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Vomitorium: Übergaben sich die Römer, um mehr essen zu können?

Typisch dekadente Römer: Um noch mehr essen zu können, erbrachen sie sich zwischen den Gängen. Natürlich im feinen »Vomitorium« nebenan. Was ist der wahre Kern der Legende?
Kein Vomitorium, sondern eine römische Wirtschaft

Lerchenzungen, gefüllte Jaguarohrläppchen, Wolfzitzenchips, Otternasen – auch wenn die Snacks, die der Titelheld der Komödie »Das Leben des Brian« im Amphitheater verkauft, eher der Fantasie der Komikergruppe Monty Python entsprungen sind, weit entfernt waren sie nicht von den exotischsten Gerichten der Römer. Bei einem Festmahl der antiken Upperclass landete schon mal Siebenschläfer übergossen mit Honig und Mohn, Grasmücke in gepfeffertem Eidotter oder Schweinegebärmutter gefüllt mit Seeigeln auf dem Tisch. Und, was der Dekadenz die Krone aufsetzte: Um noch mehr in sich hineinstopfen zu können, gingen die Teilnehmer der Gelage doch tatsächlich in einen eigens vorbereiteten Raum, erbrachen dort die ganzen Köstlichkeiten wieder und kehrten mit Platz im Magen für den nächsten Gang zurück.

So lautet jedenfalls ein hartnäckiges Gerücht. Ist etwas dran an der Legende vom »Vomitorium«, dem »Kotzkämmerchen« der Römer? Oder ist das alles nur üble Nachrede?

Zunächst einmal sollte diese Praxis nicht allen Römern unterstellt werden. Schlichtweg, weil sich nur ein sehr kleiner elitärer Kreis eine solche Völlerei überhaupt leisten konnte. Der Großteil der Bevölkerung pflegte ganz normale Essgewohnheiten. In jenen Kreisen, die tatsächlich mehrstündige Gelage feierten, floss zudem der Wein in Strömen – dementsprechend dürfte allein die Trunkenheit so manchen Mageninhalt nach außen befördert haben. Dass während eines Banketts also der eine oder andere Tropfen Magensäure auf dem Marmorfußboden landete, ist wohl schwer anzuzweifeln. Doch ob Übelkeit bewusst herbeigeführt wurde, um mehr essen zu können, lässt sich nur schwer belegen.

»Man erbricht sich, um essen zu können, und isst, um sich zu erbrechen«Seneca

In Texten, die ganz konkret Gelageszenen beschreiben – wie etwa das Gastmahl des Trimalchio in dem satirischen Roman »Satyricon« des Petronius Arbiter aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. –, finden sich solche Vorgänge nicht. Als Beweis werden stattdessen häufig eher kurze Quellenausschnitte herangeführt, wobei allein deren geringe Zahl bereits darauf hindeutet, dass »sich übergeben« nicht zwangsläufig zum Tischritual gehörte. Eigentlich gibt es nur eine Quelle, die das nutzenorientierte Brechen anführt, das aber zugegebenermaßen sehr konkret.

Seneca schreibt in einer Trostschrift an seine Mutter Helvia: »Was der durch Leckereien zerrüttete Magen kaum vertragen kann, wird vom entferntesten Ozean herbeigeschafft. Man erbricht sich, um essen zu können, und isst, um sich zu erbrechen, und würdigt die Mahlzeiten, die man aus der ganzen Welt zusammensucht, nicht einmal der Verdauung.« Zwar kritisiert der für seine asketische Lebensweise bekannte Philosoph hier die Lasterhaftigkeit und das Geprotze der römischen Oberschicht, doch tut er das wohl eher mit rhetorischem als dokumentarischem Eifer. Zudem bemängelt er vor allem die Auswahl der Speisen, die eher durch ihre Exklusivität bestimmt wird als durch den guten Geschmack.

Insbesondere Kaiser Claudius galt seinen Zeitgenossen als größter Feinschmecker des Imperiums. »Nie erhob er sich von der Tafel, bevor er sich nicht bis oben hin vollgestopft hatte, und so hat man ihm sofort, wenn er auf dem Rücken lag und mit offenem Mund schlief, eine Feder in den Rachen gesteckt, damit er seinen Magen entlasten konnte«, berichtet der Geschichtsschreiber Sueton. Angeblich soll ihm diese lebensrettende Prozedur sogar den Tod gebracht haben: Tacitus beschreibt in seinen »Annalen«, dass Claudius' Frau ihren Mann vergiften ließ, indem ihm sein Arzt mit einer vergifteten Pfauenfeder im Rachen kratzte. Andere Versionen gehen von einem vergifteten Pilzgericht aus. Heutige Historiker vermuten eher, dass er eines natürlichen Todes gestorben ist.

Ähnliche Genusssucht weiß Sueton über den Kurzzeitkaiser Vitellius zu berichten, allerdings standen beide Potentaten bei ihm in keinem guten Ruf, entsprechend zeichnete er ihre Charaktere. Auch der Geschichtsschreiber Cassius Dio erwähnt diese Ausschweifungen inklusive Erbrechen bei Vitellius, bei Tacitus hingegen sucht man solche Textstellen vergeblich. Doch es bleibt dabei: Allein die Tatsache, dass die Geschichtsschreiber solche Anekdoten kolportierten, zeigt eher, wie ungewöhnlich solche Praktiken waren, wenn es sie überhaupt je gegeben hat.

