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Multiple Persönlichkeiten: Zersprungene Seele

Die dissoziative Identitätsstörung wirkt so unglaublich, dass manche immer noch an ihrer Existenz zweifeln. Langsam enthüllen Forscher jedoch, wie die innere Spaltung entsteht.
Teile des Selbst

Als Lina noch zur Schule ging, gab sie ihren Lehrern Rätsel auf. Mal absolvierte sie eine Mathearbeit fehlerfrei, wenig später reichte es gerade so für eine Fünf. Am einen Tag schrieb sie mit rechts, am nächsten hielt sie den Füller in der linken Hand. Zeitweise waren Buchstaben und Zahlen mit kunstvollen Schnörkeln versehen, dann verschwanden die Ornamente in ihrer Handschrift wieder. Später, nachdem sie ihr Studium begonnen hatte, wunderte sie sich häufig über sich selbst. »Einmal stand ich extra früh auf, um ein Referat vorzubereiten – da lag der fertige Text schon im Drucker«, erzählt sie. Lina realisierte damals noch nicht, dass anderen Menschen nicht immer wieder wie ihr Stunden, Tage oder Wochen fehlen. Dass sie nicht an unbekannten Orten aufwachen, ohne zu wissen, wie sie dort hingekommen sind. Dass sie in ihrer Wohnung nie CDs von Bands finden, die sie eigentlich hassen, oder dass Kellner im Restaurant ihnen keine Gerichte bringen, die sie nie bestellt hätten.

Erst mit 20 erfährt sie, dass sie nicht allein in ihrem Körper ist. Ihre damalige Psychotherapeutin schöpft Verdacht, nachdem die Patientin offenbar keinerlei Erinnerungen an die letzte Sitzung hat. Lina, die heute Mitte 40 ist und eigentlich anders heißt, hat eine »dissoziative Identitätsstörung«. Unter dem früher gebräuchlichen Namen »multiple Persönlichkeit« ist das Phänomen zum festen Bestandteil der Popkultur geworden. Figuren wie der Frauenmörder Norman Bates aus Alfred Hitchcocks »Psycho« oder der janusköpfige Arzt Dr. Jekyll und sein Alter Ego Mr. Hyde prägen die Vorstellung von der Erkrankung. Während das Stigma vieler psychischer Krankheiten langsam zu bröckeln beginnt, ist die dissoziative Identitätsstörung eine der letzten, für die es noch kaum Verständnis gibt.

Dabei ist die Störung keineswegs selten: Schätzungen zufolge entwickelt sie etwa einer von 100, Frauen häufiger als Männer. Die Persönlichkeitsspaltung entsteht schon in der frühen Kindheit. Betroffene besitzen laut der aktuellen Version des Diagnostischen Manuals Psychischer Krankheiten (DSM-5) mindestens zwei, oft aber viel mehr Identitäten, zwischen denen sie meist unwillkürlich hin- und herwechseln. Dabei kommt es zu typischen Gedächtnislücken – denn die eine Innenperson, wie eine Teilpersönlichkeit auch genannt wird, kann sich nicht daran erinnern, was die andere getan hat. Viele Betroffene wissen bis zur Diagnose nicht einmal, dass sie sich ihren Körper mit anderen teilen.

Ein Körper, viele Geister

Die verschiedenen Persönlichkeitsanteile sind dabei nicht bloß unterschiedliche Facetten eines Menschen, sondern jeweils komplexe, vielschichtige Charaktere. Jede Innenperson besitzt ein eigenes Alter und Geschlecht sowie besondere Vorlieben und Ansichten. Ein Wechsel ist für Außenstehende meist gut erkennbar: Es wirkt, als würde ein anderes Wesen die Kontrolle über den Körper übernehmen. Oft verändern sich Haltung und Mimik, eine feste und sonore Stimme kann plötzlich zu einem zarten Hauchen werden. Es gibt auch deutliche physische Effekte: Innenpersonen können etwa eigene Allergien haben. Einige sind blind oder gelähmt, während der Rest keine Behinderung hat. Die Pupillen mancher sind eher klein, die anderer weit gestellt. Betroffene und Therapeuten berichten sogar, sie hätten zuweilen den Eindruck, beim Wechsel ändere sich die Augenfarbe – etwa von einem tiefen Blau zu einem hellen Türkis.

