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Polynome: Hilberts 13. Problem

Lange Zeit galt eine Frage des berühmten Mathematikers David Hilbert als gelöst, doch das Problem ist kniffliger als gedacht.
Geometrische Flächen

In der Mathematik erzielt man selten einen Erfolg. »Das Schwierige an dem Fach ist, dass man in 90 Prozent aller Fälle scheitert, und man muss die Art von Mensch sein, die damit klarkommt«, sagte Benson Farb einmal auf einer Dinnerparty. Als ein anderer Gast, ebenfalls Mathematiker, verwundert fragte, ob er wirklich in einem von zehn Fällen erfolgreich sei, gab er schnell zu: »Nein, nein. Ich habe mit meiner Quote übertrieben – sehr sogar.«

Farb, ein Topologe an der University of Chicago, könnte nicht glücklicher über seinen jüngsten Misserfolg sein. Es betrifft ein jahrhundertealtes Problem, das kurioserweise sowohl gelöst als auch ungelöst ist. In seiner berühmten Rede im Jahr 1900 beim Internationalen Mathematikerkongress stellte David Hilbert die Aufgabe an 13. Stelle jener 23 bedeutenden Probleme auf, von denen er voraussagte, sie würden das zukünftige Jahrhundert prägen. Es hat mit einer Lösung von Polynomgleichungen siebten Grads zu tun.

Polynome bestehen aus Koeffizienten und potenzierten Variablen, die durch Addition und Subtraktion miteinander verbunden sind. Der Grad entspricht dem höchsten Exponenten, der darin auftritt. Mathematiker haben bereits ausgefeilte Methoden entwickelt, um die Nullstellen von Polynomen zweiten, dritten und zum Teil vierten Grades zu lösen. Diese Formeln (etwa die aus der Schule bekannte p-q-Formel oder Mitternachtsformel) bestehen aus algebraischen Operationen, das heißt Addition, Multiplikation, Subtraktion, Division und Wurzelziehen. Je höher der Exponent, desto sperriger wird eine Lösungsformel – falls sie überhaupt existiert.

Bis zum vierten Grad

Denn eine solche allgemeine Formel lässt sich bloß für Polynome bis vierten Grads angeben. Um die Nullstellen derartiger Gleichungen mit höheren Exponenten zu berechnen, muss man auf andere Verfahren zurückgreifen. Dennoch lassen sich die Lösungen durch algebraische Operationen, gepaart mit Funktionen, die ebenfalls algebraisch sind und von mehreren Parametern abhängen, bestimmen. Hilberts 13. Problem dreht sich um die Frage, ob man Polynome siebten Grads mit Hilfe von algebraischen Funktionen, die von lediglich zwei Variablen bestimmt werden, lösen kann.

Wahrscheinlich lautet die Antwort darauf nein. Für Farb geht es aber nicht nur um das Lösen einer Gleichung. Ihm zufolge gehört es zu einem der grundlegendsten offenen Probleme des Fachs, weil es zu weiteren tief greifenden Fragen führt: Wie kompliziert sind Polynome, und wie lässt sich das bestimmen? »Ein großer Teil der modernen Mathematik wurde erfunden, um Nullstellen solcher Gleichungen zu verstehen«, erklärt Farb.

Das Problem ließ ihn und seinen Kollegen Jesse Wolfson von der University of California, Irvine, nicht mehr los – und sie forschen noch heute daran. Sie haben auch Mark Kisin, einen guten Freund von Farb, der Zahlentheoretiker an der Harvard University ist, hinzugezogen. Von einer Lösung sind sie jedoch weit entfernt, gibt Farb zu.

Während ihrer Arbeit haben die Mathematiker aber längst vergessene Strategien ausgegraben und Verbindungen zwischen Hilbert 13. Problem und zahlreichen anderen Gebieten erforscht, wie zur komplexen Analysis, Topologie, Zahlentheorie, Darstellungstheorie und algebraischen Geometrie. Ihnen gelangen dadurch bedeutende Fortschritte, insbesondere bei der geometrischen Betrachtung von Polynomen. Sie weisen einen Weg auf, den Termen eine Komplexität zuzuordnen – ganz ähnlich zu den aus den Computerwissenschaften bekannten Komplexitätsklassen, die mit dem ungelösten Millennium-Problem P-NP verbunden sind.

Jahrelang glaubten viele Mathematiker, Hilberts Problem sei gelöst. In den späten 1950er Jahren veröffentlichten die sowjetischen Forscher Vladimir Arnold und Andrey Nikolyevich Kolmogorov einen Beweis, in dem sie die Aufgabe lösten. Für die meisten Wissenschaftler war der Fall damit abgeschlossen. Sogar Wikipedia – das zwar keine gesicherte Quelle ist, aber dennoch allgemeines Wissen widerspiegelt – erklärte das Problem bis vor Kurzem für gelöst.

