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Goldbergs Ikosaeder

Regelmäßiges Ikosaeder

Bekanntlich hat ein platonisches, also regelmäßiges, Ikosaeder 20 gleichseitige Dreiecke als Flächen, 30 Kanten und 12 Ecken (obige Abbildung).

Das gilt alles auch für das Ikosaeder von Michael Goldberg (1978), doch es gibt einige Unterschiede:

1. Es ist nicht konvex (dann hätte es nur Bergfalten), sondern hat vier Kanten als Talfalten.

2. Nicht alle Ecken sind deckungsgleich und 5-zählig, sondern es gibt acht 4-zählige, deckungsgleiche Ecken und vier Ecken mit jeweils immerhin sieben Kanten.

Dieses Polyeder hat eine höchst bemerkenswerte Besonderheit: Man kann es mit sanfter Gewalt zwischen drei stabilen Formen (von denen zwei zueinander deckungsgleich sind) wechseln lassen.

Können Sie ein solches Polyeder konstruieren?

Zum Bauen ist Karton sehr günstig. Die Kantenlänge sollte mindestens 10 Zentimeter betragen. Leider sind einige Winkel zwischen den Flächen für den Jovo-Baukasten zu spitz.

Um sich das Ganze vorzustellen, denken Sie sich zwei 5-zählige, aus gleichseitigen Dreiecken bestehende, Doppelpyramiden.

Diese seien entlang zweier Kanten, die die Pole miteinander verbinden, aufgeschnitten und dann an diesen Kanten miteinander verbunden: Man kann dabei an zwei Goldfische denken, die sich quer in ihre Mäuler verbeißen – oder auch einen überaus intensiven Zungenkuss.

Zum Bau des Goldberg-Ikosaeders schneiden Sie vier gleiche regelmäßige Sechsecke aus und entfernen daraus je ein Dreieck (oder verwenden Sie diese Bastelvorlage). Die übrigen "Speichen" werden zu Bergfalten. Verkleben Sie dann aber zuerst die Talfalten des fertigen Goldberg-Ikosaeders.

Dieses ist leicht verformbar, rastet aber auch bei präziser Anfertigung nur sehr schwach in den stabilen Formen ein. Zum Glück kann man diese aber leicht bestimmen. Plotten Sie dazu mit dem Computer (oder einem programmierbaren Taschenrechner) für eine aufgeschnittene 5-zählige Doppelpyramide die Öffnung (sozusagen die überzählige sechste Seite auf dem Äquator) als Funktion der Höhe zwischen den Polen und suchen Sie nach Schnittpunkten dieser Kurve mit ihrem Spiegelbild, das zur Umkehrfunktion gehört.

Hier zuerst die asymmetrische Form des Goldberg-Ikosaeders:

Man erkennt deutlich die zwei ineinander gesteckten Doppelpyramiden. Hier zwei Videos von verschiedenen Seiten:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Und dann die symmetrische Form des Goldberg-Ikosaeders:

Und zwei Videos aus unterschiedlichen Blickwinkeln:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Diese Animationen zeigen den Übergang zwischen der symmetrischen und der asymmetrischen Form:

© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz
© mit frdl. Gen. von Norbert Treitz

Kehren wir zurück zu der Vorstellung von den aufgeschnittenen Doppelpyramiden: Wenn der Abstand zwischen den beiden Ecken, die vorher nur eine waren – sozusagen die Maul-Öffnung – , \(2d\) ist, kann man die dazu gehörende Höhe \(2h\) zwischen den beiden Polen der (ehemaligen) Doppelpyramide berechnen. Die zweite Doppelpyramide muss genau die umgekehrten Werte haben. Ist das überhaupt möglich?

Die Höhe der richtigen (das heißt noch geschlossenen) Doppelpyramide sei \(a\). Mit diesen Bezeichnungen und dem pythagorischen Satz liefert der Computer diese Kurve für den Zusammenhang zwischen \(2h\) und \(2d\) und seine Umkehrung. Die untere Abbildung zeigt in rot und blau die möglichen Werte von \(2d\) (\(x\)-Achse) und \(2h\) (\(y\)-Achse) in Einheiten von \(a\) für die zwei Doppelpyramiden:

Tatsächlich schneidet die Kurve ihr Spiegelbild dreimal, es gibt also außer dem Fall \(2h = 2d = 0,655 a\) noch die beiden Fälle mit \(2d = 0,985 a\) und \(2h = 0,14 \)a und mit den umgekehrten Werten \(2h = 0,985 a\) und \(2d = 0,14 a\). Es gibt also drei exakte und stabile Formen, von denen die beiden mit den ungleichen Werten zueinander deckungsgleich sind.

Dass die Kurve sich nicht sehr weit von ihrem Spiegelbild entfernt, hat zur Folge, dass die Scharniere beim "gewaltsamen" Übergang nur wenig belastet werden. Die spitzen Schnittwinkel zwischen den Kurven bedeuten, dass in der Nähe der stabilen Formen mit nur wenig Gewalt deutliche Verformungen möglich sind. Goldbergs Ikosaeder ist also gleichermaßen tristabil und wackelig ("shaky").

Wie sieht es aus, wenn man statt 5-zähliger Doppelpyramiden 4- oder sogar nur 3-zählige nimmt?

Das entsprechende Diagramm für 4-zählige Doppelpyramiden ist folgendes:

Öffnung und Höhe sind also gleichermaßen 1,04-mal so groß wie die (überall gleiche) Kantenlänge. Die Werte an den Enden der Kurven entsprechen \(\sqrt{2}\) (vom Oktaeder) und 3 (wegen des Inkreisradius des regelmäßigen Sechsecks).

Da die Kurve ihr Spiegelbild nicht besonders streifend schneidet, ist das Polyeder nicht wackelig. Es ist nichtkonvex (vier Talfalten) und hat 16 gleichseitig-dreieckige Flächen, 24 Kanten und 10 Ecken (davon sechs 4-zählige und vier mit je sechs Kanten).

Nun bleiben noch die dreizähligen Doppelpyramiden:

Der Schnittpunkt zeigt an, dass Öffnung und Höhe um den Faktor 1,29-mal so groß sind wie die Kantenlängen. Das Neue gegenüber dem Bisherigen ist, dass es keine Talfalten gibt, das Polyeder ist also konvex und zählt daher zu der seltenen Gruppe (nur acht Mitglieder!) der konvexen Deltaeder. Es hat 12 Flächen, 18 Kanten und 8 Ecken, und zwar vier 4-zählige und vier mit fünf Kanten. Da es konvex ist und aus lauter regelmäßigen Vielecken besteht, aber weder platonisch noch archimedisch ist, gehört es (mit der Nummer 84) zu den 92 Johnson-Polyedern (siehe auch die Rätsel 266, 290, 517, 527 und 661).

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