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Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften: Mit Experimenten gegen Armut

Die schwedische Reichsbank verleiht den Preis für Wirtschaftswissenschaften im Gedenken an Alfred Nobel an Abhijit Banerjee, Esther Duflo und Michael Kremer für ihren »experimentellen Ansatz zur Linderung der globalen Armut«.
Schule in Kambodscha.

Fast auf der ganzen Welt hat sich der Lebensstandard in den vergangenen Jahrzehnten verbessert – dennoch leben immer noch über 700 Millionen Menschen in extremer Armut. Die Entwicklungsökonomie beschäftigt sich damit, welche Ursachen es für die unterschiedlichen Vermögensverteilungen gibt und wie man die Situation verbessern kann.

Diesen Forschungsbereich der Volkswirtschaftslehre haben die Laureaten Abhijit Banerjee, Esther Duflo, beide am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Michael Kremer von der Harvard University in den letzten 20 Jahren gemeinsam entscheidend geprägt. Mit Duflo wurde außerdem in der 50-jährigen Geschichte erst die zweite Frau gekürt.

Zudem sind die drei Ökonomen verhältnismäßig jung. Lag der Durchschnitt zuvor bei 67 Jahren, so liegt selbst der älteste der drei Preisträger mit 59 Jahren weit darunter. Um Armut und ihre Ursachen zu verstehen, untersuchten sie das Problem mit experimentellen Methoden und in kleinem Maßstab. Dieser Ansatz führte zu einer noch heute andauernden Flut an spannenden Forschungsergebnissen, deren empirisch gewonnene Erkenntnisse helfen, die weltweite Armut zu verringern.

Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 2019 | Von links nach rechts: Abhijit Banerjee, Esther Duflo und Michael Kremer.

Eines der größten Probleme in Schwellen- und Entwicklungsländern ist die mangelnde Schulbildung. Deshalb suchte Kremer Mitte der 1990er Jahre nach bezahlbaren Maßnahmen, welche die Leistung der Schüler anheben könnten. Doch anstatt sich in den USA theoretischen Modellen zu widmen, wählte er einen für Entwicklungsökonomen bis dahin wenig verbreiteten Ansatz: Er reiste mit einigen Kollegen in die ländlichen Gegenden von Kenia und führte zusammen mit dort ansässigen NGOs Feldstudien an verschiedenen Schulen durch.

Bildung ist keine Materialschlacht

Dazu wählten die Forscher eine große Anzahl an finanzschwachen Schulen aus und teilten sie zufällig in verschiedene Gruppen ein. Manche Gruppen von Schulen erhielten zusätzliche Sachgüter wie Lehrbücher oder Flipcharts, welche die Schüler beim Lernen unterstützen sollten. Andere bekamen dagegen kostenfreie Speiseangebote, da viele Kinder aus den ärmlichen Gegenden zu Hause nicht frühstücken und ihren Schultag hungrig verbringen. Da die Wissenschaftler die Schulen zufällig in die verschiedenen Gruppen einteilten und die Ergebnisse genau kontrollieren konnten, handelt es sich um »randomisierte kontrollierte Studien«. Diese ziehen Forscher vor allem in der Medizin heran, um eindeutige Fragestellungen zu beantworten und kausale Zusammenhänge zu belegen.

Als Kremer und seine Kollegen nach einigen Monaten die schulischen Ergebnisse der Kinder untersuchten, waren sie überrascht: Weder die kostenlos angebotenen Speisen noch die zusätzlichen Lehrmittel führten zu einer eindeutigen Verbesserung. Offenbar genügt es nicht, einfach nur mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen, sondern es sind tiefgreifendere Maßnahmen für eine bessere Bildung nötig.

Aus diesem Grund reiste die französische Ökonomin Esther Duflo im Jahr 2000 mit ihrem US-amerikanischen Kollegen und aktuellen Lebensgefährten Abhijit Banerjee sowie weiteren Forschern nach Indien. Dort wollten sie in Feldstudien nach anderen Methoden suchen, die zu besseren schulischen Leistungen führen. Zusammen mit einer großen NGO bauten sie in zwei verschiedenen Städten ein Nachhilfeprogramm auf, an dem leistungsschwache Schüler außerhalb des Unterrichts teilnehmen konnten. Dieses Mal waren die Forscher erfolgreich: Die Ergebnisse der Schüler verbesserten sich durch die Maßnahme drastisch.

Insgesamt deuten spätere empirische Studien darauf hin, dass die schlechte Schulbildung in Entwicklungsländern nicht auf mangelnde Ressourcen zurückgeht, sondern auf Unterricht und Lehrpläne, die nicht zu den Bedürfnissen der Schüler passen. Insbesondere stellten Ökonomen fest, dass viele Lehrer häufig fehlen und der Unterricht deshalb ausfällt.

Wie man Lehrer motiviert

Um die Motivation der Lehrer zu erhöhen, untersuchten Duflo, Kremer und ihre Kollegen in weiteren Fallstudien, wie sich befristete Arbeitsverträge – die nur bei positiven Ergebnissen verlängert werden – auf die Fehltage der Lehrer und die Lernerfolge der Schüler auswirken. In einem anderen Versuch verkleinerten die Forscher die Schulklassen, so dass die Lehrer weniger Schüler betreuten. Während der Unterricht mit weniger Kindern zu keiner merklichen Verbesserung führte, fielen die schulischen Leistungen der Schüler dagegen bei Lehrern mit befristeten Verträgen deutlich besser aus.

