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Osteopathie: Heilende Hände oder Hokuspokus?

Mit sanftem Druck Blockaden im Körper lösen? Nicht nur Eltern von Säuglingen mit Stillproblemen und Schreibabys schwören auf die Heilung durch die alternativmedizinische Osteopathie. Rund jeder vierte Deutsche war schon beim Osteopathen. Doch die wissenschaftliche Basis fehlt.
Ein Baby liegt auf einer Behandlunsgliege und wird von einem Osteopathen mit beiden Händen am Kopf angefasst
Laut osteopathischer Lehre werden bei einer osteopathischen Behandlung (energetische) Blockaden und Verspannungen der Knochen, Muskeln sowie Organe ertastet und anschließend gelöst.

Als Nicole Suljic mit ihrem Sohn das erste Mal einen Osteopathen aufsucht, haben die beiden bereits eine Odyssee hinter sich. Der Säugling schreit viel, hat Probleme beim Trinken und kaum Stuhlgang. Der Kinderarzt ist ratlos, wie auch die Gastroenterologen in der Spezialklinik. »Jeder vertröstete uns und sagte: Das wird schon. Aber es wurde eben nicht«, erinnert sich die Mutter an die Zeit nach der Geburt.

Nach einigen Wochen liegen bei den jungen Eltern die Nerven blank. Das Kind ist ihr erstes. Sie sind verzweifelt, können den Säugling kaum beruhigen. Und sie machen sich Sorgen, denn der Junge nimmt nur langsam zu, verliert zwischendurch gar wieder Gewicht. Die Hebamme schlägt schließlich vor, doch einmal beim Osteopathen vorbeizuschauen. Die junge Mutter ist skeptisch, lässt sich aber darauf ein. Schließlich berichteten auch andere Eltern, dass ihre Kinder schon nach einer osteopathischen Behandlung ruhiger wurden oder besser tranken. »Wir waren mit unserem Latein am Ende«, sagt Nicole Suljic. »Irgendwann haben wir gesagt: Wir versuchen das jetzt.« Da ist der Säugling drei Monate alt und schreit nach wie vor viele Stunden am Tag.

Der aufgesuchte Osteopath ist auf die Behandlung von Kleinkindern spezialisiert, die Praxis befindet sich ganz in der Nähe. Zu Beginn fragt er die Mutter, wie die Geburt verlaufen sei, wie es mit dem Stillen klappen würde, wie der Alltag mit dem Kind verlaufe. Dann untersucht er den Säugling, tastet mit den Händen vorsichtig am Bauch, massiert am Rücken, fährt sanft über den Kopf. »Das sah wie Handauflegen aus«, sagt Nicole Suljic, »ich konnte damit nicht viel anfangen.«

Die Skepsis kann Jörn Haupt nachvollziehen. Der Kinder- und Jugendarzt aus Friesoythe in Niedersachsen arbeitet mittlerweile auch osteopathisch und behandelt regelmäßig Säuglinge, »die viel schreien, die Bauchlage nicht tolerieren oder sich nicht an der Mittellinie ausrichten«, wie er sagt. Früher habe er selbst gedacht, das sei alles Quatsch. Aber es passiere viel unter den Fingern, sagt der Kinderarzt. Die Hände fühlten Spannungen im Gewebe, er könne spüren, wo etwas nicht rundläuft. Das sei kein theoretisches Konstrukt, sondern praktisch anwendbar. Davon ist er überzeugt. Und die Schar zufriedener Eltern gibt ihm anscheinend Recht. Etwa 10000 Osteopathen wie ihn gibt es in Deutschland. Das schreiben zumindest die Osteopathie-Verbände. Verlässliche Zahlen fehlen.

Immer mehr osteopathische Behandlungen

Die Nachfrage nach osteopathischen Behandlungen steigt seit Jahren stetig. Die Akademie für Osteopathie, ein Verein, dessen Mitglieder aus Osteopathinnen und Osteopathen aus Deutschland besteht, gibt an, dass sich bis zum Jahr 2013 etwa 5,6 Millionen Menschen osteopathisch behandeln ließen. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag des Verbands der Osteopathen Deutschland (VOD) waren im Jahr 2021 bereits 23 Prozent der Bundesbürger ab 14 Jahren schon einmal beim Osteopathen. Hochgerechnet von den knapp 2500 Befragten wären das rund 16 Millionen Menschen. Dabei waren vier von fünf der Befragten zufrieden mit der Behandlung.

