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»Der verkannte Mensch«: Neues aus dem Neandertal

Von wegen kulturloser Grobian: Die Archäologin Rebecca Wragg Sykes räumt mit althergebrachten Vorurteilen zu Neandertalern auf. Eine Rezension
Frühe Europäerin. Modell einer Neandertalerin.

In der Archäologie werden Thesen mitunter nicht deswegen abgelöst, weil neue Forschungsergebnisse sie widerlegen, sondern dadurch, dass diejenigen, die sie vertreten haben, langsam aussterben. Das führt dazu, dass es sehr lange dauern kann, bis überholte Ideen endgültig begraben werden. Und noch länger dauert es, bis die neuen Erkenntnisse sich in der breiten Öffentlichkeit durchsetzen. Dieser Umstand erklärt womöglich, warum die Vorstellung von Homo neanderthalensis als kulturlosem Grobian bis heute so weit verbreitet ist.

Streifzug durch die moderne Neandertalerforschung

Dabei ist die moderne Neandertalerforschung schon so viel weiter. Dank moderner Ausgrabungsmethoden, der Reevaluierung alter Funde und nicht zuletzt der erst in den letzten Jahren aufgekommenen Paläogenetik hat sich inzwischen ein weitaus facettenreicheres Bild der uns wahrscheinlich am nächsten verwandten Spezies ergeben. Die britische Archäologin Rebecca Wragg Sykes stellt diese Ergebnisse in ihrem Buch »Der verkannte Mensch« allgemein verständlich zusammen.

Der Titel ist Programm: Die Entdeckung der ersten Neandertalerknochen fiel in die gleiche Zeitepoche wie die Veröffentlichung von Darwins »Entstehung der Arten«, was vielleicht erklärt, warum das Leben einer anderen Menschenart mitten in Europa zuerst nur schlecht verstanden wurde. Aus den Merkmalen der gefundenen Schädel und Knochen schlossen die damaligen Forschenden schnell, dass die Neandertaler dumm, primitiv und gewalttätig gewesen sein mussten. In den folgenden Jahrzehnten wurden weitere Funde oft von dieser Vorstellung geprägt interpretiert. Schnitt- und Bearbeitungsspuren, die an Skeletten entdeckt wurden, machten die Neandertaler in der öffentlichen Wahrnehmung zu brutalen Menschenfressern.

Wragg Sykes räumt mit diesen vorschnellen Urteilen auf. Denn moderne Interpretationen derselben Funde lassen ganz andere Schlüsse zu. Bearbeitung, ja gar Kannibalismus an einem verstorbenen Gruppenmitglied kann auch eine Art Bestattungsritual sein. Freilich können wir nicht letztgültig sagen, ob und wie die Neandertaler ihre Toten bestatteten, doch die Forschungsergebnisse der letzten Jahre zeigen deutlich, dass sie uns womöglich ähnlicher waren, als man ursprünglich dachte.

Auch die Vorstellung, dass Homo neanderthalensis als Relikt der Eiszeit vom anpassungsfähigeren Homo sapiens verdrängt oder gar aktiv ausgerottet wurde, ist nicht mehr haltbar. Zum einen ist inzwischen erwiesen, dass die Menschen außerhalb des südlichen Afrika auch Neandertaler-Anteile in ihrer DNA haben. Die beiden Arten waren sich also ähnlich genug, um gemeinsam Nachkommen zu zeugen. Zum anderen überlebten die Neandertaler Jahrzehntausende verschiedener Warm- und Kaltperioden und hingen damit nicht vom Eiszeitklima ab. Sie waren vielmehr an ihre nomadische Lebensweise als Wildbeuter angepasst, weniger an die Temperatur.

Wragg Sykes beseitigt diese und viele weitere Missverständnisse in einer lebendigen Schreibweise, die sich deutlich an ein Laienpublikum richtet, ohne die Lesenden dabei zu unterschätzen. Komplexe Zusammenhänge von Fundzufall und Fundinterpretation erläutert sie ausführlich, wägt verschiedene Szenarien gegeneinander ab und macht Spekulationen immer wieder als solche deutlich – denn, und das lässt sie nicht aus, es gibt immer noch viele Fragen, die auch die aktuellste Forschung nicht beantworten kann.

Die Übersetzung von Jürgen Neubauer hält dabei größtenteils Schritt mit der flotten Schreibweise der Autorin und ist durchgehend interessant und gut zu lesen. Bisweilen schleichen sich ein paar Fachbegriffe in den Text, die für ein allgemein gebildetes Publikum nicht unbedingt verständlich sind und auch nicht gleich erklärt werden. Zudem können die vielen genannten Fundplätze und Jahreszahlen bisweilen zu Verwirrung führen. Ein Anhang mit einer Karte, einer groben Zeitlinie und einem Fachglossar hätte nicht geschadet. Im Allgemeinen fällt es aber leicht, dem narrativen Stil über die verschiedenen thematisch sortierten Kapitel zu folgen. Das Layout des Buchs ist wertig und schön gestaltet. Für die nächste Auflage des Hardcovers würde ein Lesebändchen den Eindruck noch perfektionieren.

Wer eine Faszination für unsere wahrscheinlich nächsten Verwandten in der Gattung Homo hegt, sollte dieses unheimlich dicht geschriebene Werk auf jeden Fall lesen. Doch selbst Menschen, denen die Thematik nicht ganz so am Herzen liegt, können darin eine spannende Lektüre finden und vielleicht ein paar alte Vorurteile zu Grabe tragen.

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