Die drei Laureaten widmeten sich neben der Schulbildung in Entwicklungsländern aber auch anderen Bereichen, etwa der Geschlechterrolle, dem Gesundheitssektor, der Mikrokreditvergabe sowie der Verhaltensökonomie und erzielten dabei weit reichende Ergebnisse.

So fand Duflo mit ihrem Team 2009 heraus, dass eine Frauenquote bei führenden politischen Ämtern in indischen Dörfern die Vorurteile gegenüber Politikerinnen senkt. Sie waren die Ersten, die in einer wirtschaftswissenschaftliche Studie einen aus der Sozialpsychologie stammenden »impliziten Assoziationstest« verwendeten. Ihre Arbeit beeinflusste maßgeblich die nachfolgenden Forschungen im Bereich der Genderpolitik.

Im Gesundheitssektor gingen die Forscher unter anderem der Frage nach, warum arme Familien in Entwicklungs- und Schwellenländern so wenig präventive Maßnahmen treffen, die kaum etwas kosten oder gar gratis sind. Sie fanden heraus, dass einer der Gründe der schlechte Service in diesem Bereich ist. Beispielsweise sind Mitarbeiter in Impfzentren häufig abwesend. Banerjee und Duflo haben in einigen Dörfern Kliniken eröffnet, in denen immer ein Mitarbeiter anzutreffen ist, und untersucht, wie sich das auf die Impfrate auswirkt.

Warum Linsen beim Impfen helfen

Tatsächlich verdreifachte sie sich in Dörfern mit diesem Angebot, sie stieg von 6 auf 18 Prozent. Eine weitere Steigerung auf 39 Prozent erreichten die Forscher, als sie zusätzliche Anreize schufen, etwa indem sie pro Impfung eine Packung Linsen verschenkten. Aktuell analysieren viele Wissenschaftler, wie man die Impfraten weiter steigern kann – schließlich bleiben in der Studie selbst im besten Fall 61 Prozent der Bevölkerung ungeimpft.

Allen Erwartungen widersprachen dagegen mehrere Studien von Banerjee, Duflo und ihren Kollegen an einem zuvor hoch gelobten Instrument: Sie untersuchten die Folgen der Mikrokredit-Vergaben in verschiedenen indischen Städten. Für diese Maßnahmen erhielten Muhammad Yunus und die Grameen Bank 2006 den Friedensnobelpreis. Doch wie Banerjee und Duflo zeigten, führt das Konzept weder nach 12 noch nach 18 Monaten zu deutlichen Verbesserungen im Konsumverhalten, der Gesundheit, Stärkung der Frauen oder Schulbildung. Ähnliche Untersuchungen anderer Forscher in weiteren Ländern bestätigten das Ergebnis.

Zudem widmeten sich Duflo, Kremer und ihre Kollegen der Frage, warum Kleinbauern in Entwicklungsländer nicht in vergleichsweise einfache Neuerungen wie Kunstdünger investieren, die zu wesentlich besseren Erträgen führen würden. Eine Erklärung dafür ist die Tendenz von Menschen, der Gegenwart so viel Bedeutung zuzuschreiben, dass man vor Investitionen zurückschreckt – und diese auf später verschiebt. Das konnten Duflo und Kremer 2011 empirisch belegen, indem sie Kleinbauern in Kenia zwei verschiedene Angebote vorlegten: Einerseits gab es einen kurzzeitigen Rabatt auf Kunstdünger, der rasch endete. Andererseits setzten sie einer weiteren Gruppe einen dauerhaften – aber deutlich höheren – Rabatt vor. Wie sich herausstellte, kauften die Kleinbauern, denen der begrenzte Rabatt vorgesetzt wurde, 50 Prozent mehr vom kurzzeitigen Angebot. Diese Analysen haben spätere Forschungen zur Verhaltensökonomie in Entwicklungsländern geprägt.

Lokal forschen, global denken

Die Feldstudien der drei Ökonomen spielten sich immer in recht kleinem Maßstab ab – zumindest wenn man sie mit globalen volkswirtschaftlichen Modellen vergleicht. Daher stellt sich die Frage, inwiefern sich ihre Ergebnisse verallgemeinern lassen. Dazu verfassten Banerjee, Duflo und Kremer mehrere Arbeiten, in denen sie neue Methoden etablierten, um verschiedene Nebeneffekte zu berücksichtigen, die in größeren Maßstäben auftauchen.

Insgesamt haben die Erkenntnisse der drei Forscher etliche politische Entscheidung weltweit beeinflusst. Auch wenn es schwer ist, die genauen Auswirkungen ihrer Arbeit zu bestimmen, so lässt sich festhalten, dass durch ihre Forschung inzwischen mehr als fünf Millionen indische Kinder Zugang zu Nachhilfeunterricht haben. Zudem schätzt das US-amerikanische Forschungszentrum »Abdul Latif Jameel Poverty Action Lab« (J-PAL), das Banerjee und Duflo mitbegründet haben, dass mehr als 400 Millionen Personen von Programmen profitieren, die durch mit J-PAL verbundene Forschungen begründet wurden.

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