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Psychische Störungen: »Biologisch gesehen gibt es die psychiatrischen Diagnosen nicht«

In der Psychiatrie denke man noch immer in Schubladen, sagt Anke Hammerschlag von der Universität Amsterdam. Doch laut ihrer Forschung verbergen sich hinter verschiedenen psychischen Erkrankungen oft dieselben Gene, und die Störungen bilden große Cluster. Im Interview erklärt sie, warum das auch für die Therapie wichtig ist.
Zwei Menschen sitzen sich gegenüber, der eine macht Kreuzchen auf einem Fragebogen.

Die meisten psychischen Probleme lassen sich zumindest einer psychiatrischen Diagnose zuordnen. Wer Stimmen hört, leidet vermutlich unter Schizophrenie, und ein sehr unruhiges Kind hat womöglich ADHS. Diese Störungen sind im DSM beschrieben, dem Handbuch für psychische Erkrankungen, und in der ICD, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten. Wer mit schweren psychischen Problemen zu kämpfen hat, wird in eine Diagnosekategorie gesteckt und bekommt dazu die passende Behandlung. Doch es mehrt sich Kritik am traditionellen Schubladendenken, neuerdings auch aus der genetischen Forschung: Verschiedene psychische Störungen lassen sich teils auf dieselben Risikogene zurückführen. Die Neurowissenschaftlerin Anke Hammerschlag untersucht, wie sich mehrere dieser Erkrankungen genetisch überlappen und wie die biologischen Mechanismen der Hirnzellen damit zusammenhängen. »Bei mehreren Diagnosen spielen vermutlich die gleichen Anomalien in der Kommunikation zwischen Hirnzellen eine Rolle«, sagt sie.

»Spektrum.de«: Die Wissenschaft wendet sich den genetischen Gemeinsamkeiten von psychischen Störungen zu. Wie kam es dazu?

Anke Hammerschlag | Die promovierte Neurowissenschaftlerin (geboren 1985) forscht an der Freien Universität Amsterdam und an der University of Queensland in Australien. Sie untersucht, welche biologischen Mechanismen den psychischen Störungen zu Grunde liegen und wie sie sich genetisch überlappen.

Anke Hammerschlag: Symptome von verschiedenen psychischen Störungen überlappen sich; das ist schon länger bekannt. Menschen mit ADHS leiden zum Beispiel häufiger unter depressiven Beschwerden als Menschen ohne ADHS. Entsprechend haben Patienten oft nicht nur eine, sondern mehrere Diagnosen. Außerdem haben Verwandte von Menschen mit Schizophrenie auch ein größeres Risiko, an anderen psychischen Störungen zu erkranken. Das alles lässt vermuten, dass einige psychische Störungen gemeinsame Anteile haben. Wissenschaftler spüren schon länger möglichen Risikogenen für einzelne Störungen nach. Zum Teil bestimmen die Gene, ob man eine psychische Störung entwickelt. Nun sieht es so aus, als ob sich die Risikogene verschiedener Erkrankungen stark überschneiden.

Sollten die Diagnosekategorien aus dem DSM, dem Handbuch für psychische Störungen, trotzdem erhalten bleiben?

Biologisch gesehen gibt es die psychiatrischen Diagnosen nicht. Vielleicht existiert eine Art Kontinuum. Zum Beispiel für Störungen, wie wir sie heute kennen: Der eine Mensch leidet ein wenig unter ADHS, der andere sehr. Oder vielleicht für Symptome: Der eine ist etwas hyperaktiv, der andere sehr. Die Erforschung der genetischen Gemeinsamkeiten steckt noch in den Kinderschuhen. Tausende Gene tragen jeweils nur ein klein wenig zum Risiko psychischer Probleme bei; so viel wissen wir schon heute.

Wie stellt man fest, welche Gene an welchen Störungen beteiligt sind?

Wir verwenden dazu mehrere Methoden. In den vergangenen Jahren sind die genomweiten Assoziationsstudien populär geworden. Darin vergleichen Wissenschaftler das vollständige Genom – also alle Gene – von großen Gruppen miteinander, in diesem Fall die DNA von Menschen mit und ohne psychiatrische Erkrankungen. Die DNA wird kartiert mit so genannten ChIP-Arrays. Das sind Computerchips, mit denen man die gesamte DNA einer Person kartieren kann. So untersuchen wir, ob bestimmte Genvarianten bei Menschen mit psychischen Störungen seltener oder häufiger auftreten als bei gesunden Kontrollpersonen. Außerdem arbeiten Wissenschaftler auf der ganzen Welt im PGC zusammen, dem Psychiatric Genomics Consortium. Sie haben eine große Sammlung an Gendaten von psychisch kranken und gesunden Menschen. Es gibt sehr viele Gene, die an psychischen Störungen beteiligt sind. Und nicht jeder mit einer solchen Störung trägt alle Varianten in sich. Je mehr DNA wir also gemeinsam betrachten können, desto besser.

