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»Die unerzählte Geschichte«: Geschichte schreiben die Gewinner

Ein wundervoller historischer Abriss, in dem der Fokus auf den Frauen und ihren Entdeckungen, Erkenntnissen und Errungenschaften liegt.
Auf fünf Stühlen sitzt jeweils eine Frau

Zu oft werden Frauen in der Erzählweise der Geschichte klein gemacht, vergessen oder sogar einfach weggelassen, als hätten sie keinen Anteil am Geschehen gehabt. Dabei gibt es zahlreiche Frauen, die in der Geschichte wichtigen Anteil an wissenschaftlichen, politischen, künstlerischen Revolutionen und Entwicklungen nahmen. Ohne sie würde die Welt von heute nicht so aussehen, wie sie es tut. Die Journalistin Vera Weidenbach verwebt die Biografien und Leistungen der Frauen auf meisterhafte Weise, so dass kein Buch mit Aneinanderreihungen von Frauenporträts entsteht, sondern wirklich eine Reise durch die Geschichte der letzten etwa 200 Jahre.

Die sechs Kapitel sind chronologisch angeordnet, beginnend im 19. Jahrhundert mit der englischen Mathematikerin Ada Lovelace, die die Grundlage für heutige Computer legte. Die Entwicklung von Computern, wie wir sie heute kennen, wäre ohne viele Frauen nicht möglich gewesen. Auch beim Bau des Electronic Numerical Integrator and Computer (ENIAC), 100 Jahre nachdem Ada Lovelace das erste Computerprogramm geschrieben hatte, waren Mathematikerinnen maßgeblich beteiligt. Die Männer konzentrierten sich auf den Aufbau des Computers und überließen das Programmieren den Frauen. So wäre der ENIAC nie funktionstüchtig gewesen, wenn nicht Jean Jennings und Betty Snyder gewesen wären. Einer unter vielen interessanten Fakten, die im Buch aufgezeigt werden, ist, dass wir noch heute von Hardware und Software sprechen, weil die Entwicklung von harten Maschinen von Männern erledigt wurde, während sich die Frauen mit dem soften Innenleben der Computer befassten.

Neben Frauen, deren Leistungen nicht nur in ihren Fachdisziplinen (wieder-)entdeckt werden, wie Rosalind Franklin und ihr essenzieller Beitrag zur Beschreibung der DNA als Doppelhelix oder Lise Meitners Entdeckung der Atomspaltung, holt Weidenbach auch weiterhin unbekanntere Frauen vor den Vorhang. Da ist unter anderem Lotte Reiniger, die lange vor Walt Disney den ersten Trickfilm drehte und dafür einen selbstgebauten Tisch verwendete, bei dem eine Glasplatte mit den ausgeschnittenen Figuren von unten beleuchtet wurde und die oberhalb angebrachte Kamera die Szenen filmte. Sie zeichnete nicht nur viele Skizzen für den ersten abendfüllenden Trickfilm, sondern entwickelte auch die Handlung und die Storyboards Bild für Bild.

Oder die Journalistin Nellie Bly, die sich 1887 für zehn Tage in eine Anstalt für nervenkranke Frauen in New York einweisen ließ, um von den dortigen Zuständen berichten zu können. Mit ihrer Arbeit brachte sie den investigativen Journalismus mit auf den Weg.

Im Buch werden Frauen aus allen Bereichen des Lebens porträtiert, Politikerinnen und Denkerinnen, wie Flora Tristan, die bereits fünf Jahre vor Karl Marx schrieb, die Arbeiter müssten sich organisieren und zusammenschließen. Aber auch das Leben und Wirken von Künstlerinnen wie Frida Kahlo oder Camille Claudel, die nicht nur Schülerin August Rodins war, sondern eine eigenständige Bildhauerin, wird beschrieben.

Ein wiederkehrendes Thema in den Lebensgeschichten der Frauen sind die Männer, mit denen oder für die sie gearbeitet haben und denen in der Geschichte oft auch die Leistungen der jeweiligen Frauen zugeschrieben werden. Da sind beispielsweise die Anteile von Margarete Steffin an den Werken Bertolt Brechts oder Jocelyn Bell Burnell, die zusammen mit Antony Hewish als Erste einen Neutronenstern entdeckte, dafür allerdings nicht bei der Nobelpreis-Auszeichnung berücksichtigt wurde. Weidenbach erklärt dies auch mit dem in der Soziologie bekannten Matthäus-Effekt, bei dem Anerkennung angesammelt wird, also eine Koryphäe auf einem Gebiet eher für eine Entdeckung Anerkennung bekommt als ein Newcomer.

In eine ähnliche Kategorie fallen die britischen Autorinnen des 19. Jahrhunderts, die unter männlichen Pseudonymen ihre Werke veröffentlichten, um ernst genommen zu werden. So schrieben etwa die Brontë-Schwestern als Ellis und Currer Bell und Mary Ann Evans als George Eliot, während Jane Austens Romane anonym erschienen.

Ein Problem dabei ist, dass nachfolgenden Frauengenerationen die Vorbilder fehlen. Doch es ist ganz klar, dass Frauen immer schon in allen Bereichen der Gesellschaft Anteil hatten. Sie waren immer da und haben Großartiges geleistet. Dafür werden sie auf den 352 Seiten von Weidenbachs Buch in den Fokus gerückt. Definitiv eine bereichernde und lehrreiche Lektüre, auch für jene, die sich schon mit Pionierleistungen von Frauen beschäftigt haben. Und alle anderen werden an so mancher Stelle ins Staunen kommen.

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