Verschwörungstheorien: »Das Ergebnis ist vorgegeben, die Fakten werden angepasst«
Rund jeder zehnte Deutsche widerspricht wissenschaftlichen Fakten wie dem menschengemachten Klimawandel, so das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung. Wie sollten die Medien mit Meinungen umgehen, denen gesicherte Erkenntnisse entgegenstehen? Der Wissenschaftsjournalist Dirk Steffens, bekannt als Moderator und Dokumentarfilmer der ZDF-Dokureihe »Terra X«, hat dazu eine klare Haltung.
Esoterikgläubige, Verschwörungstheoretiker und Nazis demonstrieren derzeit gemeinsam gegen die deutsche Regierung. Was läuft da falsch?
Man sollte meinen, dass die drei Gruppen nichts miteinander zu tun haben. Doch was sie verbindet, ist der Zweifel an allgemein akzeptierten Wahrheiten, an Institutionen und Behörden, an Politik und Medien. Deshalb ist es zwar kurios, aber auch nicht erstaunlich, dass sie gemeinsam demonstrieren. Was sie letztlich zum Ausdruck bringen wollen: Dieses System betrügt uns, wir wollen es abschaffen. Für alles haben sie dasselbe Erklärungsmuster. Sie weisen einer bestimmten Gruppe kollektiv die Schuld zu: der Regierung, den Behörden, Reichen, Eliten, Moslems oder Juden. Darin liegt das verbindende Element von Verschwörungstheorien und totalitären Weltanschauungen, und deshalb sind sie gefährlich.
Tragen die Medien dazu bei, dass sich diese Anschauungen verbreiten?
Ja. Was die Medien falsch gemacht haben, kann man gut an vergangenen Diskussionen um die Klimakrise aufzeigen. Ich habe selbst bis vor wenigen Jahren als Gast in Talkshows erlebt, dass Journalistinnen und Journalisten von »abweichenden wissenschaftlichen Meinungen« zum Thema menschengemachter Klimawandel sprachen. Wie im Politikjournalismus glaubte man, das gesamte Spektrum abbilden zu müssen und die Wahrheit irgendwo in der Mitte zu finden. Aber für die Wissenschaft gilt: Die Wahrheit liegt allein in der Wahrheit. Es kommt nur Unsinn dabei heraus, wenn man die Mitte sucht zwischen einer kugelförmigen und einer scheibenförmigen Erde. Zu glauben, man müsse auch abseitigen Ansichten eine Plattform bieten, ist ein journalistischer Kernfehler. Das schafft den Eindruck, dass der Unsinn eine Berechtigung hat.
»Wir müssen uns fragen, ob wir abseitigen Meinungen ein Forum geben wollen«
In einem Interview mit dem Deutschen Journalistenverband sagten Sie: »Wir dürfen unsere Zeit nicht mit Vollidioten verschwenden.« Damit meinten Sie Klimaforschungsleugner. Gilt das auch für Coronavirusleugner?
Selbstverständlich. Wir dürfen unsere Zeit nicht mit Idioten verschwenden, nicht bei der Klimakrise, nicht beim Artensterben, nicht bei der Corona-Krise. Die Probleme sind zu groß und zu wichtig. Wir müssen überlegen, wann wir die Schulen aufmachen und wo wir Mundschutz tragen sollten. Dazu kann man auch verschiedener Meinung sein. Dass das Coronavirus nicht existiere oder harmlos sei, kann man allerdings nicht als Meinung gelten lassen.
Wo wollen Sie die Grenze ziehen? Wann wäre es falsch, Pro und Kontra darzustellen?
Immer dann, wenn eine Seite ganz offensichtlich Unsinn ist. Wir müssen uns als Journalisten und Journalistinnen fragen, ob wir abseitigen Meinungen ein Forum geben wollen. Es entsteht schon fast der Eindruck, als lehne eine breite Bevölkerungsgruppe die Corona-Schutzmaßnahmen der Bundesregierung ab. Das ist falsch. Laut einer Umfrage der Universität Erfurt halten 17 Prozent die Maßnahmen für übertrieben. Eine Minderheit, die so laut ist, dass sie in den Medien wie eine große Bewegung erscheint. Aber das ist keine relevante Strömung in Deutschland.
»Für mich gibt es eine Grenze, wenn die Meinung Menschen verachtend ist«
Wann können wir dann überhaupt über Verschwörungstheorien berichten?
Wir können als Journalistinnen und Journalisten nicht verschweigen, was uns begegnet. Wir haben jedoch manchmal eine bedenkliche Lust daran, über Abseitiges zu berichten, weil das interessante Geschichten sind, die gerne gelesen und angeschaut werden. Wir geben dieser Neigung zu oft nach. Da schließe ich mich ausdrücklich mit ein. Wir sollten häufiger abwägen, ob wir dafür die Wahrheit opfern wollen.