Frischgebackene Eltern kommen häufig früh in Kontakt mit Osteopathen. 2021 waren laut VOD 11 Prozent der Osteopathie-Patientinnen und -Patienten jünger als zwei Jahre, in der Altersgruppe von 2 bis 19 Jahren waren es 15 Prozent. Mitunter empfehlen Hebammen und Pflegekräfte bereits im Kreißsaal, das Neugeborene behandeln zu lassen, etwa wenn die Geburt strapaziös – oder sehr schnell – war oder wenn das Kind per Kaiserschnitt entbunden wurde. All dies führe angeblich zu Blockaden, die es zu lösen gelte. Nicht selten werden Termine schon vor der Geburt vereinbart.

»Säuglinge werden pathologisiert, wir sehen eigentlich keine gesunden Kinder mehr«Jakob Maske, Kinder- und Jugendarzt

Eltern würden teils präventiv zum Osteopathen gehen, um das Neugeborene »durchchecken« zu lassen, sagt Jakob Maske, Kinder- und Jugendarzt aus Berlin sowie Bundespressesprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Er findet klare Worte: »Säuglinge werden pathologisiert, wir sehen eigentlich keine gesunden Kinder mehr.« Seit Jahren nehme der Druck auf die Eltern zu. »Dabei gehen wir als Mediziner doch erst einmal davon aus, dass mehr als 95 Prozent der Kinder gesund sind und der Rest vielleicht eine Therapie braucht, nicht umgekehrt.«

Jakob Maske ist überzeugt, dass die meisten angeblichen Probleme keine gravierenden seien und sich mit der Zeit sowieso lösen würden. Zudem seien viele auf Säuglinge spezialisierte Osteopathen einfach gute Ärzte. »Wenn ein Kind viel schreit oder sich bevorzugt auf eine Seite dreht, dann müssen wir uns natürlich darum kümmern«, sagt er. Vielfach reiche es aber, den Eltern zu erklären, wie sie das Baby am besten halten sollten oder dass sie es für eine gewisse Zeit nur von der weniger genutzten Seite bespaßen müssten.

Und noch etwas beobachtet Jakob Maske regelmäßig: »Gerade bei frischgebackenen Erstlingseltern behandeln wir manchmal eher die Eltern als die Kinder«, sagt er. Alles sei neu, die Unsicherheit riesig. Hat das Kind Schmerzen, wenn es schreit, oder doch nur Hunger? Manchmal helfe es schon, so der Kinderarzt, die Sorgen und Ängste der Eltern ernst zu nehmen, ihnen einfach nur zuzuhören.

»Dann schreit das Kind vielleicht nur zwei Wochen und nicht acht«Jörn Haupt, Kinderarzt und Osteopath

Osteopath Jörn Haupt stimmt zu. Während der Sitzung habe er deutlich mehr Zeit, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen, als er das in einer klassischen Kinderarztpraxis könnte. »Mit Sicherheit ist bei einigen Behandlungen ein gewisser Placeboeffekt dabei«, sagt er. Das sei aber nicht alles. »Mag sein, dass sich einige Dinge von allein erledigen würden«, sagt der Osteopath und nennt als Beispiel Dreimonatskoliken. »Aber wenn ich das Unwohlsein abkürzen kann, indem ich Blockaden löse, warum nicht? Dann schreit das Kind vielleicht nur zwei Wochen und nicht acht.« Er sei sich bewusst, dass er osteopathisch die Darmflora weder aufbauen noch verbessern könne. Aber er könne eventuell Spannungen im Gewebe lösen.

Darauf hoffte auch Nicole Suljic. »Wir haben nicht auf ein Wunder gewartet«, erinnert sie sich an den Besuch beim Osteopathen. Aber der Gedanke, nichts zu tun, sei schlimmer gewesen. Sie sagt: »Wir haben wenigstens versucht, dem Kind zu helfen.« Aber: Nach der ersten Behandlung ist alles wie zuvor. Ihr Sohn lässt sich noch immer kaum beruhigen. Ebenso nach der zweiten. Eine dritte gibt es nicht.

Wie behandeln Osteopathen?

