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Long Covid: Wie häufig ist Long Covid bei Impfdurchbrüchen?

Impfstoffe verringern das Risiko, an Covid-19 zu erkranken, und damit auch das von Long Covid. Aber nur manche Studien sehen einen Vorteil für Geimpfte, die trotzdem erkranken.
Junge Frau mit OP-Maske hängt müde am Schreibtisch

Normalerweise würden an den neurologischen Rehabilitationskliniken des Physiotherapeuten David Putrino jede Woche etwa 50 Menschen mit Erkrankungen wie chronischen Schmerzen, Parkinson und Sportverletzungen behandelt werden. Doch Long Covid hat alles verändert: Das Abilities Research Center des Mount Sinai Hospitals in New York City beispielsweise –, eine von drei Kliniken, die Putrino leitet – behandelt derzeit jede Woche 50 bis 100 Menschen, die mit Problemen wie extremer Müdigkeit, Atemnot, Konzentrationsschwierigkeiten oder einem der vielen anderen Symptome von Long Covid zu kämpfen haben – dem lang anhaltenden, kaum verstandenen Syndrom, das nach einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 auftreten kann. Putrino hat 1600 Patienten mit Long Covid, und weitere stehen auf der Warteliste.

In seinem Alltag beobachtet Putrino, dass selbst eine vollständige Impfung nicht unbedingt vor Long Covid schützt. Viele seiner Klienten waren infiziert, bevor die Impfstoffe auf den Markt kamen, und hatten ein Jahr oder länger mit den Symptomen zu kämpfen, bevor sie zu ihm überwiesen wurden. Aber er hat etwa ein Dutzend Menschen gesehen, die Long Covid durch »Durchbruchsinfektionen« erlitten – bei denen sich also geimpfte Menschen mit dem Coronavirus infizieren. »Es ist zwar deutlich seltener als bei ungeimpften Menschen, aber es gibt sie immer noch«, sagt er. Er geht davon aus, dass die Kliniken in den kommenden Monaten mit mehr solchen Fällen konfrontiert werden könnten.

Impfstoffe verringern das Risiko einer Long-Covid-Erkrankung, indem sie die Wahrscheinlichkeit verringern, sich überhaupt mit Covid-19 zu infizieren. Studien deuten jedoch auch darauf hin, dass die Impfung das Risiko einer Long-Covid-Erkrankung bei denjenigen, bei denen es zu einer Durchbruchinfektion kommt, maximal halbiert oder überhaupt nicht beeinflusst. Für die Forscher ist es wichtig zu verstehen, wie viele Geimpfte von Long Covid betroffen sind: Schließlich wurden die Corona-Maßnahmen in vielen Ländern gelockert. Zudem könnte dieses Wissen helfen zu verstehen, was die Ursachen für anhaltende Covid-19-Symptome sind, lange nachdem die akute Infektion abgeklungen ist.

Wie oft kommt Long Covid nach einer Impfung vor?

Gegenwärtig handeln Politiker im Blindflug, wenn es um Covid und Impfungen geht. Obwohl Impfstoffe schwere Erkrankungen und Todesfälle stark reduzieren, verhindern sie die Krankheit nicht immer, und Long Covid kann auch nach einer milden oder asymptomatischen Coronavirus-Infektion auftreten. In Ländern mit hohen Infektionsraten könnte es immer noch zu vielen Fällen von Long Covid kommen, selbst wenn die Impfquoten hoch sind. »Das ist schwer vorherzusagen«, sagt Nisreen Alwan, Epidemiologin an der University of Southampton, Großbritannien, die an Long Covid erkrankt ist. »Wir müssen noch herausfinden, wie viele Long-Covid-Fälle es gibt und wie lange die Impfung anhält.«

Es ist schwer zu sagen, wie hoch das Risiko ist, nach einer Impfung Long Covid zu bekommen. Viele Menschen mit leichten oder asymptomatischen Infektionen werden möglicherweise nicht auf Covid-19 getestet, sagt der Immunologe Petter Brodin vom Karolinska-Institut in Stockholm. »Eine Bewertung, wie viele Menschen nach der Impfung langfristige Symptome entwickeln, ist unglaublich schwierig«, sagt er. »Wir übersehen sicher viele Menschen.«

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Angesichts der ständig steigenden Impfquote sowie von Auffrischungsimpfungen und zunehmender Förderung entsprechender Forschung dürften weitere Daten hinzukommen. Long Covid ist nach wie vor ein schlecht definiertes Syndrom mit einem breiten Spektrum von Symptomen. Eine britische Studie schätzt, dass zwischen 7 Prozent und 18 Prozent der Personen, die an Covid-19 erkrankt waren, im weiteren Verlauf einige Symptome von Long Covid entwickelten, die mindestens fünf Wochen lang anhielten.

