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Warkus' Welt: Der eingebildete Henkel

Wenn wir Gegenstände betrachten, nehmen wir nicht nur wahr, was wir vor Augen haben, sondern antizipieren auch, was wir noch nicht sehen können. Das kann Verwirrung stiften – etwa wenn bei einer Tasse der Henkel fehlt.
Kaffeetasse

Vor einigen Jahren traf ich mich in einem Lokal in Marburg mit einer alten Freundin, um Kaffee zu trinken. Auf der Getränkekarte stand auch Chai. Damals war der mehr oder minder indische und milchige Gewürztee in Deutschland noch nicht sehr verbreitet, und ich bestellte einen, um ihn zu probieren. Der Chai kam in einer großen, eleganten Spezialtasse, auf der das Logo des Herstellers prangte.

Da der Henkel von mir weg zeigte und nicht zu sehen war, griff ich mit der linken Hand in einer fast automatischen Bewegung den Rand der Tasse und drehte sie im Uhrzeigersinn. Vermutlich habe ich dabei nicht einmal die Unterhaltung unterbrochen, solche Alltagshandbewegungen erfordern keine Konzentration. Erst als ich die Tasse zweimal komplett um sich selbst gedreht und mit der Rechten in die Leere gegriffen hatte, fiel der Groschen: Die Tasse war gar keine Tasse, sondern ein Becher. Sie hatte überhaupt keinen Henkel. Dabei war ich war mir einfach 100-prozentig, über jeden Zweifel hinaus sicher gewesen, sie müsste einen haben. Diese Sicherheit hatte sogar, könnte man sagen, über mein bewusstes Denken hinausgegriffen, denn sie leitete ja eine unbewusste Handbewegung an.

Das, was uns in der Welt begegnet, erscheint uns immer auf zwei Ebenen

Woher diese falsche Sicherheit kam, ist im Nachhinein leicht zu erklären. Weiße, glänzende Keramikgegenstände mit dieser geschwungenen Becherform haben eben in den allermeisten Fällen irgendwo einen Henkel. In mir haust, wie vermutlich in den meisten von uns, die Regel »becherförmige Porzellangegenstände haben einen Henkel«. Sehe ich einen becherförmigen Gegenstand, könnte ich daher schließen: Alle becherförmigen Porzellangegenstände haben einen Henkel. Dieser Gegenstand ist ein becherförmiger Porzellangegenstand – also muss er auch einen Henkel haben.

Genau das habe ich jedoch nicht getan. Ich habe mich mit der Form und Beschaffenheit des Gegenstandes vor mir auf dem Tisch überhaupt nicht auseinandergesetzt, bevor ich ihn in die Hand nahm, um seinen Henkel zu fassen. Der Henkel war im Gegenteil für mich sozusagen wirklich da, bevor ich in die Leere griff – so ähnlich, wie in einem stockdunklen Treppenhaus die nichtexistierende oberste Stufe für mich wirklich da ist, bevor ich ins Leere trete.

Vom Teebecher zur Phänomenologie

Die von uns abgewandte Rückseite von Gegenständen ist uns also in gewisser Weise präsent, bevor wir sie wahrgenommen haben und bevor wir uns mit den Mitteln des geordneten logischen Denkens mit ihrer Beschaffenheit beschäftigt haben. Dasselbe gilt natürlich auch für verborgene Ober-, Unter- und sonstige Seiten. So »wissen« wir von Gebäuden, deren Fassade oben mit einer geraden Kante abschließt, über der kein Dach zu erkennen ist, dass sie auf Höhe dieser Kante ein Flachdach haben, auch wenn das längst nicht immer der Fall sein muss.

Wir könnten sagen: Der Becher erscheint uns mit Henkel; das Haus erscheint uns mit Flachdach; jeweils, ohne dass wir dies tatsächlich wahrgenommen hätten. Das griechische Word für »ein Erscheinendes« (phainomenon) ist zum deutschen »Phänomen« geworden, und daher rührt die Bezeichnung Phänomenologie für die philosophische Disziplin, die sich damit befasst, was es eigentlich heißt, dass uns – aus unserer Innenperspektive heraus gesehen – etwas erscheint und wie sich dies zu unserem Wahrnehmen und Handeln verhält. Der wichtigste Wegbereiter der Phänomenologie in der modernen Philosophie war Edmund Husserl (1859–1938). In seiner Terminologie lässt sich die Becher-Episode so beschreiben, dass die Vorderseite des Bechers Teil seines wahrgenommenen »Außenhorizontes« ist, gleichzeitig aber den Henkel als Teil des »Innenhorizontes« von möglichen zukünftigen Wahrnehmungen mitvorstellt oder »appräsentiert«.

Diese grundlegende Idee, dass das, was uns in der Welt begegnet, uns also immer auf zwei Ebenen erscheint, von denen eine Ebene das enthält, was wir noch nicht »vor Augen haben«, sondern bloß antizipieren, und noch einige andere haben die Phänomenologie im 20. Jahrhundert zu einem der einflussreichsten philosophischen Denkstile gemacht. Nicht nur, dass Husserl und seine Mitstreiter die Arbeit anderer Philosophen wie Heidegger oder Sartre entscheidend geprägt haben – auch in der Psychologie, der Soziologie und anderen verwandten Disziplinen ist ihr Einfluss bis heute immens.

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