Eine Sitzung beim Osteopathen dauert bis zu eine Stunde und beginnt in der Regel mit einem ausführlichen Gespräch. Sowohl die Diagnose als auch eine Behandlung erfolgen ausschließlich durch Abtasten, Erspüren und sanften Druck – Palpation genannt. Dadurch sollen laut osteopathischer Lehre (energetische) Blockaden und Verspannungen der Knochen, Muskeln sowie Organe ertastet und anschließend gelöst werden. Zudem sollen osteopathische Behandlungen die Selbstheilungskräfte des Patienten aktivieren.

Man unterscheidet drei Formen der Osteopathie:

  • Die parietale Osteopathie konzentriert sich auf Muskeln, Bindegewebe und das Skelett. Sie ist der manuellen Therapie am nächsten, die ausgebildete Physiotherapeuten durchführen.
  • Bei der viszeralen Osteopathie gehen die Behandelnden davon aus, dass innere Organe und umgebendes Gewebe in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind und durch »Verschieben« wieder mobilisiert werden müssen. Helfen soll diese osteopathische Anwendung beispielsweise bei Lungen-, Nieren- und Gebärmutterleiden. Für diese Annahme fehlt jedoch medizinische Evidenz.
  • Die kraniosakrale Osteopathie basiert auf der Annahme, dass Schwingungen im Körper – besonders im Gehirn und am Rückenmark – aus dem Takt geraten und wieder »harmonisiert« werden müssen. Eingesetzt wird diese Form etwa bei Kopfschmerzen, Migräne oder verspanntem Kiefer, je nach Anbieter aber auch bei Atemwegserkrankungen, Herz-Kreislauf-Beschwerden und Schlafstörungen. Beweise für die Existenz solcher Schwingungen fehlen.

Die Kosten für eine Stunde osteopathischer Behandlung liegen bei 75 bis 140 Euro, die viele Krankenkassen auf freiwilliger Basis zumindest zum Teil übernehmen.

Osteopathie basiert auf der Idee eines Arztes

Als Erfinder der Osteopathie gilt der US-amerikanische Arzt Andrew Taylor Still. Er war der Auffassung, blockierte Muskeln, Knochen und Sehnen brächten den Körper aus dem Gleichgewicht. Dadurch verliere der Körper seine Fähigkeit, sich selbst zu regulieren; denn jedes Organ müsse sich bewegen können. Seine Idee: Wenn er mit sanftem Druck diese Blockaden im Körper lösen könnte, würde sich das Gleichgewicht wieder einstellen und der Körper könne sich selbst heilen. Dieser manuellen Therapie gab Andrew Taylor Still 1885 den Namen Osteopathie, was übersetzt Knochenleiden bedeutet.

Trotz ihres Begriffs genießt die Osteopathie den Ruf, den Menschen ganzheitlich zu sehen; sie gilt als sanft, nicht invasiv. Dieses Sichabsetzen von der klassischen Medizin kann der Kinderarzt Jakob Maske nicht nachvollziehen: »Wir betrachten das Kind immer ganzheitlich«, sagt er. Dazu gehöre auch, nicht nur den Körper zu untersuchen, sondern die gesamte Familiensituation mitzudenken, etwa mögliche psychische Belastungen. »Das ist kein Alleinstellungsmerkmal der Osteopathie, das macht ein guter Mediziner jeden Tag.«

Die Osteopathielehre erreichte Deutschland in den 1980er Jahren. Seitdem wächst die Liste der Erkrankungen und Störungen, gegen die osteopathische Behandlungen helfen sollen. Der Berufsverband Deutscher Osteopathischer Ärztegesellschaften (BDOÄ) führt auf seiner Website mehr als 60 Indikationen auf, darunter Störungen des Bewegungsapparates, der inneren Organe oder des Nervensystems. Zahlreiche Anwendungen betreffen Schwangere, Frauen nach der Geburt – und vor allem Kinder und Babys: Unruhe des Säuglings, Schreien, Trink- und Saugprobleme, Blähungen, Bauchschmerzen, Haltungsasymmetrien, Atemwegserkrankungen, Abplattung des Hinterkopfes, Kopfschmerzen, Koordinationsstörungen, verzögerte Sprachentwicklung, Bettnässen. Gegen all diese und etliche weitere Störungen soll die Osteopathie helfen.