»Ein Gen, genannt DCC, mischte bei allen acht untersuchten Störungen mit«

Wie genau unterscheiden sich die Gene von gesunden Menschen und jenen mit einer psychischen Erkrankung?

Tausende Gene bestimmen mit, ob man eine psychische Störung bekommt oder nicht; ein einziges Gen hat daran nur einen kleinen Anteil. Das ist noch immer die wichtigste Erkenntnis dieser Forschung. Menschen ohne Diagnose tragen durchaus auch Risikogene. Außerdem können zwei Patienten mit derselben Diagnose verschiedene Risikogene aufweisen. 2013 haben Wissenschaftler vom PGC die erste große Studie veröffentlicht. Darin stellte man erstmals bei einer umfangreichen Stichprobe fest, dass sich die Gene überlappen. Sie untersuchten knapp 28 000 Versuchpersonen ohne psychische Störung und ungefähr 33 000 mit Autismus, ADHS, Schizophrenie, Depression oder bipolarer Störung.

2019 brachte das PGC erneut eine große Studie heraus, diesmal mit noch mehr Teilnehmern und noch mehr Störungen – rund 233 000 Männer und Frauen mit Schizophrenie, Autismus, Depression, Magersucht, Zwangsstörung, bipolarer Störung, ADHS oder Tourette-Syndrom. Und dazu eine halbe Million Menschen ohne Diagnose. Das Ergebnis: 109 Genvarianten steigerten das Risiko von jeweils mindestens zwei psychiatrischen Erkrankungen. Und ein Gen, genannt DCC, mischte bei allen acht untersuchten Störungen mit. Dieses Gen ist an der Entwicklung der Hirnzellen beteiligt. Wahrscheinlich gibt es noch mehr Gene, die das Risiko von einer oder mehreren Störungen erhöhen, aber das können wir mit unseren heutigen Studien noch nicht herausfinden.

Einige Störungen hängen enger miteinander zusammen als andere, oder?

Das stimmt. Schizophrenie, Depression und bipolare Störungen haben viel gemeinsam, zum Beispiel überlappen sich die für Schizophrenie typischen Gene zu etwa 70 Prozent mit denen, die das Risiko einer bipolaren Störung steigern. Die Erbanlagen für Autismus, ADHS und – wiederum – Depression formen auch eine Art Cluster mit vielen gemeinsamen Genvarianten. Ein drittes Cluster bilden Tourette-Syndrom, Magersucht und Zwangsstörung. Doch es kann auch andersherum sein. Einige Genvarianten steigern das Risiko einer Schizophrenie, aber mindern das einer bipolaren Störung. Was das genau bedeutet, ist bislang unklar.

Welche Gene haben Sie noch gefunden?

In genomweiten Assoziationsstudien finden wir meist keine spezifischen Gene, sondern so genannte Genorte oder Genloki. Ein solcher Genort ist ein Stück DNA, auf dem mehrere Gene sitzen und das man am Stück als Ganzes von Vater oder Mutter erbt. Möchte man wissen, welche Gene speziell eine Rolle spielen, dann muss man zusätzlich eine Laborstudie durchführen. Wenn man beispielsweise im Tierversuch gezielt bestimmte Gene ausschaltet, kann man verfolgen, welche Prozesse, Funktionen oder Verhaltensweisen von den Genen beeinflusst werden. Da wir stets hunderte Genorte für eine psychiatrische Erkrankung finden, ist es mühselig, für sie alle solche Laborversuche durchzuführen. Ich will vor allem herausfinden, welche biologischen Mechanismen bei psychischen Störungen eine Rolle spielen. Dann würden wir besser verstehen, wie die Probleme entstehen und wie wir sie behandeln können. Um diese Mechanismen zu entdecken, führen wir Computeranalysen durch. Dafür müssen wir nicht einmal wissen, um welche Gene es sich genau handelt.

»Vielleicht gehören Schizophrenie und Depression, ebenso wie Autismus und ADHS, zu den angeborenen neuropsychiatrischen Entwicklungsstörungen«

Weiß man schon etwas darüber, was die verschiedenen psychischen Störungen biologisch gesehen verbindet?

Einer der Genorte, die bei Schizophrenie, bipolarer Störung und Depression beteiligt sind, haben mit den Kalziumkanälen im Gehirn zu tun. Nervenzellen brauchen diese Kanäle, um miteinander zu kommunizieren. Es ist noch nicht klar, wie diese Kanäle die Entwicklung einer psychischen Störung genau beeinflussen. Im Jahr 2019 habe ich versucht, hinter die gemeinsamen biologischen Mechanismen dieser drei Störungen sowie ADHS und Autismus zu kommen. Alle sich überlappenden Gene, die in früheren Studien gefunden wurden, schienen etwas mit den Nervenzellen im Gehirn zu tun zu haben, die meisten von ihnen mit Synapsen. Das sind die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, die ebenso wie Kalziumkanäle bei der neuronalen Kommunikation eine Rolle spielen.