»Wenn man jung und gesund ist, ist der Tod durch Covid sehr unwahrscheinlich, schwere Behinderungen jedoch nicht«
David Putrino, Neurologe

Bei manchen Menschen sind die Symptome von Long Covid nur leicht ausgeprägt, bei anderen verändern sie das Leben. Fast ein Drittel der Menschen mit Long Covid in Putrinos Klinik haben schwere kognitive Schwierigkeiten, die ihre Konzentrations-, Sprach- und Erinnerungsfähigkeit beeinträchtigen können und die vor ihrer Erkrankung nicht vorhanden waren. Etwa 60 Prozent von Putrinos Patienten mussten aufgrund ihrer Krankheit den Arbeitsplatz wechseln oder ihre Arbeit aufgeben. »Wenn man jung und gesund ist, ist der Tod durch Covid sehr unwahrscheinlich«, sagt Putrino. »Schwere Behinderungen jedoch nicht.«

Die Ursache von Long Covid – auch bekannt als post-akute Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion – ist ebenso unklar wie die Definition. Eine Möglichkeit ist, dass ein Reservoir des Coronavirus nach der akuten Infektion in verschiedenen Organen wie dem Darm, der Leber oder dem Gehirn verbleibt und weiterhin Schäden verursacht. Eine andere Möglichkeit ist, dass die durch die Erstinfektion ausgelöste breite Immunreaktion Antikörper und andere immunologische Reaktionen gegen körpereigenes Gewebe hervorrufen kann. Dies könnte auch nach Abklingen der Infektion zu Komplikationen führen.

Long Covid verursacht schwere kognitive Probleme

Eine Impfung könnte die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios verringern. Wenn ein Impfstoff hohe Mengen an Antikörpern und T-Zellen hervorruft, die in der Lage sind, SARS-CoV-2 zu erkennen, könnte das Immunsystem das Virus während seiner ersten paar Replikationen stoppen, bevor es versteckte Reservoire im Körper anlegen kann, sagt Akiko Iwasaki, Immunologin an der Yale University in New Haven, Connecticut. Außerdem hilft die Impfung dem Körper, eine gezieltere Immunreaktion auf ein Coronavirus zu entwickeln. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit verringert, dass unspezifische Immunreaktionen normales Gewebe angreifen. »Das Immunsystem ist bereits in die richtige Richtung gelenkt«, sagt Brodin.

Allerdings deuten erste Praxiserfahrungen und auch einige Daten darauf hin, dass dieser Schutz gegen Long Covid bestenfalls partiell ist. Es ist schwierig zu erheben, wie häufig Long Covid bei Durchbruchsinfektionen vorkommt. Eine Facebook-Umfrage unter etwa 1950 vollständig geimpften Personen ergab 44 Durchbruchsfälle, von denen 24 über Long Covid-Symptome berichteten. Die Umfrage wurde von der Gruppe Survivor Corps durchgeführt, die sich für die Belange von Langzeit-Covid-Patienten einsetzt. Die Ergebnisse sind in einem Preprint veröffentlicht worden. Da es sich bei der Umfrage jedoch nicht um eine Zufallsstichprobe handelte, können die Ergebnisse nicht zur Schätzung der Häufigkeit von Long Covid nach der Impfung herangezogen werden – sie zeigen lediglich, dass es solche Fälle gibt.

Eine andere Studie in Israel, an der rund 1500 geimpfte Beschäftigte des Gesundheitswesens teilnahmen, ergab, dass sieben (19 Prozent) der 39 Durchbruchsinfektionen zu Symptomen führten, die länger als sechs Wochen andauerten. Die Zahl der untersuchten Infektionen ist jedoch zu gering, um Schlussfolgerungen über das absolute Risiko zu ziehen.

Schwierige Datenerhebung über Long Covid nach Impfdurchbrüchen

In einer der bisher größten Studien wurden Daten von 1,2 Millionen Menschen gesammelt, die mindestens eine Dosis eines Covid-19-Impfstoffs erhalten und ihre Erfahrungen in der Covid Symptom Study App aufgezeichnet hatten, die von dem Londoner Datenforschungsunternehmen ZOE und dem King's College London entwickelt wurde. Das Team fand heraus, dass eine vollständige Impfung mit zwei Dosen das Risiko einer Long Covid-Erkrankung – definiert durch anhaltende Symptome für mindestens 28 Tage nach der Infektion – bei denjenigen, die eine Durchbruchsinfektion hatten, um etwa die Hälfte reduzierte. Allerdings waren in der Studie unverhältnismäßig viele Frauen und weniger Menschen aus einkommensschwachen Gebieten vertreten.

