Direkt zum Inhalt

Zuckerkrankheit: Das rätselhafte Zusammenspiel von Covid-19 und Diabetes

In den ersten beiden Pandemiejahren sind die Fälle von Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen sprunghaft angestiegen. Die Ursachen dafür werfen immer noch viele Fragen auf.
Junge sitzt auf der Couch und misst mit einem Pen seinen Blutzuckerspiegel
Patienten mit Diabetes müssen ihren Blutzuckerspiegel regelmäßig überwachen.

Eine Studie mit mehr als 38 000 jungen Menschen hat nun bestätigt, was Forscherinnen und Forscher schon länger vermutet haben: Die Covid-19-Pandemie hat zu einem sprunghaften Anstieg der Fälle von Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen geführt. Zunächst gingen Fachleute davon aus, das Virus selbst sei dafür verantwortlich – doch das ist wahrscheinlich nicht der Fall. Dennoch liefern die Ergebnisse der Untersuchung neue Hinweise auf die Mechanismen hinter der Entstehung von Typ-1-Diabetes, die zum Teil immer noch viele Fragen aufwerfen.

Die Studie, die am 30. Juni 2023 im Fachmagazin »JAMA Network Open« veröffentlicht wurde, fasst Daten aus 17 früheren Untersuchungen zusammen. Dabei stellte sich heraus, dass die Inzidenz von Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen unter 19 Jahren im Jahr 2020, dem ersten Jahr der Pandemie, um etwa 14 Prozent höher war als noch im Jahr zuvor. Im zweiten Jahr der Pandemie stieg die Inzidenz noch stärker an, nämlich um 27 Prozent gegenüber 2019.

Das sei ein deutlich stärkerer Anstieg gewesen, als man erwartet hätte, erklärt Rayzel Shulman, die als pädiatrische Endokrinologin am SickKids Research Institute in Toronto, Kanada, arbeitet und Hauptautorin der Studie ist. Vor Covid-19 stieg die Inzidenz bei Kindern lediglich um rund zwei bis vier Prozent pro Jahr an. »Jetzt sehen wir plötzlich einen Anstieg um das Zehnfache«, sagt Clemens Kamrath, Diabetesforscher an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. »Das ist definitiv ein signifikanter Sprung, in einem Ausmaß und mit einer Geschwindigkeit, die man nicht für möglich gehalten hat.«

Auch Typ-1-Diabetes kommt in Wellen

Typ-1-Diabetes entsteht, wenn das körpereigene Immunsystem Zellen in der Bauchspeicheldrüse angreift, die das Hormon Insulin produzieren, das den Blutzuckerspiegel reguliert. Infolgedessen kann der Blutzuckerspiegel gefährlich schwanken, wodurch wiederum die Blutgefäße in Mitleidenschaft gezogen werden können. Langfristig führt eine unbehandelte Diabeteserkrankung damit bei manchen Patienten zu Nierenversagen, Herzinfarkten oder Erblindung. Auch Nervenschäden können die Folge sein, die im schlimmsten Fall eine Amputation von Gliedmaßen erforderlich machen.

Forscher äußerten erstmals die Befürchtung, dass Covid-19 Typ-1-Diabetes auslösen könnte, nachdem sich in den ersten Monaten der Pandemie ein Anstieg der Neuerkrankungen in mehreren Ländern abzeichnete. In anderen Untersuchungen wurde einige Monate nach dem Höhepunkt einer Covid-19-Welle auch ein sprunghafter Anstieg neuer Diabetesdiagnosen festgestellt. Doch keine Studie konnte bislang den Beleg dafür liefern, dass Sars-CoV-2 tatsächlich der direkte Auslöser dafür war oder dass das Virus die Zellen der Bauchspeicheldrüse nennenswert schädigte.

Shulman und ihre Kollegen beschränkten ihre Analyse auf Studien, die mindestens zwölf Monate vor und während der Pandemie Daten gesammelt hatten. Außerdem berücksichtigten sie nur Arbeiten, in denen die Größe der untersuchten Population und nicht nur die Fallzahlen angegeben waren – »damit wir wirklich wissen, ob es einen Anstieg der Inzidenz gab«, sagt die Endokrinologin.

Die Gruppe bestätigte nicht nur, dass die Häufigkeit von Typ-1-Diabetes-Fällen bei Kindern in den ersten beiden Jahren der Pandemie zunahm, sondern stellte auch fest, dass die Pandemie den saisonalen Rhythmus der Krankheit störte. Typ-1-Diabetes folgt normalerweise klaren saisonalen Mustern, mit höheren Raten von Neuerkrankungen im Winter als in den Sommermonaten. Fälle von Typ-2-Diabetes ließen die Forscherinnen und Forscher in ihrer Analyse unberücksichtigt. Dafür waren die Daten in den vorhandenen Studien schlicht zu dünn. Typ-2-Diabetes entsteht, wenn der Körper nicht mehr angemessen auf Insulin anspricht. Inaktivität und Fettleibigkeit zählen hier zu den Risikofaktoren.

