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Paläoklima: »Das Erdklima ist definitiv nicht im Gleichgewicht«

Das Klima in der Erdgeschichte war variabel und manchmal extrem. Paläoklimaforscher Sebastian Mutz erklärt, wie man die Spuren vergangener Klimawandel entschlüsselt – und daraus Erkenntnisse über die Zukunft gewinnt
Eine hohe Tropfsteinhöhle spektakulär ausgeleuchtet.
Tropfsteinhöhlen wie das Frasassi-Höhlensystem in Italien sind natürliche Klimaarchive. Sie bergen Informationen über Temperaturen und Niederschläge über Zehntausende von Jahren.

Die Vergangenheit ist der Schlüssel zur Zukunft – gerade in der Klimaforschung. Denn das Erdklima war in der Vergangenheit immer wieder von starken Schwankungen geprägt, die unseren Planeten zu einer für uns völlig fremden Welt machten. Die Spuren dieser Klimakapriolen finden sich in Eisbohrkernen oder feinsten chemischen Details uralter Gesteine. Der Paläoklimaforscher Sebastian Mutz erklärt, wie Fachleute anhand dieser Fährten das Klima der fernen Vergangenheit rekonstruieren. Diese Ergebnisse verraten nicht nur, wie das Klima in den verschiedenen Phasen der Erdgeschichte jeweils war, sondern auch, wie es sich veränderte und warum. Vor allem aber helfen solche Daten zu verstehen, was in der Gegenwart mit dem Erdklima passiert und wie der fremde Planet in unserer eigenen Zukunft vermutlich aussehen wird.

Herr Mutz, was kann man sich unter der Paläoklimaforschung vorstellen?

Sebastian Mutz: Wir beschäftigen uns mit der Erforschung des Klimas aus der Vergangenheit – von den Anfängen der Erdgeschichte vor 4,5 Milliarden Jahren bis zum vorindustriellen Zeitalter im 18. Jahrhundert. Mein Schwerpunkt ist das späte Känozoikum. Dazu gehören zum Beispiel das mittlere Miozän vor 14 Millionen Jahren sowie die Zeit vom mittleren Pliozän vor etwa drei Millionen Jahren über die letzte Eiszeit vor 21 000 Jahren bis hin zur Jetztzeit. Wir versuchen herauszufinden, wie das Klima damals konkret aussah – wie viel hat es geregnet und welche Temperaturen haben geherrscht?

Sebastian Mutz | Der studierte Geologe und Paläontologe beschäftigt sich seit 2012 mit Paläoklimatologie. Er arbeitet als Akademischer Rat an der Uni Tübingen.

Neben der Klimarekonstruktion interessiert uns aber auch ein größeres Prozessverständnis, etwa ob es die Klimaphänomene, die wir von heute kennen, damals bereits gab und wie sie ausgeprägt waren. Viele Aspekte des Wetters in Nordeuropa werden durch semistabile Druckverhältnisse im Nordatlantikraum gesteuert. Diese bestimmen beispielsweise, ob wir nun einen besonders milden und nassen oder aber einen trockenen und kalten Winter bekommen. Wie ähnlich diese Druckmuster zu verschiedenen Zeiten im späten Känozoikum waren, ist allerdings noch unklar.

Seit wann gibt es die Paläoklimaforschung?

Der Gedanke, dass sich das Klima im Lauf der Erdgeschichte öfter und stark verändert, ist nicht neu. Allerdings hat sich die moderne Paläoklimatologie erst im 20. Jahrhundert als eigenes Forschungsfeld etabliert. Kurz vor der Jahrtausendwende kamen komplexe Computermodelle ergänzend hinzu und spielen seither eine entscheidende Rolle in der Erforschung des aktuellen Klimawandels. Schließlich lassen sich nur Aussagen über den ungewöhnlichen Verlauf machen, wenn man den natürlichen, nicht menschengemachten Klimawandel versteht.

Wie lässt sich das Klima von früher überhaupt erforschen? Konkrete und verlässliche wissenschaftliche Messreihen gibt es ja erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit.