Besonders häufig wird von Osteopathen bei Säuglingen die Diagnose KiSS-Syndrom (kopfgelenkinduzierte Symmetriestörung) gestellt. Diejenigen, die überzeugt sind, dass es dieses Krankheitsbild gibt, sehen als Ursache hierfür eine Fehlstellung der ersten beiden Halswirbel, die die Wirbelsäule mit dem Kopf verbinden. Betroffene Kinder würden den Kopf oft schief halten oder verdreht im Bett liegen. Zudem würden sie vermehrt weinen (Schreibabys) sowie eine bestimmte Blickrichtung und demzufolge auch eine bestimmte Brust zum Trinken bevorzugen. Kritiker wiederum sagen, dass diese – falls es überhaupt so eine Fehlstellung gäbe – in den meisten Fällen auch ohne medizinischen Eingriff wieder verschwinden würde. Die Gesellschaft für Neuropädiatrie schreibt in einer Stellungnahme sogar: »Die Existenz der kopfgelenkinduzierten Symmetriestörung (KiSS) im Sinne eines definierten Krankheitsbildes … ist eine bisher unbewiesene Hypothese.« Die Vorstellung, dass es sich langfristig etwa auf die Lernfähigkeit und psychomotorische Entwicklung auswirkt, »führt zu einer unnötigen Verunsicherung der Eltern und Kinder selbst und ist abzulehnen«.

Qualitativ hochwertige Studien fehlen

Dafür, dass Osteopathie gegen die oben aufgeführten Beschwerden hilft, gibt es keinerlei Belege. Selbst der BDOÄ weist auf seiner Website – direkt unter den mannigfaltigen Anwendungsgebieten osteopathischer Behandlungen – darauf hin, dass es sich nicht um Heilsversprechen handele. Denn es fehlten Studien, »die in wissenschaftlicher Hinsicht die Wirkungsweise der osteopathischen Medizin bei den oben aufgeführten Krankheitsbildern nachweisen«.

Das Dilemma: Die meisten Studien weisen methodische Mängel auf. Etwa fehlen Vergleichsgruppen mit einer Scheinbehandlung – also einem Placebo – oder die Daten basieren auf subjektiven Eindrücken. Bei einer Studie aus dem Jahr 2021 beobachteten deutsche Forscherinnen und Forscher mehr als 1000 Säuglinge, die zum Beispiel wegen Asymmetrien, Schreien oder Schlafstörungen von ihren Eltern zu einem Osteopathen gebracht wurden. Die Eltern berichteten dann, ob sich der Zustand ihres Kindes unter der osteopathischen Behandlung besserte. Für alle fünf behandelten Störungen geschah offenbar genau das.

Jedoch: Vergleichsgruppen mit einer Scheinbehandlung fehlten, alle Kinder wurden osteopathisch behandelt; die Studienautoren befragten die Eltern, ob es dem Kind besser gehe, nicht einen behandelnden Arzt; und: Die Studie umfasste ausschließlich Eltern, die mit ihrem Kind sowieso zum Osteopathen gegangen waren, und damit eine Gruppe von Menschen, die einer alternativmedizinischen Behandlung gegenüber aufgeschlossen sind. Diese methodischen Einschränkungen sind den Studienautoren durchaus bewusst, denn sie schließen ihr Fazit mit der Bemerkung: »Auf der Grundlage dieser Ergebnisse können und sollten konfirmatorische Interventionsstudien geplant und durchgeführt werden.« Das wiederum ist schwierig, denn osteopathische Behandlungen etwa doppelt zu verblinden, ist unmöglich; zumindest der Behandelnde weiß, was er tut. Zudem fehlen Leitlinien für die Durchführung placebokontrollierter Studien in der manuellen Medizin.

Internationale Forscherinnen und Forscher formulierten im August 2022 in einer Metaanalyse das Fazit, dass die vorhandenen Studien nicht ausreichten, osteopathischen Behandlungen in der Kindermedizin einen positiven Effekt zu bescheinigen. Eine weitere Übersichtsarbeit US-amerikanischer Kinderärztinnen und -ärzte aus dem Jahr 2021 kommt zu einem ähnlichen Schluss, jedoch mit einer Ergänzung: Auch wenn die Studienlage es nicht zulasse, klinische Empfehlungen auszusprechen, könne man osteopathische manuelle Medizin wegen des geringen Risikos tolerieren. Kurzum: Es schadet ja nicht.

