Pythagoras-Kalender
Anfang des 20. Jahrhunderts stellte der US-amerikanische Mathematiklehrer Elisha Scott Loomis eine Sammlung von verschiedenen Beweisen des Satzes von Pythagoras zusammen, die er in Fachzeitschriften und Büchern entdeckt oder selbst entwickelt hatte. Die zweite Auflage des 1940 erschienenen Buchs umfasste zirka 370 Beweise. Die Sammlung wurde 1968 im Auftrag des National Council of Teachers of Mathematics (NCTM) unverändert nachgedruckt, ist aber nur noch selten antiquarisch zu finden.
Mario Gerwig, Mathematik- und Chemielehrer an einem Gymnasium in Basel, hat sich nun der Aufgabe gestellt, die englischsprachige Beweissammlung ins Deutsche zu übertragen sowie sie zu sichten, zu ordnen, zu ergänzen und – an erstaunlich vielen Stellen – Fehler zu beseitigen.
Umfangreiche und verständliche Beweissammlung
Herausgekommen ist ein umfangreiches Werk mit strukturierten und gut nachvollziehbaren Kommentaren der einzelnen Beweisschritte sowie sorgfältig (mit der Software Cinderella) angefertigten Grafiken, welche die Handzeichnungen von Loomis mehr als ersetzen. Gerwig hat sich vor allem darum bemüht, bestehende Beweislücken zu füllen und die Verbindungen zu anderen geometrischen Sätzen aufzuzeigen.
Am Ende der 24 Seiten umfassenden Einleitung, in der Gerwig seine Vorgehensweise erläutert, spricht er eine Empfehlung aus, welche Beweise sich die Leserinnen und Leser besonders anschauen mögen – in fast allen Fällen handelt es sich um jene, die von berühmten Mathematikern wie Fibonacci oder Bhaskara stammen.
Im ersten Kapitel gibt der Autor einen Überblick über das, was man über die Pythagoreer weiß und welche mathematischen Sachverhalte diesen bekannt waren. Im nächsten Abschnitt finden sich insgesamt 109 Beweise, die Loomis und Gerwig als algebraisch bezeichnen. Unterteilt ist das Kapitel in Beweisideen, die sich aus Ähnlichkeitsüberlegungen herleiten lassen, die mit dem geometrischen Mittel von Streckenlängen zusammenhängen beziehungsweise sich aus Kreisfiguren und deren Sekanten beziehungsweise Tangenten ergeben. Die Verhältnisgleichungen führen nach Umformung zu der gewünschten Gleichung a2 + b2 = c2. Beeindruckend sind die umfangreichen kombinatorischen Überlegungen, welche einzelnen Streckenverhältnisse sich in den einzelnen Figuren betrachten lassen.
Das dritte Kapitel enthält 246 geometrische Beweise, bei denen es um Flächengleichheit geht. Den Anfang machen Beweise mit Schere und Papier, also Zerlegungsbeweise. Leider erwähnt Gerwig im Zusammenhang mit diesen Puzzle-Beweisen nicht die Namen der Autoren, obwohl diese eigentlich bekannt sind (unter anderem Perigal, Göpel, Gutheil, Epstein und Nielsen). In weiteren Abschnitten folgen Beweise, bei denen ein oder zwei der Quadrate über den Seiten nach innen geklappt sind und so durch zusätzliche Schnittlinien neue Teilflächen entstehen.
Im fünften Kapitel beweist der Autor einige Hilfssätze, darunter den Katheten-, Höhen-, Sekanten-Tangenten-Satz sowie die Sätze von Pappus, Heron und Apollonius. Dass man diese bei einigen Beweisen des Satzes von Pythagoras voraussetzen muss, zeigt, dass manche der Ansätze nicht wirklich naheliegend sind.
Als erfahrener Lehrer weiß Gerwig, dass sich die Vielfalt an Beweisen kaum für den Unterrichtsalltag eignet. Daher widmet er sein viertes Kapitel der Nutzung dieser Enzyklopädie für den Mathematikunterricht. Er beschreibt eine mögliche 14-stündige Unterrichtsreihe unter dem Motto »Beweisvielfalt entdecken«, abschließend eine bildungsdidaktische Analyse seiner vorgeschlagenen Reihe. Hier setzt sich der Autor ausführlich mit der Frage auseinander, warum es sinnvoll ist, in der Schule exemplarisch zu zeigen, welche Vielfalt an Ideen existiert, um den berühmten Satz zu beweisen. Auch gibt er in einer Fußnote diejenigen Beweise an, die sich in seinem Unterricht als besonders gewinnbringend erwiesen haben. Insbesondere gehöre zur Unterrichtsreihe auch der Beweis der Umkehrung des Satzes von Pythagoras: dass aus a2 + b2 = c2 die Rechtwinkligkeit der Figur folgt.
»Unterschiedliche Beweise für einen Satz zu haben ist … wertvoll, weil man aus unterschiedlichen Beweisen unterschiedliches Neues lernen kann …«, schreibt der Mathematiker Günther M. Ziegler in einem Geleitwort zu Gerwigs Sammlung. Ziegler muss es wissen, hat er doch vor Jahren zusammen mit Martin Aigner den erfolgreichen Versuch gestartet, die von Erdös stammende Idee eines »Buches der Beweise« umzusetzen, in dem sich die elegantesten Beispiele finden.
In der Literaturliste findet man – außer einer Fülle von didaktischen Schriften – etliche Verweise auf Bücher zur Mathematik der Antike, jedoch nur wenige Hinweise auf Veröffentlichungen der letzten Jahre. Vermisst wird der Hinweis auf die wunderbare Online-Sammlung von 122 Beweisen mit ausführlichen Kommentaren, die Alexander Bogomolny – bis zu seinem plötzlichen Tod im Juli 2018 – zusammengetragen hat.
Das Buch sollte in keiner Bibliothek von Lehramtsstudierenden und -anwärtern fehlen. Zudem haben Rätsel-Liebhaber mit den über 400 Grafiken des Buchs eine neue Quelle – gemäß dem Motto: Wo ist in dieser Figur der Beweis des Satzes von Pythagoras versteckt? Zieglers Fazit kann man sich dabei nur anschließen: »Man kann viel an diesem Buch lernen, die Vielfalt von Beweisen kennen lernen, sich davon inspirieren lassen und sich daran freuen.«
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