Was bedeuten diese Befunde?

Wahrscheinlich verändern die gemeinsamen Gene die Kommunikation zwischen den Neuronen. Das macht Menschen möglicherweise anfälliger dafür, eine psychische Störung zu entwickeln. Wie genau das funktioniert, ist noch unklar. Dazu gibt es nun weitere Studien. In anderen Untersuchungen fanden Wissenschaftler Gene, die schon vor der Geburt an der Entwicklung von Hirnnervenzellen beteiligt sind. Ein wichtiger Befund, denn einige Störungen manifestieren sich erst in späteren Jahren. Nehmen wir Schizophrenie oder Depression: Wahrscheinlich ist bei ihnen bereits vor der Geburt, nicht nur genetisch, sondern auch biologisch gesehen etwas nicht in Ordnung. Vielleicht gehören Schizophrenie und Depression, ebenso wie Autismus und ADHS, zu den angeborenen neuropsychiatrischen Entwicklungsstörungen.

Was entscheidet darüber, welche psychischen Probleme dann tatsächlich auftreten?

Eine Kombination aus den allgemeinen Anlagen, gemeinsam mit Genen, die speziell mit einer bestimmten Störung zu tun haben, sowie allerlei Umweltbedingungen. Zumindest glauben wir das; es braucht noch mehr Forschung. Genstudien sollten sich künftig mehr an Symptomen orientieren und weniger an den DSM-Diagnosen. Interessant ist, welche Gene und biologische Mechanismen mit welchen Symptomen zusammenhängen. Außerdem gibt es auch genetische Gemeinsamkeiten zwischen psychischen Störungen und Persönlichkeitsmerkmalen. Wie neurotisch jemand ist, hängt zum Beispiel zusammen mit seinem Risiko für eine Depression oder Angststörung. Wer eine psychische Störung entwickelt, befindet sich auch im oberen Bereich von Eigenschaften wie »neurotisch«, »hyperaktiv« oder »Schwierigkeiten mit sozialen Interaktionen«. Psychische Probleme sind nicht so schwarz-weiß, wie die Diagnosen des DSM vermuten lassen.

Verrät die Menge der vorhandenen Risikogene etwas über die Schwere der Symptome bei psychischen Problemen?

Das ist bislang unklar. Wir müssen erst besser verstehen, wie die Erbanlagen die Hirnfunktionen beeinflussen. Risikogene erklären nur ein paar Prozent der Frage, warum manche Menschen eine psychische Störung entwickeln und andere nicht. Wir haben bloß einen kleinen Teil des genetischen Puzzles gelöst. Im individuellen Fall können wir anhand der Erbanlagen noch nicht einschätzen, wie groß das Risiko für psychische Probleme ist. Leider arbeiten einige Firmen an Tests, die dieses Risiko bestimmen sollen. Aber das funktioniert nicht; so weit sind wir mit der Forschung nicht.

»In der Psychiatrie denkt man noch in Schubladen: Zu Störung A gehört Medikament B«

Müssen wir jetzt auf andere Weise Diagnosen stellen und Störungen behandeln?

Immer mehr Ärzte und Therapeuten wissen um die gemeinsamen Gene. Sie beobachten überdies dieselben Symptome bei verschiedenen Störungen, und sie sehen, dass viele Patienten mehr als eine Diagnose bekommen. In der Psychiatrie denkt man noch in Schubladen: Zu Störung A gehört Medikament B. Doch vielleicht bringt es mehr, wenn man die Medizin für ein Symptom verschreibt. Darum wollen Wissenschaftler jetzt untersuchen, ob man die vorhandenen Medikamente auch anders einsetzen kann. Von ihnen ist schon bekannt, in welche biologischen Funktionen, Prozesse oder Eiweiße sie eingreifen. Das vergleichen die Forscher mit den Genen und biologischen Funktionen, die wir aus den Studien zu Genen und psychiatrischen Erkrankungen kennen. Finden sie eine Übereinstimmung, hilft ein bekanntes Medikament vielleicht auch bei anderen Störungen. Es könnte an denselben Symptomen ansetzen. Neue Wirkstoffe sind dann gar nicht nötig. Das macht viel aus, denn ein neues Medikament zu entwickeln, dauert oft Jahre.

Was wollen Sie selbst künftig noch untersuchen?

Ich will versuchen, die biologischen Mechanismen zu finden, die mit ADHS und Autismus zusammenhängen, mit Hilfe der mit ihnen verbundenen und oft überlappenden Gene. So bekommen wir einen Einblick in die Funktion der Gene und wie sie psychische Probleme eventuell verstärken oder beeinflussen. Die Gemeinsamkeiten zwischen Störungen faszinieren mich weiterhin. Da gibt es noch genug zu erforschen.

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