Es gibt zwei Wege: mit Computermodellen oder durch so genannte Klimaproxys. Letzteres sind natürliche, also nicht instrumentelle Messsysteme, die in der Natur auftreten. Man könnte das mit einem Detektivspiel vergleichen: Das Klima kann Spuren an allem hinterlassen, mit dem es in Kontakt getreten ist: beispielsweise an den Jahresringen eines Baumstamms, Korallen, Sedimenten von Seen oder Ozeanen, Stalagmiten und Stalaktiten, Eisbohrkernen, Polleneinlagerungen oder den Isotopenverhältnissen von Sauerstoff. Die Wissenschaft sucht auch stets nach neuen Proxys, um das Klima noch besser zu verstehen. Die Isotopenzusammensetzung der Wachsschicht auf Blättern und Pflanzen etwa ist ein verhältnismäßig junger indirekter Klima-Anzeiger.

Welcher Fakt über Paläoklimaforschung wird noch immer häufig missverstanden?

Wie ausschlaggebend die Paläoklimaforschung in der Untersuchung des menschengemachten Klimawandels bereits war und noch immer ist. Einige Kernaussagen des IPCC-Berichts konnten sich mit dieser Sicherheit nur durch die Paläoklimaforschung machen lassen. Dazu gehört zum Beispiel die Aussage, dass der Klimawandel seit den 1950er Jahren so in den letzten Jahrzehnten bis Jahrtausenden noch nicht da gewesen war.

Was haben Sie zuletzt über die Paläoklimatologie gelernt, das Sie überrascht hat?

Wie interdisziplinär unser Fach ist. Es braucht Leute aus der Geologie, Biologie, Physik, Chemie, aus der Gletscherforschung, Meteorologie, Ozeanforschung, Mathematik, Computerwissenschaft, Bodenkunde und weiteren Disziplinen. Leute müssen vor Ort Proben von Eiskernen oder Sedimenten nehmen, andere Expertinnen für Bäume, Höhlen oder Korallen sein. Ohne Personen, die modellieren können, unterschiedliche Datensätze zusammenbringen und maschinelles Lernen beherrschen, geht es ebenso wenig. Dadurch, dass die Proxys von überall herkommen und auf verschiedenste Weise verarbeitet werden, braucht man eine extreme Bandbreite an Wissen und Expertise. Wegen dieser Vielfalt forsche ich so gern auf diesem Gebiet. Man erfährt bei jedem Projekt etwas Neues.

Wie werden einzelne Paläoklimadaten zu verlässlichen und komplexen Modellen über das Klima in der Vergangenheit?

Eine Möglichkeit ist es, verschiedene Proxys von verschiedenen Orten wie in einem Mosaik zusammenzutragen. Eine solche Rekonstruktion allein ist allerdings selten wirklich genau oder lückenlos. Da heißt es dann oft nur: Es war zu dieser oder jener Zeit in einer bestimmten Region deutlich feuchter oder trockener.

»Der Gedanke, dass sich das Klima im Lauf der Erdgeschichte öfter und stark verändert, ist nicht neu«

Außerdem lassen sich Prozesse nur durch Proxys schlecht rekonstruieren. Hierfür kommen prozessbasierte Computermodelle zum Einsatz. Aus Eiskernen und anderen natürlichen Archiven wird dann nicht die Temperatur rekonstruiert, sondern die CO2-Konzentration. Ein Computermodell wird mit diesen und vielen weiteren Informationen gespeist, etwa über die Verbreitung der Eisschilde zu der Zeit, die Art der Vegetation, die Topografie oder die Neigung der Erdachse. Daraus modelliert ein Cluster-Computer bei uns in Tübingen oder ein Supercomputer vom Deutschen Klimarechenzentrum in Hamburg ein Klima, das auf unserem physikalischen Verständnis der Atmosphäre basiert und in dem all diese Bedingungen miteinander vereinbar sind.

Wie werden diese theoretischen Daten validiert?

Die Ergebnisse unserer Computermodellsimulationen lassen sich unter anderem mit Proxydaten validieren: Wenn sich die unabhängig erstellten Klimarekonstruktionen aus Computermodellen und Proxys decken, können wir etwas mehr Vertrauen in beide Ansätze haben.