Wer das schwer zu glauben findet, ist damit nicht allein. Selbst Teile der Fachwelt sind bis heute skeptisch. Ihre These: Die Medien haben das Krankheitsbild erschaffen. Dafür spreche der berühmte Fall Sybil – die Geschichte von Shirley Mason, einer Frau aus Minnesota mit angeblich 16 Persönlichkeiten. Nach Erscheinen des Bestsellers »Sybil« im Jahr 1973 meldeten sich tausende Amerikanerinnen und Amerikaner, die behaupteten, ihnen ginge es ähnlich wie der Protagonistin. In den 1980er Jahren, als die multiple Persönlichkeit erstmals zur offiziellen Diagnose wurde, wurden es zehntausende – es war ein Hype um eine Krankheit, von der die Öffentlichkeit nicht genug bekommen konnte. Heute spricht einiges dafür, dass hinter dem Fall Sybil ein großer Betrug steckt. Masons Psychiaterin hatte ihre Patientin offenbar zu entscheidenden Aussagen verleitet und vom Verkauf ihrer Geschichte profitiert.

»Einmal stand ich extra früh auf, um ein Referat vorzubereiten – da lag der fertige Text schon im Drucker«Lina, Betroffene

Anhänger des »soziokognitiven Modells« halten das für keinen Einzelfall. Sie vermuten: Therapeutinnen und Therapeuten, die von der Existenz der multiplen Persönlichkeiten überzeugt sind, suggerierten ihren Patienten falsche Erinnerungen und brächten sie dazu, die innere Spaltung zu spielen, bis sie selbst daran glaubten. Sogar renommierte Fachleute wie die Gedächtnisforscherin Elizabeth Loftus meinen, dass die dissoziative Identitätsstörung auf Einbildung fußt.

Nicht bloß Schauspielerei oder Suggestion

»Dabei ist diese Idee eigentlich schon längst entkräftet«, widerspricht Yolanda Schlumpf von der Universität Zürich. Die Neuropsychologin ist eine von wenigen Fachleuten weltweit, die sich auf die Erforschung der Störung spezialisiert haben. Dass die Patienten bloß verschiedene Rollen spielen, widerlegten etwa Forscher um die Neurowissenschaftlerin Simone Reinders vom King's College in London 2012. Sie verglichen die Hirnaktivität von 11 Menschen mit der Diagnose mit der von 18 nicht Betroffenen, die einen Persönlichkeitswechsel imitieren sollten. Ein Teil der gesunden Probanden hatte eine besonders stark ausgeprägte Fantasie. Doch selbst die Imaginativsten unter ihnen konnten nicht das charakteristische Aktivierungsmuster erzeugen, das bei den Patienten auftrat. Nicht einmal professionellen Schauspielern gelingt es, verschiedene Rollen so glaubhaft zu verkörpern, dass Hirnscans sie nicht von jenen mit der Störung unterscheiden können. Der Wechsel betrifft nämlich nicht nur das vordergründige Gebaren. Es werden unterschiedliche neuronale Netzwerke aktiv, das Gehirn verarbeitet Reize plötzlich anders, und Puls, Blutdruck und sogar die Sehschärfe verändern sich sprunghaft.

Eine dissoziative Identitätsstruktur geht aus seelischem Leid hervor, das Kindern bereits vor dem fünften Lebensjahr zugefügt wurde. Besonders schwer wiegen Erlebnisse, bei denen Bezugspersonen die Kleinen absichtlich verletzen. Solche frühkindlichen Misshandlungen haben eine ausgesprochene Zerstörungskraft, so Yolanda Schlumpf. »Das ist Gift für die Psyche«, betont sie. Typischerweise haben Menschen mit multipler Persönlichkeit sexuellen Missbrauch durch Familienmitglieder erlebt, viele wurden Opfer von ritueller Gewalt, Folter, Vergewaltigung oder Kinderprostitution – nicht selten steckt organisiertes Verbrechen dahinter.

