Arealen zieht man unsichtbare Linien, zum Beispiel an der Grenze eines Naturschutzgebiets zu Farmland. Anschließend werden Tiergruppen, die diese Linie nicht überqueren sollen, mit GPS-Sendern ausgestattet. Sobald ein Tier einen Fuß oder eine Pfote über die Grenze setzt, übermittelt ein integrierter Sender per SMS-Nachricht eine Warnung, die dem Empfänger Zeit gibt zu reagieren.

Auch im Okavango-Delta nutzt man diese Technik. So ist Nduraghumbo einer von sieben Löwen, denen Stein und Kollegen Halsbänder mit GPS-Sendern angelegt haben. Diese Löwen repräsentieren zwei Koalitionen und vier Rudel, geben den Forschern also Aufschluss über die Bewegungen von insgesamt sechs lokalen Löwengruppen. »Die GPS-Satelliten übermitteln uns alle zwei Stunden die Position der Löwen. Dadurch können wir ihre Bewegung feststellen«, erklärt Stein.

Auch Kühe überschreiten Grenzen | In Botswana grast das Vieh meist ohne Aufsicht – oft wandert es dabei auch in Naturschutzgebiete oder Löwenreviere.

Außerdem seien auch die Leittiere der Rinderherden mit solchen GPS-Sendern ausgestattet. Nähern sich Löwen dann den Dörfern oder Rindern, werden Warnungen per SMS verschickt. »Wenn ich eine solche Nachricht erhalte, starte ich eine Telefonkette und informiere Häuptlinge und Stammesälteste, die dann wiederum ihre Dörfer warnen«, erklärt der Forscher. Derzeit arbeitet das Informatik-Institut der Universität Siegen daran, dieses Warnsystem noch effizienter zu machen. »Das neue System soll bis Ende dieses Jahres die Arbeit aufnehmen«, sagt Stein. Die neuesten Umfragen von CLAWS belegen bereits, dass die Toleranz für die Löwen gestiegen ist und die meisten Menschen sogar deren Namen kannten. Seit Beginn des Projektes wurde kein einziger Löwe mehr vergiftet.

Windfarm macht Pause für den Kondor

Die noch relativ neue Idee des Geofencing findet im Tierschutz mehr und mehr Anhänger. Immer öfter sind die unsichtbaren Zäune das Mittel der Wahl, um die Bewegung von Tieren in geregelte Bahnen zu lenken. Anders als konventionelle Zäune müssen sie nicht aufwändig gebaut und unterhalten werden. Außerdem können sie einfach verlagert werden, falls sich die Situation ändert, zum Beispiel dann, wenn die Tiere auf Grund des Wetters oder des Pflanzenwuchses ihre Bewegungen variieren.

In Mexiko und den USA wird Geofencing derzeit erprobt, um tödliche Kollisionen von Zugvögeln mit Windturbinen zu verhindern. Dabei geht es zunächst um den bedrohten Kalifornischen Kondor. Nähert sich ein mit einem Sender ausgestatteter Kondor einer Windfarm, können die Turbinen automatisch ausgeschaltet werden. Das im mexikanischen Bundesstaat Baja California angelaufene Programm soll bald auf andere Zugvögel ausgeweitet werden. In mehreren Staaten des südlichen Afrikas etabliert die Firma Vulcan des amerikanischen Milliardärs und Microsoft-Mitgründers Paul Allen derzeit das Hightech-Wildschutzsystem DAS. Obwohl hier zahlreiche Technologien von Drohnen über Lasersensoren bis Videoüberwachung zusammenkommen, ist dennoch Geofencing wiederum das Kernstück. Die Position von gefährdeten Tieren wird mit den Geotags überwacht. Erreichen sie eine Linie, die als Beginn eines gefährlichen Gebiet gemeldet wurde, zum Beispiel weil die Videoüberwachung Wilderer entdeckt hat, werden Gegenmaßnahmen eingeleitet.

Geofencing allein bewegt noch kein Tier zur Umkehr

Ein Nachteil des Geofencings ist jedoch, dass die bloße Existenz dieser unsichtbaren Linien die Tiere allein noch nicht zum Umkehren bewegt. Nicht umsonst sammelte der alte Mann in Jungwe das Holz: Wenn Nduraghumbo kommt, so der Plan, würde er ihn mit einem ordentlichen Feuer in die Flucht schlagen. Auch muss er seine Rinder über Nacht einpferchen, damit sie nicht gerissen werden.

Grenzen, die Tiere von sich aus respektieren

Um solche Maßnahmen überflüssig zu machen, richten Forscher ihr Augenmerk auf so genannte Biogrenzen. Ein Verfahren, das noch in den Anfängen steckt, dem jedoch großes Potenzial nachgesagt wird. Diese Grenzen sind ebenfalls unsichtbar. Doch ihre bloße Existenz wäre in der Tat genug, um die Tiere aufzuhalten. Und auch hier wird Pionierarbeit in Botswana geleistet.

Der Biologe Tico McNutt erforscht seit den frühen 1990er Jahren Afrikanische Wildhunde im östlichen Okavango Botswanas. Die hochgradig gefährdeten Tiere durchstreiften einst die Savannen von 39 afrikanischen Ländern. Ihre Reviere konnten zwischen 500 und 1000 Quadratkilometer umfassen. Inzwischen sind weniger als 6000 von ihnen übrig, die noch in 14 Staaten zu finden sind.