2016 stieß Farb jedoch auf einen Artikel von Arnold, in dem er über sein Lebenswerk erzählte. Überrascht stellte Farb fest, dass der russische Mathematiker Hilberts 13. Problem als ungelöst bezeichnete und sich vier Jahrzehnte lang die Zähne daran ausgebissen hatte – ohne Erfolg.

»Es gibt so viele Arbeiten, die einfach behaupten, es sei gelöst«, so Farb. Als er seinem Kollegen Wolfson damals erzählte, was er in Arnolds Artikel gelesen hatte, sprang dieser sofort darauf an. Ein Jahr später, während eines Seminars zum 50. Geburtstag von Farb, hielt Wolfson einen Vortrag zu dem Thema. Kisin erkannte dabei überrascht, dass die Ideen der Kollegen mit Fragen seiner eigenen Arbeit in der Zahlentheorie zusammenhingen. Begeistert schloss er sich ihnen an.

Der Grund für die Verwirrung zu Hilberts 13. Problem wurde schnell klar: Kolmogorov und Arnold hatten nur eine Variante davon gelöst. Ihr Ergebnis bezog sich auf »stetige« Funktionen, das heißt ohne abrupte Sprünge, wie trigonometrische Funktionen oder Exponentialfunktionen.

Algebraisch oder stetig?

Allerdings ist nicht ganz klar, ob Hilbert an diesem Ansatz interessiert war. »Viele glauben, dass er algebraische Funktionen meinte und nicht stetige«, erklärt der Algebraiker Zinovy Reichstein von der University of British Columbia. Seit ihrer Entdeckung arbeiten Farb, Wolfson und Kisin daher an dem allgemeineren Fall.

Die Menschheit erforscht Polynome schon so lange, wie es Mathematik gibt. 3000 Jahre alte Steintafeln belegen, dass die Babylonier eine Formel zum Lösen von polynomialen Gleichungen zweiten Grads kannten – ein keilschriftlicher Vorläufer der p-q-Formel, die Schüler noch heute lernen. Im Lauf der Zeit fragten sich Wissenschaftler, ob solche Ausdrücke auch für größere Exponenten existieren.

Je höher der Grad, desto unhandlicher werden die Gleichungen. In dem Buch »Ars Magna« veröffentlichte der italienische Universalgelehrte Gerolamo Cardano 1545 Formeln, welche die Nullstellen kubischer (dritter Grad) und quartischer (vierter Grad) Polynome berechnen. Die Erste lautet:

Formel | Zur Berechnung der Nullstellen von Polynomen dritten Grads.

Die quartische Formel ist noch schlimmer

Bei Polynomen fünften Grads und höher ist allerdings Schluss, wie der italienische Wissenschaftler Paolo Ruffini bereits 1799 vermutete. Solche Gleichungen lassen sich nicht derart vereinfachen, dass man sie auf eine einfache algebraische Funktion der Form x = f(a,b,c,…) reduzieren kann. Der norwegische Mathematiker Niels Henrik Abel bewies die Tatsache 25 Jahre später. Glücklicherweise tauchten andere Ideen auf, um Polynome höheren Grads zu lösen. Zum Beispiel zeigte der schwedische Jurist Erland Bring 1786, dass sich jede Polynomgleichung fünften Grads der Form ax5 + bx4 + cx3 + dx2 + ex + f = 0 durch x5 – x + q = 0 umformulieren lässt, wobei q von den Koeffizienten a, b, c, d, e und f abhängt. Diese Ansätze führten zu neuen Wegen, sich komplizierteren Polynomen zu nähern.

Im 19. Jahrhundert knüpfte der bedeutende irische Wissenschaftler William Rowan Hamilton dort an, wo Bring und seine Kollegen aufgehört hatten. Er bewies unter anderem, dass man zum Berechnen der Nullstellen einer Polynomgleichung sechsten Grads nur die üblichen vier arithmetischen Operationen (plus, minus, mal, geteilt), einige Quadrat- und Kubikwurzeln und eine algebraische Funktion benötigt, die von zwei Parametern abhängt. Denn eine Gleichung ax6 + bx5 + cx4 + dx3 + ex2 + fx + g = 0 lässt sich in die Form x6 + px2 + qx + 1 = 0 vereinfachen.

Wie Polynome aussehen

1975 führte der US-amerikanische Algebraiker Richard Brauer in Harvard die Idee des so genannten Resolventengrads ein: die kleinste Anzahl an Variablen, die man braucht, um ein Polynom bestimmten Grads darzustellen (für Polynome von Grad fünf ist der Resolventengrad eins, für Grad sechs ist es zwei).