Die Täter

In Täterkreisen ist die dissoziative Identitätsstörung bekannt. Teilweise führen sie die Spaltung bewusst herbei, indem sie bestimmte Schlüsselreize verwenden, um weitere Innenpersonen zu erschaffen und diese je nach Situation hervorzuholen. So können sie die Kinder, die sie misshandeln, besser kontrollieren und sicherstellen, dass man ihnen die Traumatisierung im Alltag nicht sofort anmerkt. Überlebende mit einer dissoziativen Identitätsstörung zeigen die Täter nach ihrem Ausstieg oft nicht an, weil sie sich vor den Konsequenzen fürchten. Selbst wenn sie es versuchen, finden sie selten Gehör. Das Problem: Zeugenaussagen werden nach bestimmten Glaubwürdigkeitskriterien bewertet, die Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung kaum erfüllen können. Sie haben Amnesien, was die Taten betrifft, können die Erinnerungsfragmente oft erst nach jahrelanger Psychotherapie zusammensetzen, was vor Gericht als Beeinflussung gedeutet werden kann, und es fällt ihnen besonders schwer, eine kohärente Geschichte zu erzählen. In der Schweiz hat sich deshalb ein Netzwerk formiert, in dem Betroffene, Therapeuten, Polizei und Justiz zusammenarbeiten, um die strafrechtliche Verfolgung möglich zu machen: https://nko.swiss

»So war es auch bei mir«, berichtet Lina. Details möchte sie zum Schutz ihrer Identität nicht verraten. »Ich hatte immer wieder seltsame Narben und unerklärliche Verletzungen. Wenn ich Erinnerungen an die Gewalt hatte, die mir angetan wurde, waren sie vage und unwirklich.« Dass ihre Erlebnisse echt waren, kam erst ans Licht, als eine Sozialarbeiterin Linas Ausführungen ernst nahm und man in einem Waldstück Belege für ihre Aussagen fand: Platzpatronen von einer Scheinerschießung. Laut Lina hatten die Täter dort ein Opfer eingeschüchtert, das sich an die Polizei wenden wollte.

Was Betroffene erlebt haben, ist so schlimm, dass die Berichte selbst für erfahrene Therapeutinnen und Therapeuten manchmal schwer zu ertragen sind, erzählt Michaela Huber. Sie hat sich auf die Behandlung der dissoziativen Identitätsstörung spezialisiert. »Ich denke, die Störung wird auch deshalb oft angezweifelt. Viele wollen nicht wahrhaben, dass so etwas Grausames tatsächlich passiert.« Wenn jemand früh im Leben Misshandlungen erlebt, gingen diese oft von den Eltern oder anderen nahestehenden Menschen aus. Die Zerrissenheit des Kindes, das die Bezugsperson einerseits liebt, andererseits mit aller Kraft von ihr wegwill, forciere eine innere Spaltung. »Dass die Persönlichkeit zerbricht, ist aber die falsche Metapher«, stellt die Traumatherapeutin klar. »Sie kann gar nicht erst zusammenwachsen.«

Tatsächlich haben Kleinkinder noch kein stabiles Ich. Wie vieles ist die Fähigkeit, sich als eigenständiges Wesen zu erkennen, schon vor der Geburt in uns angelegt. Um sie zu entwickeln, brauchen wir jedoch Menschen, die sich liebevoll um uns kümmern, sagen Entwicklungspsychologen. Wer nie eine geschützte Umgebung erlebt hat, wer eine Grausamkeit nach der anderen erduldet und am nächsten Tag trotzdem in die Schule muss, bleibt sozusagen in einzelnen Zuständen stecken. Denn nichts davon passt zusammen.