»Manche osteopathischen Anwendungen bringen durchaus etwas, weil sie nichts anderes als eine Manualtherapie sind«Martin Lützel, Orthopäde

Behandlung nicht ohne Risiko

So einfach ist es aber nicht. Martin Lützel ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und arbeitet am Medizinischen Versorgungszentrum der Paracelsus-Kliniken im sächsischen Oelsnitz. Zu ihm kommen immer wieder auch Patientinnen und Patienten, die zuvor beim Osteopathen waren. »Manche osteopathischen Anwendungen bringen durchaus etwas, weil sie nichts anderes als eine Manualtherapie sind«, sagt er. Vor allem bei der parietalen Osteopathie gehe es um das Lösen von Muskelverspannungen und Triggerpunktmassagen.

Aber der Orthopäde warnt auch: »Wenn man sich im Internet osteopathische Behandlungen anschaut, bei denen so genannte Blockaden oder Faszienverklebungen gelöst werden, stehen mir als Arzt mit anatomischen Kenntnissen die Haare zu Berge«, sagt er. Würden Kräfte falsch angewandt, besonders bei der kraniosakralen Behandlung, könne es zu Verletzungen der Halswirbelsäule oder feinster Blutgefäße am Kopf kommen. Die Gefahr von Verletzungen oder anderen Nebenwirkungen sei jedoch eher gering, sofern die osteopathische Behandlung fachmännisch durchgeführt werde. Martin Lützel empfiehlt, bei der Wahl eines Osteopathen auf dessen medizinische Ausbildung zu schauen, also etwa Physiotherapie oder Medizin. Die Listen auf den Websites der unterschiedlichen Berufsverbände bieten dafür eine erste Orientierung.

Die Ausbildung zum Osteopathen ist nicht einheitlich

Die Bezeichnung Osteopath ist in Deutschland allerdings nicht geschützt, die Ausbildung weder standardisiert noch gesetzlich geregelt. Dementsprechend breit ist das Spektrum an Ausbildungsmöglichkeiten, was Tiefe und Zeitrahmen angeht. Vom Wochenend-Crashkurs bis zum mehrjährigen Vollzeitlehrgang ist alles möglich. Dies ist auch die Krux der Gesetzgebung: Das Oberlandesgericht Düsseldorf entschied im Jahr 2015, dass Osteopathie Teil der Heilkunde ist. Demnach dürfen nur Mediziner – wie etwa Orthopädinnen und Kinderärzte  – sowie Heilpraktiker nach erfolgter Weiterbildung osteopathisch behandeln. Allerdings ist die Ausbildung zum Heilpraktiker nicht gesetzlich geregelt, so dass kurioserweise auch Menschen ohne eine medizinische Ausbildung osteopathisch behandeln dürfen. Physiotherapeuten, die in einer mehrjährigen Ausbildung bereits anatomische Kenntnisse erworben haben, bleibt das hingegen verwehrt. Sie müssen erst den Umweg gehen, Heilpraktiker zu werden, um Osteopathie anbieten zu können. Der Bundesärzteverband fordert schon länger, dass manualtherapeutische Techniken aus Gründen der Patientensicherheit in die Hände qualifizierter Ärzte und Physiotherapeuten gehörten, um Risiken für die Patienten möglichst auszuschließen. Möglich wäre dies etwa, indem Osteopathie Teil des Lehrplans in der Physiotherapeutenausbildung würde.

Viele Krankenkassen zahlen

Osteopathie ist wie die meisten alternativmedizinischen Methoden keine Leistung gesetzlicher Krankenkassen (GKV), sondern eine Individuelle Gesundheitsleistung, kurz: IGeL. Dennoch zahlen sie etliche Krankenkassen – freiwillig. Der BVKJ kritisierte dies bereits im Jahr 2012 und vermutete »Marketinggründe«, und das, obwohl ein »wissenschaftlicher Wirkungsnachweis insbesondere bei Kindern bisher nicht ausreichend erbracht ist und … der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) (die Leistungen) auch nicht in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen hat.«