Bekommen Sie Zuschriften von Zuschauern, die auch Sie als Person als Teil einer Verschwörung betrachten?
Ja, selbstverständlich. Das erstreckt sich von Beleidigungen bis hin zu Morddrohungen. Ich berichte bei den Mainstream-Medien über Mainstream-Wissenschaft und bin damit eine perfekte Projektionsfläche, vor allem für rechte Verschwörungstheorien. Aber 90 Prozent der Drohungen und Schmähungen stammen von zehn Prozent der Leser, und die 90 Prozent Vernünftigen melden sich selten oder nie. So entsteht ein verzerrtes Bild der öffentlichen Meinung. Über einen Shitstorm bei Facebook oder Twitter liest man auch in seriösen Medien; so wird er Teil des öffentlichen und damit auch des politischen Diskurses. Da ist journalistische Verantwortung gefragt. Nur weil ein paar tausend Menschen im Internet auf etwas schimpfen, ist das noch lange kein Grund für Berichterstattung.
Wie gehen Sie damit um, wenn Sie solche Mails bekommen?
Sobald die Zuschriften mich oder andere Personen beleidigen, bedrohen oder Fäkalsprache benutzen, sperre ich die Absender. Würde ich auf alle einzeln eingehen, könnte ich sonst nichts mehr tun. Stattdessen versuche ich mit meiner Arbeit aufzuklären: Warum glaubt der Mensch so gerne an Verschwörungstheorien? Dazu haben mein Kollege Harald Lesch und ich eine »Terra X«-Sendung gedreht.
Wie halten Sie es privat, wenn ein Freund oder Familienmitglied eine Ansicht vertritt, die für Sie inakzeptabel ist?
Wenn jemand aus dem Freundes- oder Familienkreis sagen würde: Die Amerikaner sind doch gar nicht auf dem Mond gelandet? Dann fühle ich zunächst vor, ob die Person Sachargumenten zugänglich ist. Ist das nicht der Fall, versuche ich das Thema zu umgehen. Manche Verschwörungsfantasien kann man einfach ignorieren. Aber für mich gibt es eine Grenze, wenn die Meinung Menschen verachtend ist oder wenn Kinder zuhören. Zum Beispiel, wenn jemand behauptet, die US-Regierung habe von den Terroranschlägen vom 11. September vorher gewusst und sie bewusst geschehen lassen. Er unterstellt damit einer demokratisch gewählten Regierung einen Massenmord. An diesem Punkt hört es auf, da fange ich an, mich zu streiten. Wenn daran Freundschaften zerbrechen, muss man das wohl in Kauf nehmen.
Ist Ihnen das schon passiert?
Ja.
Wie ist es mit Ansichten, die vor wenigen Jahren noch der Gesetzeslage entsprachen, zum Beispiel die gleichgeschlechtliche Ehe abzulehnen?
Das Prinzip ist dasselbe. Wenn jemand meint, Homosexuelle sollten nicht heiraten dürfen, dann ist das menschenfeindlich. Wir waren einmal für eine »Terra X«-Sendung im Süden der USA. Am Drehort haben uns die Einheimischen aufgenommen wie gute alte Freunde. Doch wäre ich schwul oder jüdischen Glaubens, dann wäre es anders gelaufen. Man darf sich nicht davon täuschen lassen, wenn Menschen nett erscheinen.
Argumente helfen in solchen Fällen nur selten. Der Versuch kann sogar nach hinten losgehen, wie eine Studie mit überzeugten Impfgegnern zeigte. Was bleibt da noch?
Wir müssen als Tatsache anerkennen, dass es eine kleine Gruppe von Menschen gibt, die sich Sachargumenten verschließt. Aus einer naiven pädagogischen Haltung heraus tun wir oft so, als könnten wir Rassisten und Verschwörungsfantasten mit guten Argumenten bekehren. Aber die Realität zeigt, dass das meist nicht funktioniert. Wir verschwenden unsere Zeit, wenn wir sie immer wieder mit Sachargumenten konfrontieren. Wir müssen uns fragen, wie wir mit ihren Äußerungen im Netz umgehen. Brauchen wir neue Gesetze, um menschenfeindliche Kommentare zu löschen und zu verhindern, dass QAnon-Anhänger ihre Ansichten verbreiten?
Mit der Corona-Pandemie breiten sich auch Verschwörungstheorien aus. Woran liegt das?
Das liegt zum einen am Internet als großem Katalysator. Zum anderen haben Verschwörungstheorien immer dann Konjunktur, wenn die Weltlage besonders unübersichtlich ist und als bedrohlich empfunden wird. Da ist die Corona-Krise geradezu modellhaft. Die Bedrohung kam aus einem fernen Land, und sie ist unsichtbar. Man wusste anfangs nicht, wie sie entstanden ist und wie wir uns schützen können.