Hilberts 13. Problem dreht sich darum, ob Polynome siebten Grads einen Resolventengrad von weniger als drei haben. Das führt zu der umfassenderen Frage: Wie viele Parameter braucht man mindestens, um die Nullstellen eines Polynoms zu finden?

Um das zu erfahren, ist es naheliegend, die Polynome zunächst zu visualisieren. Als Funktion geschrieben – zum Beispiel f(x) = x2 – 3x + 1 – lässt es sich grafisch darstellen. Die Nullstellen entsprechen dann jenen Orten, an denen die Kurve die x-Achse schneidet.

Polynome höheren Grades führen zu komplizierteren Figuren: Wenn der höchste Exponent drei ist, die Funktion über zwei Variablen x und y verfügt, dann ergeben sich glatte, aber verwinkelte Oberflächen. Auch in diesem Fall können Mathematiker mehr über die zu Grunde liegende Struktur erfahren, indem sie diese visualisieren.

Daher basieren viele Bemühungen, Polynome zu verstehen, auf der algebraischen Geometrie und der Topologie. Denn diese mathematischen Gebiete beschreiben, was passiert, wenn man Figuren projiziert, verformt, quetscht, dehnt oder anderweitig transformiert, ohne sie vollends zu zerreißen.

Auch Hilbert wählte einen solchen Ansatz, als er sich in den 1920er Jahren selbst an seinem 13. Problem versuchte. Damals probierte er, Polynome neunten Grads zu vereinfachen, und fand heraus, dass sich innerhalb von ihnen eine Familie kubischer Flächen befindet – diese sind das dreidimensionale Analogon zu einer (zweidimensionalen) Oberfläche.

Hilbert wusste bereits, dass jede glatte kubische Fläche (eine verwinkelte Form, die durch ein Polynom dritten Grads definiert ist) genau 27 Geraden enthält, egal wie kompliziert sie erscheint. Kann man eine dieser Geraden bestimmen, dann lässt sich das ursprüngliche Polynom neunten Grads vereinfachen, um seine Nullstellen zu finden. Die Formel benötigte nur vier Parameter, der Resolventengrad ist also höchstens vier.

Mit kubischen Flächen zum neunten Polynom

Kisin, Farb und Wolfson erkannten, dass durch die weit verbreitete Annahme, Hilberts 13. Problem sei gelöst, das Interesse an einem solchen geometrischen Ansatz erloschen war. Im Januar 2020 veröffentlichte Wolfson eine Arbeit, das die Idee wiederbelebte, indem er Hilberts Methode erweiterte.

Der deutsche Mathematiker hatte sich auf kubische Flächen konzentriert, um Polynome neunten Grads zu lösen. Wolfson überlegte sich, man könnte auf diese Art ebenso Polynome mit größeren Exponenten untersuchen, indem man die dreidimensionale Fläche durch eine höherdimensionale ersetzt. Deren Geometrie ist zwar weniger gut verstanden, doch in den letzten Jahrzehnten konnten Geometer auch für diese Exemplare beweisen, dass sie in bestimmten Fällen Geraden beherbergen.

Tatsächlich ist es möglich, Hilberts Idee auf höhere Dimensionen zu erweitern. Wolfson konnte so neue, einfachere Formeln für Polynome finden. Selbst eine solche Gleichung hundertsten Grads lässt sich lösen, indem man eine Ebene auf einer 47-dimensionalen Fläche findet – auch wenn die Vorstellungskraft in dieser Situation versagt.

Damit hat Wolfson verdeutlicht, wie bedeutend Hilberts geometrischer Ansatz war. Für Polynome von Grad neun liefert es einen Resolventengrad von vier, für höhere Exponenten grenzt die Methode den möglichen Wertebereich ein.

Damit haben die drei Mathematiker nicht nur Hilberts 13. Problem in die Mangel genommen, sondern Polynome im Allgemeinen. Ihre Arbeit weist auf neue Wege hin, über solche Gleichungen nachzudenken. Der Resolventengrad biete zudem die Möglichkeit, so Farb, Probleme nach einer Art algebraischer Komplexität zu kategorisieren, ähnlich der Gruppierung von Optimierungsproblemen in Komplexitätsklassen.

Obwohl die Arbeit der Forscher mit Hilberts 13. Problem begann, sind sie skeptisch, ob es überhaupt lösbar ist. »Man bräuchte völlig neue Ideen«, so Reichstein. Doch das Trio lässt sich nicht entmutigen. »Ich werde die Sache nicht aufgeben«, sagt Farb. »Was mich antreibt, ist dieses Netz von Verbindungen, die Mathematik, die es umgibt.«

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