Geändert hat sich seitdem wenig. Wie hoch die Zuschüsse sind, hängt von der Krankenkasse ab. Im Jahr 2012 war die Techniker Krankenkasse (TK) eine der ersten, die ihren Versicherten osteopathische Anwendungen zumindest teilweise erstattete. Damals zahlten sie bis zu sechs Behandlungen pro Kalenderjahr zu 80 Prozent. Doch der dadurch ausgelöste Ansturm auf osteopathische Behandlungen wurde der Kasse schnell zu teuer: Mittlerweile sind es maximal drei Sitzungen, die mit je 40 Euro bezuschusst werden. Zudem erwartet die TK den Nachweis, dass der Behandelnde eine umfassende osteopathische Ausbildung absolviert hat, und ein Arzt oder eine Ärztin muss die Notwendigkeit für die osteopathische Behandlung vor Beginn schriftlich bestätigen.

Möglicherweise hilfreich bei Rückenschmerzen

Daran änderte bislang auch nicht, dass es durchaus Studien gab, die einen möglichen Nutzen der Osteopathie formulieren – und zwar bei Rückenleiden. Neuere Daten jedoch weisen eher in eine andere Richtung: Eine Bewertung der Osteopathie zur Therapie bei unspezifischen Rückenschmerzen aus dem Jahr 2018 sah keinen Zusatznutzen im Vergleich zur Standardbehandlung, da verwertbare Daten fehlten. In einer Übersichtsarbeit spanischer Forscherinnen und Forscher Anfang 2023 fiel die viszerale Osteopathie zur Behandlung von Rückenschmerzen durch. Auch hier waren die Studien schlichtweg zu schlecht. Das Infoportal des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) stuft Osteopathie als passive Behandlung ein, die bei Rückenschmerzen zwar kurzfristig helfen könne. Weder eine langfristige Wirkung noch das Konzept als solches seien jedoch wissenschaftlich bewiesen. Allerdings könne eine Behandlung das Wohlbefinden des Patienten steigern.

Ein Geheimnis: mehr Zeit

Davon berichtet auch Nicole Suljic. Auch wenn der Erfolg bei ihrem Sohn ausgeblieben war, hatte der Besuch beim Osteopathen sie neugierig gemacht. Sie wollte am eigenen Körper erleben und verstehen, was genau bei einer Behandlung geschieht. Eine Physiotherapeutin mit zusätzlicher osteopathischer Ausbildung ertastete eine noch nicht verheilte Schlüsselbeinverletzung, ohne dass Nicole Suljic sie erwähnt hatte. »Das hat mich schon beeindruckt«, sagt sie. Die Behandlung sei zudem sehr angenehm gewesen, der sanfte Druck der Fingerspitzen entspannend. Sie habe gemerkt, wie sich ihre gesamte Muskulatur mit einem Mal lockerte. »Fast wie Wellness«, sagt sie. Auch heute gehe sie hin und wieder zur Osteopathin, vor allem, weil sie sich fallen lassen, sich richtig entspannen könne. Das seien natürlich auch Kosten, aber die Osteopathin nehme sich stets Zeit und – so Nicole Sulijcs Eindruck – schaue dadurch genauer hin als so mancher Fachmediziner. Das hört Orthopäde Martin Lützel häufiger und hat Verständnis: »Es wäre schön, wenn wir als Ärzte mehr Zeit für unsere Patienten hätten«, sagt er. Der wirtschaftliche Druck sei vielerorts zu groß, menschliche Nähe, das »Menschsein« käme dabei oft zu kurz.

Nicole Suljic zieht aber klare Grenzen: »Wenn es etwa eine Entzündung im Körper gibt, dann muss diese medizinisch behandelt werden, die geht auch durch Tasten und Massieren nicht weg«, sagt sie. Ihr sei bewusst, dass bei der Osteopathie viel über den Placeboeffekt laufe. »Ich denke aber, wenn die Menschen bereit sind, dafür 100 Euro zu zahlen, und es ihnen hilft, weil sie daran glauben, ist nichts dagegen einzuwenden.« Ihrem Sohn hat die osteopathische Behandlung damals nicht geholfen, dafür aber die Zeit. Nach wenigen Wochen wurde aus dem schreienden Nervenbündel ein zufriedenes Kind mit gesundem Appetit. Mittlerweile ist Nicole Suljics Sohn ein aufgeweckter Grundschüler und stolzer Bruder einer kleinen Schwester.

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