Weshalb sollte eine Verschwörungstheorie helfen, mit der Situation klarzukommen?
In dieser Situation ist es verlockend, für die komplexe Sachlage eine einfache Erklärung zu finden. Zum Beispiel: Die Chinesen hätten das Virus in einem Geheimlabor in Wuhan entwickelt. Oder: Das neue Coronavirus gebe es gar nicht. Oder: Das Virus sei völlig ungefährlich. Der gemeinsame Kern von Verschwörungstheorien ist das Prinzip der Mustererkennung. Alles wird in dieses Muster eingefügt. In der Evolution hat sich das bewährt, in der komplexen und globalisierten Welt verleitet es jedoch zu Fehleinschätzungen.
Wie kommt man dagegen an?
Indem man sich zurücklehnt, alle Fakten betrachtet und nachdenkt. Das ist sehr lästig, Zeit raubend und anstrengend, deshalb vermeiden wir es gerne.
»Man muss sich immer wieder klarmachen, was die eigene Überzeugung ist – und dass sie falsch sein kann«
Sämtliche Fakten kritisch zu prüfen ist eine der journalistischen Pflichten. Aber wir sind alle Menschen mit eigenen Überzeugungen. Wie sorgen Sie dafür, dass Sie nicht das zur Wahrheit erklären, was Sie von vornherein für richtig halten?
Journalistinnen und Journalisten können nicht objektiv sein, auch ich natürlich nicht. Man muss sich immer wieder klarmachen, was die eigene Überzeugung ist – und dass sie falsch sein kann. Ich kann mich irren, und dann muss ich mich korrigieren. Das ist eine wichtige Haltung im Journalismus, weil er öffentlich wirkt und viele Menschen erreicht. Darin liegt allerdings auch ein Problem. Viele Verschwörungstheoretiker halten sich für unabhängige, kritische Denker. Das Anzweifeln ist zutiefst wissenschaftlich, aber auch zutiefst verschwörungstheoretisch. Der Unterschied: In der Wissenschaft ist Zweifel eine Methode, und das Ergebnis ist offen. Es setzt sich durch, was belegt und nicht falsifiziert werden kann. Bei der Verschwörungstheorie ist das Ergebnis vorgegeben, und die Fakten werden angepasst. Deshalb sind Menschen, die behaupten, das Coronavirus gibt es nicht, keine kritischen Denker, sondern Spinner.
Geht es im Journalismus zu viel um Gedanken und zu wenig um Taten? Das größte Problem in der Klimakrise ist doch längst nicht mehr, eine gemeinsame Wahrheit zu finden, sondern die fehlende Bereitschaft, daraus die Konsequenzen zu ziehen.
Ja, in der Ökologie haben wir kein Erkenntnisproblem, sondern ein Handlungsproblem. Wir haben das Problem verstanden und kennen die Maßnahmen, die notwendig wären, es zu lösen. Aber wir schaffen es nicht, weil wir zu bequem sind und zu kurzfristig denken. Dabei sind wir durchaus fähig zu radikalen Veränderungen, wie man in der Corona-Krise sehen konnte. Als die Bilder aus Italien kamen, gab es einen Schock. Zeitweise standen daraufhin 80 bis 90 Prozent des deutschen Flugverkehrs still. Das hätte niemand zuvor für möglich gehalten. Daraus können wir etwas lernen: Um sofort zu handeln, brauchen wir eine konkrete, sichtbare Bedrohung. Wir sind biologisch darauf geeicht, schnell zu reagieren, wenn wir uns akut bedroht fühlen. In solchen Momenten wird Wollen dann zu Können.
Was bedeutet das für die Klimakrise?
Die Wissenschaftskommunikation muss neue Wege finden, Fakten zu vermitteln. Die Europäische Umweltagentur hat gemeldet, dass rund jeder achte Todesfall in der EU mit Umweltbelastungen wie Luftverschmutzung zusammenhängt. Aber diese Zahlen sind nicht mit konkreten bedrohlichen Bildern verbunden. Deshalb fehlt der Handlungsimpuls.
Als Naturfilmer könnten Sie doch emotionale Bilder ins Fernsehen bringen?
Das versuche ich. Allerdings, wie ich Ihrer Frage entnehme, mit zu wenig Erfolg. Als ich ein kleiner Junge war, gab es Zeitungsberichte über Robbenjäger in Skandinavien. Irgendwann zeigte dann ein Fernsehbericht, wie die Jäger mit Knüppeln Robbenbabys erschlugen. Daraufhin brach in Deutschland ein Sturm der Entrüstung los, und niemand kaufte mehr Kleidung aus Robbenfell. Man braucht Emotionen, um Handlungsimpulse zu erzeugen. Im Journalismus dürfen wir emotionalisieren – vorsichtig und verantwortungsvoll. Aber vielleicht sind wir zu vorsichtig.
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