Die Metaanalyse zeigte außerdem, dass Kinder, die Typ-1-Diabetes diagnostiziert bekamen, während der Pandemie tendenziell eher mit schwereren Verläufen der Erkrankung zu kämpfen hatten. So stieg etwa die Inzidenz der diabetischen Ketoazidose, einer potenziell lebensbedrohlichen Stoffwechselentgleisung bei neu auftretendem Typ-1-Diabetes, von 2019 bis 2020 um 26 Prozent an. Wahrscheinlich zögerten Betroffene oder waren nicht in der Lage, bei Auftreten der ersten Symptome medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine diabetische Ketoazidose ist prinzipiell vermeidbar – tritt sie auf, kann sie zu schweren Langzeitfolgen führen. »Das ist eigentlich eine der wichtigsten Erkenntnisse dieser Studie«, sagt Shulman.

Eine Coronainfektion könnte Autoimmunattacken begünstigen

Was den plötzlichen Anstieg der Diabetesfälle ausgelöst hat und wie lange dieser Trend anhalten könnte, sei noch unklar, sagt Shulman. Längerfristige Studien seien erforderlich, um festzustellen, ob die Inzidenz ein Plateau erreicht hat, zurückgeht oder weiter ansteigt, stimmt auch der Epidemiologe Sathish Thirunavukkarasu von der Emory University in Atlanta zu.

Manche Fachleute sind von den Ergebnissen noch nicht vollständig überzeugt. Der Epidemiologe Lars Stene, der sich am Norwegischen Institut für öffentliche Gesundheit in Oslo mit den Risikofaktoren für Typ-1-Diabetes befasst, hält einen Anstieg der Inzidenz von 14 Prozent in nur einem Jahr für »unplausibel«. Er erklärt, dass die Häufigkeit der Erkrankung ohnehin von Jahr zu Jahr stark schwankt und dass es zwischen den untersuchten Ländern zum Teil enorme Unterschiede in der Häufigkeit gibt.

Kamrath, der einen Kommentar zu der Metaanalyse verfasst hat, hält es inzwischen für »eher unwahrscheinlich«, dass Sars-CoV-2 die Bauchspeicheldrüsenzellen bei Kindern direkt schädigt. Studien aus Finnland, Schottland und Dänemark konnten keinen direkten Zusammenhang zwischen Coronavirus-Infektionen und der Zunahme von Typ-1-Diabetes herstellen.

Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass die Covid-19-Infektion einen Angriff des Immunsystems auf die Bauchspeicheldrüse auslöst

Wenn der jüngste Anstieg bei den Diabetesfällen nicht durch ein Virus verursacht wird, das die Bauchspeicheldrüsenzellen zerstört, eröffnet dies Forschern die Möglichkeit, andere Faktoren zu untersuchen, die für den jahrzehntelangen Anstieg von Diabetes bei Kindern verantwortlich sein könnten, sagt Shulman. Laut Thirunavukkarasu ist die wahrscheinlichste Erklärung, dass die Covid-19-Infektion einen Angriff des Immunsystems auf die Bauchspeicheldrüse auslöst. Ähnliches könne auch nach Infektionen mit anderen Erregern wie Enteroviren oder Hepatitisviren vorkommen.

Zu dieser Theorie passt auch, dass sich die Prävalenz einer speziellen Form von Typ-1-Diabetes während der Pandemie nicht verändert hat. Sie entwickelt sich, ohne dass das Immunsystem Antikörper gegen eigene Zellen bildet. Demzufolge ist der sprunghafte Anstieg von Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen vermutlich auf eine Zunahme von Autoimmunangriffen zurückzuführen, die durch Umwelt- oder Lebensstilveränderungen hervorgerufen wurden, sagt Kamrath.

Es könnte sein, dass die Pandemie den Ausbruch von Typ-1-Diabetes bei bereits gefährdeten Kindern beschleunigt hat oder dass aus unbekannten Gründen mehr Kinder Autoimmunreaktionen entwickeln als vor der Pandemie, sagt Shulman. Lockdowns und »social distancing« könnten dazu geführt haben, dass Kinder weniger mit anderen Atemwegserregern neben Covid-19 in Kontakt kamen, die vielleicht eine unbekannte Schutzwirkung hatten.

Fachleute nehmen derzeit auch weitere mögliche Auslöser in den Blick, darunter eine Ernährung mit stark verarbeiteten Lebensmitteln, Gewichtszunahme und Veränderungen des Darmmikrobioms, das ebenfalls einen Einfluss auf das Immunsystem hat. »Die Ernährungsgewohnheiten ändern sich, Fettleibigkeit nimmt zu«, sagt Thirunavukkarasu. Das gelte vor allem in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen wie Indien und Bangladesch, wo die Diabetesfälle bei Kindern schon lange vor der Pandemie zunahmen. »Es gibt nicht die eine Antwort für all das.«

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.