Direkt zum Inhalt

Wissenschaftskritik: Warum die Forschung Außenseiter braucht

Eine der Konventionen des wissenschaftlichen Arbeitens lautet: Man würdigt vorangehende Befunde und knüpft mit der eigenen Arbeit an sie an. Auf grundlegend neue Ideen kommt man so allerdings kaum.
Frau mit Kabeln am Kopf schaut auf eine Spirale, beobachtet von einem Forscher

Wer psychologische Forschung betreibt, baut in der Regel auf der Arbeit derer auf, die das gleiche Feld beackert haben. »Connected psychology«, so nennt das der Psychologe Dario Krpan von der London School of Economics und meint damit eine an frühere Befunde »gebundene« Psychologie. In den »Perspectives on Psychological Science« plädiert er dafür, daneben eine »disconnected psychology« zu etablieren: eine »ungebundene« Psychologie, die sich abseits der Lehrmeinung allein an wissenschaftlichen Prinzipien und Methoden orientiert.

Der Kerngedanke: Forscher sollten nicht immer an die Erkenntnisse ihrer Vordenker anknüpfen, denn das begrenze den Spielraum für neue Ideen. Die traditionelle Forschung leide unter solchen Konventionen, vor allem darunter, die Befunde der einflussreichsten Fachleute bevorzugt zu berücksichtigen und originelle eigene Ideen zu vernachlässigen. Viele bahnbrechende Erkenntnisse stammten von Außenseitern wie Albert Einstein, argumentiert Krpan. »Im Allgemeinen scheint sich Wissenschaft dann weiterzuentwickeln, wenn Außenseiter, die nicht mit den dominierenden Forschern ihres Felds arbeiten, neue Ideen einbringen.«

Ähnliche Überlegungen stellte ein Forschungsteam 2019 im »American Economic Review« an. »Bringt jede Beerdigung einen Fortschritt für die Forschung?«, so lautet der Titel der Studie von Pierre Azoulay vom Massachusetts Institute of Technology und seinen Kollegen. Ihre These: Erst das Ableben der Koryphäen erlaube es den Disziplinen, »sich in neue Richtungen zu entwickeln und die Grenzen des Wissens zu erweitern«. Fachkollegen, die konträre Ansichten vertreten, würden daraufhin häufiger zitiert.

Wie Krpan schreibt, hätten schon andere vor ihm auf das »System der fehlenden Diversität« hingewiesen. Mit handfesten Belegen könne er seine These zwar nicht untermauern, räumt er ein. Aber er sieht sie zum Beispiel in der Vielfalt der Sprachen und Kulturen bestätigt. Diese hätten sich nur deshalb so unterschiedlich entwickelt, weil viele von ihnen über Jahrhunderte wenig Kontakt hatten. Eine gänzlich »ungebundene« Psychologie hält er allerdings für ebenso falsch. Den größten Erkenntnisfortschritt brächte eine Kombination von beidem: auf den bewährten Pfaden weiterzugehen und neue Wege zu suchen.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.