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»Deutschlands letzte Paradiese«: Wo in Deutschland wilde Tiere leben

Umweltfotograf Sven Meurs zeigt in seinem wunderschönen Buch das wilde Leben auf einer einsamen Vogelschutzinsel, in bayerischen Wäldern oder auf einer Mülldeponie.
Ein Schwarm Alpenstrandläufer fliegt auf

Ginge es nach dem Duden, dann gäbe es keinerlei Wildnis in Deutschland. Aber jenseits der Begriffshoheit eines Wörterbuchs findet der Umweltfotograf Sven Meurs durchaus noch letzte Wildnisse in der heimischen Tierwelt – auch in Deutschland. Laut Duden sind dies unwegsame, nicht bebaute, nicht besiedelte und vom Menschen unbeeinflusste Gebiete, zitiert Meurs. Und natürlich haben Mensch und Klima nahezu jedes Stückchen Land verändert. Dennoch, der Autor definiert Wildnis etwas großzügiger. Und so spürt er in ganz Deutschland, vom Wattenmeer bis zum Alpenrand, den »ein oder anderen Fleck« auf, »an dem Wildtiere (noch) einen ungestörten Lebensraum finden«.

Leicht und locker berichtet er von den Erlebnissen seiner Tierfotosafari zu unseren »wilden Nachbarn«. Und es gehört schon einiges an Leidenschaft dazu, tagelang im Regen, in einsamer Landschaft und manchmal vergeblich auf das Erscheinen von Wölfen, Steingeiß, Murmeltier, Wiedehopf oder einer Sumpfohreule zu warten. Wobei es auch »Flecken« gibt, die es dem Fotografen leichter machen. Denn er begibt sich auch in die Städte, in die sich auch immer mehr »wilde Tiere« wagen. Oder ist überrascht, wenn er auf einer Mülldeponie so viele verschiedene seltene Vogelarten auf einem Flecken sieht wie sonst nie. Schwarzmilane und Kolkraben sind das eine, aber als er rund 150 Störche an einem Ort entdeckt, ist er doch sprachlos. Auch wenn er meist fast tagebuchartig über seine Suche berichtet, bringt er auch einige Zahlen und Studien unter. So wie die zu den Störchen auf dem Müllberg, deren Mägen voll mit Plastik sind und deren Nester sich mit Wasser vollsaugen, wenn sie gebrauchte Babywindeln zum Bau verwendet haben und die Jungtiere darin versinken. Und als Meurs die nun wirklich einsame Vogelinsel Trischen betreten darf – nur ein Vogelwart oder eine Vogelwartin leben zeitweise auf der Insel –, findet er als Erstes am Strand ein angeschwemmtes Ölfass und Fischernetze.

Licht und Schatten

Doch die beeindruckenden Aufnahmen aus Wäldern, Naturschutzreservaten, Berg- und Wasserwelten, den Kulturlandschaften wie dem Kaiserstuhl oder der stillgelegten Bergbauregion der Lausitz dominieren in diesem wunderschönen Buch. Immer wieder schwärmt Sven Meurs in den einzelnen Kapiteln regelrecht von dem Artenreichtum, den er oft noch vorfindet. Und ja, er stößt auf verborgene wilde Wunder. Aber es ist eben nur die Wahrnehmung eines Menschen, der tagelang auf der Pirsch ist. In seinem Buch berichten aber auch zahlreiche Experten über den Zustand der Natur. So widerspricht einer der porträtierten Experten, Peter Berthold, einer der bekanntesten Vogelforscher in Deutschland, der persönlichen Wahrnehmung des Fotografen. Bis heute hätten wir 80 Prozent aller Vogelindividuen verloren – durch Pestizide, rigorose Methoden in der Land- und Forstwirtschaft, Siedlungsbau und Tourismus. Aber Meurs präsentiert nicht nur seine schönen Fotos, er spart auch das traurige Thema der Tiervernichtung nicht aus.

Etwas verwundert liest man das Kapitel über den kommerziellen Fischfang in der Nordsee. Denn hier berichtet Meurs nicht nur über die Sehnsucht, in ein frisches Krabbenbrötchen zu beißen, sondern schildert auch die Realität der Befischung. Die Fischerei mit Schleppnetzen, die über den Meeresboden gezogen werden, vernichtet nicht nur das pflanzliche Meeresleben, sondern ist auch der Grund dafür, dass es in der Nordsee immer weniger Schollen gibt. Allzu oft landen gerade junge Plattfische als Beifang und verenden in den Netzen, bis dann irgendwann der Kutter mit rund 200 Kilo Krabben in den Hafen einläuft. Doch dann klagt gerade ein Krabbenfischer, dass er bei seinen Fischgängen auf Plattfische gerade einmal so viele fängt, wie für eine Mahlzeit reichen – und er daher nur noch auf Krabbenfang gehen kann.

Dazu passt der Appell des Klimaforschers Mojib Latif im Nachwort: »Einfach mal die Augen öffnen«, dann erkennt der eine oder andere vielleicht den Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Latif wünscht sich zudem weniger Fernreisen und regt an, auch mal den Kaiserstuhl als Urlaubsregion zu besuchen. Mit dem Buch von Sven Meurs sollte das gelingen – auch und gerade mit offenen Augen.

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