Gerade die Claudius-Episode betont zusätzlich den Gesundheitsaspekt, den die Römer mit dem Erbrechen verknüpften. Denn sie sahen darin durchaus eine therapeutische Methode. Der Arzt Aulus Cornelius Celsus (geboren 25 v. Chr.) rät das Übergeben zwar nicht den Schlanken und Schwachen, zuträglich sei es jedoch »allen untersetzten und galligen Menschen, wenn sie entweder zu viel zu sich genommen oder zu wenig verdaut haben. Denn wenn jemand mehr verzehrt, als verdaut werden kann, sollte er nicht riskieren, dass es verdirbt.« Als Brechmittel empfiehlt er warmes Wasser, notfalls mit Salz oder Honig vermengt. Möglicherweise nahm deshalb Julius Caesar bereits vor einer Mahlzeit entsprechende Präparate zu sich, wie es Cicero an einer Stelle erwähnt.

Das Vomitorium – ein Missverständnis

Was wäre dekadenter, als sich während eines Festmahls den Magen auszupumpen, um noch mehr essen zu können? Richtig, dafür eigens einen separaten Raum einzurichten. Kein Wunder also, dass sich das überzeichnete Bild eines so genannten Vomitoriums seit langer Zeit großer Beliebtheit erfreut. Für ein solches Spei- neben dem Speisezimmer fehlen allerdings jegliche archäologischen und schriftlichen Beweise. Die Römer übergaben sich in der Regel – wie wir heute auch – in eine Latrine oder nutzten provisorische Behältnisse. Zwar erwähnt der römische Autor Macrobius Ambrosius Theodosius in seinem Werk »Saturnalia« aus dem frühen 5. Jahrhundert n. Chr. durchaus ein so genanntes Vomitorium (von lateinisch »vomere« für »erbrechen«), dies erfüllte aber einen ganz anderen Zweck: Es bezeichnete anschaulich den Zugang zu einem römischen Amphitheater, der Besuchermassen »ausspuckt«, bevor sie sich auf ihre Sitzplätze verteilen. Allerdings verwendeten die Römer das Wort wohl als saloppe Bezeichnung und keineswegs als architektonischen Fachbegriff.

Trotz dieser sehr spärlichen Überlieferungsgeschichte hat das Vomitorium bis ins 21. Jahrhundert überlebt und sogar eine Aufwertung erfahren. Nicht nur Archäologen bezeichnen die entsprechenden Bereiche antiker Theater inzwischen ganz offiziell so; auch heutzutage verlassen Besucher britischer und amerikanischer Schauspielhäuser den Zuschauerraum durch »vomitories« beziehungsweise »voms«.

Ein Pokal fürs Erbrechen?

Doch wenn der Begriff heute noch richtig verwendet wird, woher stammt dann die falsche Lesart als Zimmer fürs gepflegte Erbrechen? Aus sprachlicher Perspektive trug sicher die Doppeldeutigkeit des Begriffs dazu bei. In romanischen Sprachen und im angelsächsischen Raum hat sich der Wortstamm »vomit-« für »erbrechen« oder »Erbrochenes« durchgesetzt. In Texten der Frühen Neuzeit taucht das Wort aber zunächst vor allem im medizinischen Kontext unter der Bedeutung »Brechmittel« auf. So nutzten Ärzte etwa den aus Antimon hergestellten Brech- oder Vomirbecher (lateinisch »poculum vomitorium»). Ließ man in diesem Gefäß Alkohol einige Zeit stehen, so lösten sich geringe Mengen des Elements und gelangten in die Flüssigkeit. Ein Schluck davon verursachte Übelkeit.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheint sich der Begriff des Vomitoriums dann zu verselbstständigen. Erste Quellen für den »Reiherraum« finden sich etwa in Zeitschriften und Journalen, meist als rhetorisches Mittel zur Veranschaulichung von Dekadenz. Auch der britische Schriftsteller Aldous Huxley, der durch seine Dystopie »Schöne neue Welt« Berühmtheit erlangte, greift darauf zurück. In seinem 1923 erschienenen Roman »Antic Hay« (zu Deutsch »Narrenreigen»), dessen Handlung in elitären Kreisen Englands nach dem Ersten Weltkrieg spielt, muss für einen Vergleich das »elegante, marmorne Vomitorium des Petronius Arbiter« – also des »Satyricon«-Schöpfers – herhalten.

Konnte man das noch als dichterische Freiheit abtun, so zementierte schließlich der US-amerikanische Historiker und Soziologe Lewis Mumford den Irrtum. Er verwendete das Vomitorium 1961 in seinem berühmtesten Werk »The City in History« (»Die Stadt. Geschichte und Ausblick«) tatsächlich in Zusammenhang mit exzessiven Ausschweifungen der römischen Schickeria. Auf diese Weise brach sich die Vorstellung dann scheinbar unaufhaltsam Bahn.

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