Dennoch ist die Botschaft klar, sagt Claire Steves, eine Geriaterin am King's College London und Hauptautorin der Studie. Durch die Impfung werden die Infektionsraten und die Schwere der Symptome erheblich gesenkt, selbst bei nachlassender Immunität und dem Auftreten der infektiöseren Delta-Variante. Eine Studie an US-Veteranen ergab, dass die Covid-19-Impfstoffe für diese Gruppe einen Schutz von etwa 50 Prozent gegen Coronavirus-Infektionen bieten, selbst während des Delta-Schubs.

Steves und ihre Kollegen fanden heraus, dass die Impfung das Risiko einer langwierigen Covid-Infektion bei Impfdurchbrüchen noch einmal um die Hälfte verringert: Etwa 11 Prozent in der nicht geimpften Gruppe hatten mindestens 28 Tage lang anhaltende Symptome, verglichen mit etwa 5 Prozent in der geimpften Gruppe. Dennoch sei die Zahl der Menschen, die aufgrund von Durchbruchsinfektionen Long Covid entwickelten, beträchtlich, sagt sie. »Es gibt sie immer noch – wir müssen uns dessen bewusst sein.«

Impfung schützt nur bedingt vor Long Covid

Eine andere große Studie – die noch nicht von Fachkollegen geprüft wurde – deutet darauf hin, dass die Situation noch schlimmer sein könnte: Eine retrospektive Analyse der elektronischen Gesundheitsakten von etwa 10 000 Personen mit Durchbruchsinfektionen ergab, dass die Impfung nicht vor anderen Erkrankungen schützt, die mit Long Covid-Erkrankungen in Verbindung gebracht werden. Diese Gruppe wurde mit einer Kontrollgruppe von Personen mit bestätigten SARS-CoV-2-Infektionen verglichen, die nicht gegen Covid-19 geimpft worden waren, aber eine Grippeimpfung erhalten hatten.

Die Unterschiede ziwschen den Studien könnten an deren unterschiedlichen Konzeptionen liegen, sagt Maxime Taquet, Psychiater und Forscher an der Universität Oxford, UK, der Erstautor der Analyse der Gesundheitsdaten ist. So versuchte Taquet in seiner Studie, mögliche Unterschiede zwischen denjenigen, die den Covid-19-Impfstoff erhalten haben, und denjenigen, die nicht geimpft wurden, zu finden. Da sich seine Studie jedoch auf Krankenakten stützt, enthält sie möglicherweise keine Daten von Personen mit leichteren Symptomen, die üblicherweise nicht zum Arzt gehen.

»Ich hatte ehrlich gesagt gedacht, dass der Impfstoff viel umfassender vor Long Covid schützen würde«
Akiko Iwasaki, Immunologin

Insgesamt fand Iwasaki die Ergebnisse dieser Studien enttäuschend. »Ich hatte ehrlich gesagt gedacht, dass der Impfstoff viel umfassender vor Long Covid schützen würde«, sagt sie. Iwasaki vermutet, dass die ansteckendere Delta-Variante den Schutz der Impfstoffe gegen Long Covid geschwächt haben könnte. Wenn Menschen, die mit Delta infiziert sind, eine große Anzahl infektiöser Partikel ausatmen, könnte sich Delta deshalb leichter vermehren als andere Varianten – selbst bei vollständig geimpften Menschen, sagt Iwasaki. Diese höhere Dosis könnte die Chance erhöhen, dass das Virus ein Reservoir bildet oder eine überaktive Immunreaktion hervor ruft, was beides zu einer Long Covid führen könnte, meint sie.

Wenn die Impfprogramme weiterlaufen, werden die Forscher ein besseres Gefühl dafür bekommen, wie Impfstoffe und Varianten die Häufigkeit und den Schweregrad von Long Covid beeinflussen. Es ist auch möglich, dass die Impfung dazu beiträgt, Long Covid bei denjenigen zu reduzieren, die die Krankheit bereits haben. Im Oktober berichtete das britische Office for National Statistics, dass die erste Dosis eines Covid-19-Impfstoffs bei denjenigen, die die Krankheit bereits hatten, Long Covid-Symptome um 13 Prozent minderte. Die zweite Dosis führte zu einem weiteren Rückgang um 9 Prozent im Vergleich zur ersten Dosis.