Wenn diese Modelle so komplex sind und mit vielen verhältnismäßig unsicheren Daten gefüttert werden, beeinflussen kleine Ungenauigkeiten dann nicht das Ergebnis dieser Klimamodelle in unverhältnismäßig großem Ausmaß?

Nein. Das trifft eher für Wettervorhersagen zu, bei denen sich Ungenauigkeiten zu Beginn der Simulation schnell fortpflanzen und multiplizieren können. Bei unseren Klimamodellen wird aber nur ein Gleichgewichtszustand modelliert, der von größeren und trägeren Faktoren bestimmt wird. Zudem würde ich einer groben Klimavorhersage für das Jahr 2100 mehr vertrauen als einer Wettervorhersage für Tübingen in zwei Wochen.

»Einer groben Klimavorhersage für das Jahr 2100 würde ich mehr vertrauen als einer Wettervorhersage für Tübingen in zwei Wochen«

Neben den Proxys ist in der Paläoklimatologie oft die Rede von Klimafaktoren. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?

Klimafaktoren wird alles genannt, was das Klimasystem steuert und Klimaelemente wie Temperatur und Niederschlag beeinflusst. Dazu zählen die Sonneneinstrahlung, die Topografie, die Land-Meer-Verteilung und die Bodenbedeckung. Diese Faktoren haben sich über lange Zeiträume geändert, über die letzten paar Jahrtausende allerdings kaum. Diese natürlichen Klimafaktoren wurden seit dem Beginn der intensiveren Auseinandersetzung mit dem menschengemachten Klimawandel in den 1970er Jahren genauer untersucht.

Inwiefern spielen kosmische Aktivitäten wie Gammablitze oder Supernovae eine Rolle für das Erdklima? Schließlich werden bei solchen Ereignissen gigantische Energien freigesetzt.

Für die Energiezufuhr sind sie nicht relevant. Das Energiebudget unseres Klimasystems kommt fast zu 100 Prozent von der Sonne.

Warum ist es wichtig, das Klima von früher zu verstehen?

Unser Verständnis vom früheren Klima lässt uns überhaupt erst erkennen, wie ungewöhnlich der aktuelle Klimawandel erdgeschichtlich betrachtet ist. Außerdem gibt es bei den Klimamodellen, die für Zukunftsvorhersagen benutzt werden, noch immer Prozesse, die nicht oder nur begrenzt abgebildet werden.

Dazu zählen langsame Feedbacks im Klimasystem, die beispielsweise durch das Verschwinden von großen Eisflächen entstehen. Im Paläoklima, das wir aus Proxys entnehmen können, hatten diese Feedbacks oft schon ihre Wirkung. Wenn sich diese dann mit den Paläoklimarekonstruktionen aus ganzheitlicheren Erdsystemmodellen decken, gibt uns das mehr Sicherheit für die Klimavorhersagen der nächsten Jahrhunderte.

Ihr Fachgebiet sind die letzten 14 Millionen Jahre. Was waren in dieser Phase die bedeutendsten paläoklimatischen Ereignisse für unsere Erde? Und welchen Einfluss hatten sie?

Vor etwa 14 Millionen Jahren, also nach dem warmen Klimaoptimum des mittleren Miozäns, kommen wir in eine lang anhaltende Abkühlungsphase. Hier konnten sich die antarktischen Eisschilde neu etablieren. In den letzten Millionen Jahren ist das Mittel-Pliozän vor gut 3,2 Millionen Jahren wohl am spannendsten. Damals war das Erdklima sehr unterschiedlich zu dem, was wir heute erleben – obwohl es geografisch kaum Unterschiede gab und die CO2-Konzentration ähnlich war. Deshalb wird es auch als Analogon für eine mögliche Zukunft betrachtet. Auf diese Zeit im mittleren Pliozän folgt eine weitere Abkühlungsphase, in der sich die Eisschilde der Nordhemisphäre bilden konnten.

Der US-Klimatologe James Hansen sagt, dass wir mit dem aktuellen Zwei-Grad-Ziel, wenn wir es denn überhaupt erreichen, die Klimakatastrophe keineswegs stoppen, sondern bestenfalls auf genau diese Pliozän-Bedingungen zusteuern. Wie sah das Klima auf der Erde damals aus?

Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre lag in etwa bei unserem aktuellen Niveau. Die Pliozän-Klimamodelle, die wir durch Proxys und Supercomputer ermitteln, beschreiben einen Zustand, in dem alles bereits im Gleichgewicht war. Auf dieses Gleichgewicht bewegen wir uns aktuell erst noch hin. Deshalb auch die Voraussage von Hansen.

Uns erwarten also …

… deutlich höhere Temperaturen und geringere Temperaturunterschiede zwischen höheren und mittleren Breiten. Wir müssen mit mehr Regen über den Landmassen rechnen, mit einer stark nach Norden verschobenen Tundra-Taiga-Grenze, mit deutlich kleineren Eisschilden und einem rund 25 Meter höheren Meeresspiegel. Grundsätzlich muss man mit solchen Einschätzungen jedoch vorsichtig sein. Das Pliozän ist vermutlich das beste Analogon für das, was auf uns zukommt. Aber auch da gibt es noch viele offene Fragen. Ich hoffe allerdings, dass wir die Bedingungen des Pliozäns in aktuelle Vorhersagen und die Klimafolgenforschung integrieren, um die Prognosen – und damit auch die notwendigen Gegenmaßnahmen – zu verbessern.

»Meines Wissens hat noch nie eine einzige Makrospezies das globale Klima derart stark und schnell beeinflusst wie der Mensch«

Sie haben sich in Ihrer Forschung auf Zentralasien, die Alpen, Skandinavien und den Himalaja spezialisiert. Warum gerade diese Regionen, und was sind hier die zentralen Ergebnisse?

All diese Regionen sind durch Gebirge geprägt. Hier führt das Zusammenspiel zwischen Klima und komplexer Topografie zu einer hohen Diversität an Landschaften, Tier- und Pflanzenarten und Kulturen auf engem Raum. Besonders spannend finde ich aber auch die Wechselwirkungen zwischen globalem Klima und größeren Gebirgsketten wie den Anden. Die Entstehung dieser Gebirge ändert das Klima auf regionaler und sogar auf globaler Skala. Das bedeutet, dass uns Paläoklimarekonstruktionen sogar etwas über die Entstehungsgeschichte dieser Gebirgsketten verraten können. Die Veränderungen im Klima beeinflussen wiederum Gletscheraktivität und diverse Erdoberflächenprozesse, die zur Abtragung dieser Gebirge führen können. Das zeigen auch unsere Forschungsergebnisse.

Ist das Erdklima im Vergleich der letzten paar Millionen Jahre eher stabil oder eher fragil?

Es wäre angebrachter zu sagen, ob es im Gleichgewicht ist oder nicht. Und das ist es definitiv nicht. Streng genommen befindet man sich zwar nie im Equilibrium, da sich Randbedingungen stetig verändern, aber dies geschieht in der Regel nicht so schnell. Das Klima ist aktuell dabei, sich an rasant verändernde Randbedingungen anzupassen, allen voran die Treibhausgaskonzentration. Meines Wissens hat noch nie eine einzige Makrospezies das globale Klima derart stark und schnell beeinflusst wie der Mensch.

Nehmen wir an, dieses Gleichgewicht ist irgendwann erreicht. Es ist unwahrscheinlich, dass sich dieses Equilibrium nach den Bedürfnissen des Menschen ausrichtet. Würde der Mensch nicht versuchen, dieses System, um es für ihn lebensfreundlicher zu machen, wieder aus dem Gleichgewicht zu bringen?

Eine solch extreme Art des Geoengineering wäre ein sehr hochgestecktes Ziel und hätte wohl ungeahnte Folgen. Eine Anpassung an den neuen Equilibrium-Zustand wäre sicherlich auch schwierig. Daher gilt: Mitigation ist besser als Adaption oder Geoengineering. Der Erde ist es egal, ob wir uns in einem Gleichgewicht befinden, ob wir gerade darauf zusteuern oder wie ein solches Gleichgewicht aussehen würde. Aber Menschen und ihre planetaren Mitbewohner würden darunter leiden, und es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass dies bereits der Fall ist.

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