Der Wildhund ist ein effizienter Jäger, seine Erfolgsquote liegt bei rund 80 Prozent. Das machte ihn über Jahrzehnte bei den Viehhaltern des Kontinents verhasst. Die Tiere wurden erschossen, vergiftet oder starben qualvoll in Fallen. Außerdem sind die Rudel wegen ihrer engmaschigen sozialen Strukturen anfällig für Tollwut, die von den Siedlungen der Menschen ausgeht, besonders von den Hunden der Einwohner. Hochrechnungen gehen davon aus, dass diese Art in den nächsten 50 Jahren aussterben wird.

McNutts Idee für eine Biogrenze begann mit einer Tragödie. Als der Amerikaner 1996 von einer Reise zurückkehrte, musste er entdecken, dass fünf der zehn Wildhunderudel, die er erforschte, an einer Tollwutepidemie verendet waren. Doch der Tod dieser Rudel könnte ihren Artgenossen eine Überlebenschance bieten. Denn McNutts Beobachtungen zeigten etwas Verblüffendes: »Die verbliebenen Rudel streiften weiter in ihren alten Revieren und respektierten die Grenzen der verstorbenen Rudel.« Es sollte rund ein halbes Jahr dauern, ehe die Hunde sich in diese Territorien wagten. »Da kam mir die Idee, dass während dieser Zeit immer noch etwas da gewesen sein musste, das diese Grenzen markiert«, so McNutt.

Afrikanische Wildhunde sind extrem bedroht | Können künstliche Duftmarken ihr Überleben sichern?

Inzwischen weiß McNutt, dass den Hunden chemische Signale allein ausreichen, um Reviere zu markieren und zu respektieren – auch, wie seine Beobachtungen zeigen, während temporärer oder permanenter Abwesenheit. Wenn die Wildhunde ihre Reviermarkierungen setzen, mischen sie den Urin mit Absonderungen von Drüsen entlang ihres Harntrakts. Selbst die Markierungen vom selben Hund unterscheiden sich in ihrer chemischen Zusammensetzung, abhängig von Ort, Zeit und Situation.

»Wildhunde gründen ihr eigenes Revier und ihr Streifverhalten darauf, ermitteln zu können, wo ihre Nachbarn leben«, erläutert McNutt. Sobald also die chemischen Markierungen eines benachbarten Rudels verblassten, würden sie von ihrem Bedürfnis, die Territorien der Umgebung zu erkunden, in das Gebiet hineingelockt. »Wenn das alte Rudel zum Beispiel von einem Viehhalter getötet wurde, begeben sie sich in die gleiche Gefahr«, so McNutt. Die Folgerung ist naheliegend: »Wenn wir also künstliche Reviermarker herstellen können, die ihnen sagen, dass dort Wildhundnachbarn leben, können wir sie motivieren, nicht in gefährliche Gebiete zu streifen.«

Kostenintensive Analyse des Wildhunddufts

Doch die Chemie erweist sich als komplex. Selbst der Bau eines Labors für Wildtierchemie in Maun, direkt im Okavango-Delta, unter der Leitung des erfahrenen Zoologen Peter Apps, hat noch nicht zu synthetisierten Wildhundmarkierungen geführt. »Reviermarker von Säugetieren sind eine der größten Herausforderungen für einen analytischen Chemiker«, sagt Apps, der mehr als 30 Jahre Erfahrung auf dem Gebiet hat. »Solche Absonderungen haben mehrere hundert Komponenten, wobei manche von ihnen nur mit einem Milliardstelgramm vertreten sein können.« Jede dieser Komponenten muss in Massenspektrometriedatenbanken identifiziert werden, manche sind selbst dort schlicht unbekannt. Die weitere Analyse jedes Inhaltsstoffes kann Tausende von Dollar kosten – bei einer Gesamtzahl von mehreren hundert können die Mittel schnell knapp werden.

Dennoch könnte ihre Entschlüsselung enormen Nutzen haben. »Wir haben gerade erst entdeckt, dass andere Raubtiere ihre eigenen Marker über die der Wildhunde setzen. Dies ist wahrscheinlich also sogar eine speziesübergreifende Kommunikation, die das Zusammenleben verschiedener Raubtiere im selben Habitat reguliert«, so Apps. Er und McNutt sind davon überzeugt, dass Biogrenzen so einmal die vielleicht effektivste Methode zur Entschärfung des Konflikts zwischen Mensch und Wildtieren werden können.

Als Andrew Stein in Botswana von den Fortschritten seines Nachbarn McNutt hörte, entschloss auch er sich zur Forschung an den Biozäunen. Noch 2018 will er in den USA mit Tests an Wölfen beginnen. Dabei plant er, dem Problem der Chemie zunächst aus dem Weg zu gehen: »Wir werden einfach mit Reviermarkierungen anfangen, die wir von Wölfen in Gefangenschaft eingesammelt haben.«

In Montana, an den Grenzen des Yellowstone-Ökosystems, ist der Konflikt zwischen Wölfen und kommerziellen Rinderfarmen besonders groß. »Wir werden die eingesammelten Proben an den Rändern dieser Farmen versprühen«, sagt Stein. Danach geht es in die Analyse. Durch Bewegungsmelder ausgelöste Videoaufnahmen sollen prüfen, wie die Tiere auf die chemischen Signale reagieren. »Außerdem arbeiten wir mit den staatlichen Wolfsbiologen, die Halsbänder mit Satellitensendern an einigen Wölfen angebracht haben. Per Satellit können wir dann ermitteln, ob diese ihre Bewegungsmuster ändern, wenn sie unsere Markierungen entdecken.«

Sollte der Trick funktionieren, könnte er einen weiteren Tier-Mensch-Konflikt entschärfen helfen – zumindest übergangsweise. Denn auch Stein ist sich bewusst, dass die Versorgung mit Urin von gefangenen Wölfen begrenzt ist. So wartet auch er auf einen Durchbruch im Chemielabor in Botswana.

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