»Dass die Persönlichkeit zerbricht, ist die falsche Metapher. Sie kann gar nicht erst zusammenwachsen«Michaela Huber, Traumatherapeutin

Die aktuell vielversprechendste Theorie zur Störung teilt die Innenpersonen in zwei Gruppen ein: die »anscheinend normalen« und die »emotionalen« Persönlichkeitsanteile. Erstere stemmen den Alltag. Sie haben keine Erinnerung an die Gräuel und können so funktionieren. Letztere sind hingegen die Träger des Traumas. In ihnen bricht sich das Erlebte Bahn, sobald es getriggert wird. Solche Flashbacks ähneln denen von Menschen mit Posttraumatischer Belastungsstörung, bei denen ein Geruch, ein Geräusch oder eine Berührung plötzlich die Erinnerung ungebremst auf die Person einstürzen lässt. Betroffene spalten das Trauma ebenfalls ab. Das Geschehene wird deshalb nicht normal in das Gedächtnis integriert. Es wird immer wieder losgelöst erlebt – unabhängig von Kontext, Raum und Zeit – und wirkt für den Traumatisierten in dem Moment real und genauso bedrohlich wie damals.

Der Ursprung: Unbegreifliches Leid

Bei der dissoziativen Identitätsstörung, vermuten die Fachleute, ist diese Abspaltung noch tiefgreifender. Das Trauma geschieht so früh und ist so schwer, dass sich nicht nur die Erinnerung daran abkapselt, sondern um sie herum eine ganze Identität wächst. Das Unvorstellbare kann nicht Teil des Alltagsbewusstseins sein, sondern muss losgelöst existieren – sicher verpackt in einem anderen Wesen. Die Aufspaltung ist so einerseits eine Störung in der Persönlichkeitsentwicklung, andererseits ein seelischer Schutzmechanismus.

Dissoziation und Trauma

Bei der Dissoziation sind psychische Funktionen, die eigentlich zusammengehören, voneinander losgelöst. Eine solche Abspaltung kann die Wahrnehmung, das Gedächtnis oder auch Bewusstsein und Identität betreffen. Menschen dissoziieren vor allem in lebensbedrohlichen Situationen. Dann werden Teile des Erlebten vorübergehend aus dem Alltagsbewusstsein herausgehalten. Das passiert zum Beispiel, wenn man kurz nach einem Unfall erst keine Schmerzen spürt. Sind Flucht oder Kampf nicht mehr möglich, kann es zum regelrechten Shutdown kommen. Wahrnehmung, Empfinden und Reaktionsfähigkeit werden während dieser Schockstarre heruntergefahren. Dieses Notfallprogramm der Natur ist in manchen Extremsituationen sinnvoll, es kann aber außer Kontrolle geraten. Bei dauerhafter Gefahr – wenn Kinder ständig Vernachlässigung und Gewalt ausgesetzt sind – wird Dissoziation häufig zum zentralen Überlebensmechanismus.

Die Träger des Traumas erinnern sich an das, was passiert ist. Sie bleiben zum Beispiel Kinder, die tief vom Erlebten erschüttert sind. Manchmal treten emotionale Anteile als Beschützer auf und verteidigen in Momenten echter oder gefühlter Bedrohung »das System«, also den Betroffenen mit all seinen Persönlichkeiten. Solche Innenpersonen sind häufig männliche Teenager. »Bei mir war das der 16-jährige Bo«, erzählt Lina. »Bo ist ziemlich taff. Er macht Kampfsport, raucht und trinkt seinen Kaffee schwarz.«

Tatsächlich folgt die Spaltung oft einem bestimmten Muster. Neben traumatisierten oder unbeschwerten Kindern, jugendlichen Beschützern und unbedarften Alltagspersönlichkeiten gibt es eine weitere Art von Innenperson, die besonders irritiert: Aus ihr scheinen die Täter direkt zu sprechen. Sie sagt Dinge wie »Dass man dir weh getan hat, geschieht dir genau recht. Du hast es nicht besser verdient«. »Es handelt sich dabei um so genannte täterimitierende Anteile«, erklärt Michaela Huber. Sie entstehen, weil sich eine Person unbewusst sogar mit einem Angreifer identifiziert. »Schwersttraumatisierte Kinder spalten auch diese Anteile komplett ab, wodurch eine Art Feind im Innern entsteht.« Der ursprüngliche Riss begünstigt offenbar eine immer stärkere Fragmentierung der Identität und lässt so mehr und mehr Innenpersonen entstehen.

