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Polio: Was die Polioviren im Londoner Abwasser bedeuten

In vielen Ländern dieser Welt gelten Polioviren dank einer erfolgreichen Impfkampagne als ausgerottet. In London wurde der Erreger nun im Abwasser nachgewiesen. Droht ein neuer Ausbruch der Kinderlähmung?
End Polio now!
In nahezu allen Teilen der Welt gelten Polioviren, die die gefürchtete Kinderlähmung auslösen, als ausgerottet.

Der Kampf gegen die Kinderlähmung gilt als eine der großen Impf-Erfolgsgeschichten: Weltweit steht die Infektionskrankheit kurz vor der Ausrottung, Europa etwa ist bereits seit 1990 offiziell poliofrei. Doch nun haben Fachleute das Virus im Londoner Abwasser gefunden. Damit ist der Erreger zum ersten Mal seit 40 Jahren in Großbritannien wieder nachweisbar.

Der Eindruck, dass nun die gefürchtete Kinderlähmung wieder großflächig ausbricht, täuscht aber. Es ist nicht ungewöhnlich, dass immer mal wieder irgendwo auf der Welt Polioviren auftauchen – und das nicht trotz der globalen Ausrottungskampagne, sondern wegen ihr. Es ist auch nicht der erste derartige Fall in Europa.

Die weltweite Impfkampagne, die das wilde Poliovirus in fast allen Staaten der Erde ausgerottet hat, basiert auf einem Impfstoff mit vermehrungsfähigen Polioviren – die berühmte Schluckimpfung. Dieser Lebendimpfstoff enthält abgeschwächte Erreger, die sich jedoch noch fortpflanzen und sogar andere Menschen anstecken können. Etwa zwei bis sechs Wochen lang scheiden Geimpfte das Virus aus.

Warum man sich mit dem Impfstoff anstecken kann

Zwar gibt es einen weiteren Impfstoff, der inaktivierte Viren enthält – der aber muss in den Muskel injiziert werden. Die orale Aufnahme des Lebendimpfstoffs dagegen bietet erhebliche Vorteile, wenn man weltweit Millionen Kinder impfen will. Und tatsächlich ist es sogar ein positiver Nebeneffekt, dass sich das Virus noch verbreiten kann, denn auf diesem Weg impfen geimpfte Kinder einen Teil ihrer Familie mit. Ein Phänomen, das man als stille Feiung bezeichnet.

Außerdem schützt nur die Schluckimpfung zuverlässig vor einer Ansteckung. Der Totimpfstoff verhindert zwar die Erkrankung, nicht aber die Infektion, so dass Polioviren still zirkulieren können, wenn ausschließlich diese Vakzine verwendet wird. Deswegen nutzte man in den 1960er und 1970er Jahren mit Vorliebe den Lebendimpfstoff, um zusätzlich die wilden Polioviren zu unterdrücken. Nicht zuletzt ist das abgeschwächte Impfvirus nur wenig ansteckend und läuft sich in der Regel nach nur ein oder zwei Ansteckungen tot.

Aber eben nicht immer. In manchen Fällen werden die Viren wieder infektiöser und können sich unkontrolliert weiterverbreiten. Die in London aufgetauchten Viren waren solche Erreger, die sich aus einem der Impfviren entwickelt hatten, nämlich aus dem so genannten Typ 2. Das ist keineswegs eine Überraschung. Schon 2016 hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO vorhergesagt, dass es mehr Fälle mit diesem als VDPV2 (vaccine-derived poliovirus type 2) bezeichneten Erreger geben würde.

Weltweit existieren drei bekannte Subtypen von Polioviren, die alle ausgerottet werden müssen, damit die Krankheit völlig verschwindet. Deswegen enthielten die Impfungen bisher diese drei Virentypen. Allerdings ist der wilde Polio-Typ 2 vor einigen Jahren ausgerottet worden – damit hat das Typ-2-Impfvirus keine Funktion mehr, sondern birgt nur noch die Gefahr, dass sich VDPV2 bildet.

Ein Nebeneffekt der Ausrottung

Deswegen beschloss die WHO weltweit auf einen Lebendimpfstoff umzustellen, der lediglich Typ 1 und Typ 3 enthält. Zusätzlich sollte mit einem inaktivierten, nicht vermehrungsfähigen Impfstoff gegen Typ 2 vorgegangen werden, um Ausbrüche von VDPV2 möglichst zu unterbinden. Allerdings klappte diese Umstellung nur zum Teil: Manche Staaten verbrauchten erst den Dreifach-Impfstoff, weil einfach nicht genug vom Totimpfstoff vorhanden war.

Es war bereits abzusehen, dass es in der Zeit nach der Umstellung mehr Ansteckungen mit VDPV2 geben würde. Die Vakzine mit dem inaktivierten Virus erzeugt keine ausreichende Schleimhautimmunität. Eine Infektion ist daher weiterhin möglich. Und tatsächlich verzeichneten die Behörden seit dem Jahr 2018 einen deutlichen Anstieg der Infektionen mit diesen vom Impfstoff abstammenden Polioviren auf weltweit deutlich mehr als 1000 Fällen im Jahr 2020. Doch die Erreger sind immer noch sehr mild und verursachen meist keine Symptome. Deswegen tauchen sie nicht in Kliniken auf, sondern im Abwassermonitoring.

Trotzdem sind solche Fälle ein Problem und müssen zügig bekämpft werden. Die sich frei entwickelnden Impfviren sind nicht völlig harmlos. Sie können langsam wieder aggressiver werden und dann in seltenen Fällen eben doch eine Kinderlähmung auslösen. Erst 2021 erkrankten zwei Kinder in der Ukraine so schwer, dass sie Lähmungen davontrugen.

Die Viren im Abwasser sind deswegen ein wichtiges Frühwarnsystem. Normalerweise bleibt noch genug Zeit, den Ausbruch einzudämmen, bevor es eine symptomatische Erkrankung gibt – weil diese trotz allem selten sind. Dazu musste man bislang allerdings wieder den Lebendimpfstoff einsetzen, weil der inaktivierte Impfstoff das Virus nicht effektiv aufhält. Das birgt dann die Gefahr eines neuerlichen VDPV2-Ausbruchs.

Neue Impfstoffe sind in der Entwicklung

Seit ein paar Jahren gibt es allerdings einen Ausweg aus dem Teufelskreis: einen Lebendimpfstoff, der gezielt genetisch verändert ist und dadurch nicht nennenswert evolvieren kann. Bisher ist diese als nOPV (novel oral polio-vaccine) bezeichnete Impfung nur vorläufig und nur in einigen wenigen Ländern zugelassen. Aber sie hat das Potenzial, auch die noch zirkulierenden Impfviren ein für alle Mal zu beseitigen.

Bis dahin werden weiterhin immer mal wieder Viren wie VDPV2 auftauchen. Das kann tragische Folgen haben, wenn man sie nicht rechtzeitig bemerkt. In den meisten Fällen sind Ausbrüche wie in London jedoch nur ein harmloser Nebeneffekt der Kampagne zur Ausrottung von Polio, die das Virus inzwischen in nahezu allen Ländern der Welt nachhaltig ausgelöscht hat.

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