Milde Fälle werden übersehen

In der Studie wurden die Teilnehmer nur etwa zwei Monate lang beobachtet, so dass unklar ist, wie lange die Wirkung anhält, sagt Iwasaki. Die Ergebnisse deckten sich jedoch weitgehend mit anderen Befunden, fügt sie hinzu. Eine von Survivor Corps durchgeführte Umfrage ergab, dass etwa 40 Prozent der Befragten mit Long Covid nach der Impfung über eine Besserung ihrer Symptome berichteten. Weitere 14 Prozent gaben jedoch an, dass sich ihre Symptome verschlimmerten.

Die US-amerikanischen Zentren für Seuchenkontrolle und -prävention erfassen keine milden Covid-19-Impfdurchbrüche und übersehen daher möglicherweise viele Fälle, die zu Long Covid führen. Im Dezember 2020 stellte der US-Kongress den NIH jedoch 1,15 Milliarden Dollar für vier Jahre zur Verfügung, um die langfristigen gesundheitlichen Folgen von Sars-CoV-2-Infektionen zu untersuchen; im Juni 2021 bewilligten die NIH die ersten Fördertöpfe für ein Forschungsprogramm mit der Bezeichnung RECOVER für Long Covid. Im Rahmen dieses Programms sollen Zehntausende von Menschen – sowohl solche mit und ohne Long Covid nach akuter Coronavirus-Infektion als auch solche, die nicht infiziert waren – erfasst und ihre Symptome beobachtet werden. Eines der Hauptziele ist es, mehr über die Pathologie von Long Covid zu erfahren und die Krankheit besser zu definieren.

»Eine große Herausforderung für jede Forschung in diesem Bereich ist, dass wir noch keine Definition dafür haben, was Long Covid ist«.
Stuart Katz, Kardiologe

Im Laufe der Studie sollte das RECOVER-Team auch Daten über die Häufigkeit von Long Covid bei Geimpften zur Verfügung haben. Zu den weiteren nützlichen Informationen gehören die Schwere, Dauer und Art der Symptome einer Person und, wenn möglich, die Coronavirus-Variante, die für ihre Krankheit verantwortlich ist, sagt der Kardiologe Stuart Katz von der New York University, einer der leitenden Forscher des Programms, der ebenfalls an Long Covid erkrankt ist. »Eine große Herausforderung für jede Forschung in diesem Bereich ist natürlich, dass wir noch keine Definition dafür haben, was Long Covid ist«.

RECOVER wird auch Daten über geimpfte Kinder und Jugendliche sammeln – eine wichtige Lücke in den derzeit veröffentlichten Studien. Diese wird leichter zu schließen sein, wenn nun die Impfstoffe für Kinder und Jugendliche in mehreren Länderneingeführt werden. Eine Studie mit mehr als 6700 Jugendlichen ergab, dass etwa 30 Prozent der positiv auf SARS-CoV-2 getesteten Personen drei Monate nach der Diagnose drei oder mehr Symptome aufwiesen, verglichen mit 16 Prozent der negativ getesteten Personen in einer Kontrollgruppe.

Ähnliche Long-Covid-Rate bei Kindern

Laut den Ergebnissen der Kontrollgruppe – ein Faktor, der in den meisten anderen Studien dieser Art in dieser Altersgruppe nicht berücksichtigt wurde – liegt die Long-Covid-Rate unter der von anderen Schätzungen für Jugendliche. Sie sei immer aber noch mit der bei Erwachsenen beobachteten Rate vergleichbar, sagt der Kinderarzt Terence Stephenson vom University College London. »Es ist nicht der Tsunami, den man sich vielleicht vorgestellt hat«, sagt er. »Aber es ist auch nicht trivial«.

Allerdings befürchtet Alwan, dass es schwierig werden wird, entsprechende Daten zu bekommen: Denn Länder mit einer hohen Durchimpfungsrate werden eventuell weniger testen, weil die Bedrohungslage dann abnimmt. Das heißt nicht nur, dass es schwierig wird, Daten über Long Covid bei Geimpften zu bekommen, sondern auch, dass diese Fälle weniger gut erkannt werden. Vor allem Long Covid nach einer milden oder asymptomatischen Infektion wird dann womöglich nicht entsprechend behandelt. »Es ist wichtig, diese Laborbestätigung für die Behandlung zu bekommen«, sagt sie.

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