»Wir Therapeuten müssen Betroffenen zunächst helfen, Brücken zwischen den einzelnen Innenpersonen zu bauen. Erst dann können sie nach und nach anfangen, zu kommunizieren und zu kooperieren«Michaela Huber, Traumatherapeutin

Personenwechsel im Hirnscanner

2014 führte Yolanda Schlumpf mit Kollegen eine Studie durch, um die Theorie der zwei Arten von Innenpersonen zu überprüfen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schauten sich die Hirnaktivität von Betroffenen mittels funktioneller Magnetresonanztomografie an. Dabei sollten 15 Probandinnen zunächst einer Alltagspersönlichkeit die Kontrolle übergeben, bevor diese zurücktrat und eine traumatisierte Innenperson in den Vordergrund rückte. Eine der Versuchsteilnehmerinnen war Lina. »Zu dem Zeitpunkt konnte ich schon bestimmte Innenpersonen nach vorne kommen lassen. Das heißt, sie haben quasi den Körper übernommen, während andere wie hinter einem großen Fenster alles sahen und hörten. Das bewusst zu steuern, habe ich in der Therapie gelernt«, berichtet sie. Ein Anteil namens Kira legte sich in den Hirnscanner. Sie gehört zu Linas Alltagsteam, bleibt stets ruhig und besonnen, hat langes blondes Haar, ist Veganerin und Buddhistin. Auf Bitten der Versuchsleiter übernahm anschließend Rosa den Körper. Das sechsjährige Mädchen kann sich gut an die Gewalt erinnern, die es erlebt hat.

Die Messungen offenbarten Veränderungen der Hirnaktivität, die gut zur so genannten Theorie der strukturellen Dissoziation passt. Bei emotionalen Persönlichkeitsanteilen wie der traumatisierten Rosa war die Aktivität im dorsomedialen Präfrontalkortex und im orbitofrontalen Kortex erhöht. Diese Regionen im Vorderhirn bestimmen mit, was wir als bedrohlich einschätzen. Das Forscherteam wertete das als Hinweis darauf, dass diese Art von Innenpersonen sich vermehrt auf Gefahren fokussiert. Im Vergleich zum Alltagsteam waren bei den emotionalen Persönlichkeiten zudem der somatosensorische und der motorische Kortex stärker aktiv – Areale für das Spüren und Agieren im eigenen Körper. Solche Anteile stehen womöglich mehr in Kontakt mit ihren Emotionen und Körperempfindungen, während Alltagspersönlichkeiten wie die unbeschwerte Kira eher abgekoppelt von ihrer eigentlichen Gefühlswelt sind. Die höhere Erregtheit zeigt sich bei Innenpersonen wie Rosa auch in körperlichen Stresszeichen wie einem beschleunigten Puls und einem erhöhten Blutdruck.

»Die Hirnaktivität des emotionalen Persönlichkeitsanteils erinnert stark an Muster, die wir bei Patienten mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung sehen«, erklärt die Studienleiterin Yolanda Schlumpf. Man geht heute davon aus, dass die beiden Störungen eng miteinander verwandt sind. Das Bindeglied bildet der dissoziative Subtyp der Posttraumatischen Belastungsstörung. Er entsteht häufig durch besonders frühe und schwere zwischenmenschliche Traumatisierungen. Während das Syndrom üblicherweise von emotionaler Erregung und Wiedererleben des Traumas geprägt ist, steht bei dissoziativen Fällen die Abspaltung vom Erlebten im Vordergrund. Das zeigt sich ebenfalls im neuronalen Unterdrücken der belastenden Erinnerungen und Gefühle. Bestimmte präfrontale Hirnareale werden bei den Betroffenen vermehrt aktiv. Sie wirken auf subkortikale Systeme für Angst und Schmerz ein, darunter die Amygdala. Der entscheidende Unterschied ist, dass es bei der dissoziativen Identitätsstörung zusätzlich zu einer Aufspaltung in mehrere anscheinend normale Persönlichkeitszustände kommt. Jeder dieser Anteile hat ein eigenes Ich-Bewusstsein.

In den Gehirnen Betroffener finden sich noch weitere Gemeinsamkeiten. Sowohl Multiple als auch Menschen mit Posttraumatischer Belastungsstörung haben etwa einen auffallend kleinen Hippocampus. Die Hirnregion gehört zum limbischen System und verarbeitet Emotionen und Erinnerungen. Extremer Stress führt womöglich dazu, dass dort angesiedelte Neurone absterben und weniger neue gebildet werden. Eine 2021 erschienene Analyse mehrerer Studien ergab, dass das Hippocampusvolumen bei Personen mit einer dissoziativen Identitätsstörung noch geringer war als bei jenen mit Posttraumatischer Belastungsstörung.

»Ich hatte immer wieder seltsame Narben und unerklärliche Verletzungen. Wenn ich Erinnerungen an die Gewalt hatte, die mir angetan wurde, waren sie vage und unwirklich«Lina, Betroffene

Der Psychotherapeut als Vermittler zwischen Persönlichkeitsanteilen

Die durch eine Persönlichkeitsspaltung entstehenden Probleme lassen sich mit angemessener Therapie lindern. Eine solche hat zwei große Ziele: die Aufarbeitung des Traumas und die Vermittlung zwischen den verschiedenen Innenpersonen. Die Behandlung ähnele der einer Posttraumatischen Belastungsstörung, erklärt Michaela Huber. »Wir Therapeuten müssen den Betroffenen aber zunächst helfen, Brücken zwischen den einzelnen Innenpersonen zu bauen. Erst dann können sie nach und nach anfangen, zu kommunizieren und zu kooperieren.« Dabei geht sie auf jede Innenperson individuell ein. Im Anschluss gibt Huber zum Beispiel der einen weiter, was die andere gesagt hat, oder bittet so viele wie möglich, gleichzeitig zuzuhören, damit sie lernen, sich innerlich aufeinander zu beziehen. Das Ziel ist nicht eine Fusion der Anteile, bei der schlussendlich eine Persönlichkeit übrig bleibt. Im Inneren wird es weiterhin ein Wir bleiben, dessen Teile sich aber hoffentlich immer besser austauschen. Am Ende einer mehrjährigen Therapie gelingt es manchen Betroffenen, ein normales, selbstbestimmtes Leben zu führen. Eine solche Behandlung bleibt vielen Patienten aber noch verwehrt. »Es braucht mehr gut geschulte Therapeuten und mehr psychiatrische Einrichtungen, die sich mit der Thematik auskennen«, fordert Yolanda Schlumpf deshalb.

Wer ist Lina heute nach erfolgreicher Psychotherapie? »Schwer zu sagen«, meint sie. »Wir sind näher zusammengerückt.« Die Wände, die ihre Anteile vorher trennten, seien durchlässiger geworden. Nach dem Ausstieg aus dem Gewaltmilieu musste sie offiziell eine neue Identität annehmen. Ihr inneres Team entschied dabei gemeinsam, wie sie von nun an heißen sollte. Heute promoviert sie an einer deutschen Universität in Pädagogik und hält nebenbei Vorträge in Traumazentren. In ihrem Umfeld kennt niemand die Details ihrer Vergangenheit. Die Wechsel sind mittlerweile so subtil, dass Außenstehende nichts bemerken. Ihr inneres Team gibt ihr Rückhalt. Kann einer etwas nicht so gut, springt ein anderer ein. So kann Lina nun nicht nur alles, was ihre vielen Anteile können. Sie weiß heute auch, was ihre inneren Beschützer so dringend vor ihr zu verbergen versuchten.

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  • Quellen

Blihar, D. et al.: A meta-analysis of hippocampal and amygdala volumes in patients diagnosed with dissociative identity disorder. Journal of Trauma & Dissociation 22, 2021

Reinders, A. S. et al.: Fact or factitious? A psychobiological study of authentic and simulated dissociative identity states. PLOS ONE 7, 2012

Reinders, A. A., Veltman, D. J.: Dissociative identity disorder: Out of the shadows at last? The British Journal of Psychiatry 219, 2020

Schlumpf, Y. R. et al.: Dissociative part-dependent resting-state activity in dissociative identity disorder: A controlled FMRI perfusion study. PLOS ONE 9, 2014

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