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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte, wie ein Unglück das Matterhorn weltberühmt machte

Lange dauerte es, bis erstmals Menschen das Matterhorn bestiegen. Der Triumph endete in einer Katastrophe, doch der Alpinismus boomte erst recht, wie unsere Kolumnisten erzählen.
Illustration der Erstbesteigung des Matterhorns 1865.
Am 14. Juli 1865 erklommen die Männer um Edward Whymper das Matterhorn. Sie waren jedenfalls die Ersten, die ihre Gipfelbesteigung dokumentierten. Die Illustration stammt vom französischen Maler Gustave Doré (1832–1883).
Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Sieben Männer machten sich am 13. Juli 1865 auf, erstmals einen Berg zu besteigen – 4487 Meter hoch. Für die Gruppe um den Briten Edward Whymper begann damit ein Wettlauf gegen die Natur und einer gegen eine andere Expedition, die ebenfalls den letzten unbestiegenen Viertausender der Alpen erklimmen wollte. Das Ziel der Männer lautete: der Gipfel des Matterhorns. Es ist zwar nicht der höchste Berg der Schweiz, aber der markanteste und bekannteste, gelegen in den Walliser Alpen an der Grenze zu Italien.

Die Erstbesteigung des Matterhorns läutete eine neue Ära in der Geschichte des Bergsteigens ein – und ließ zugleich eine andere Epoche enden: das goldene Zeitalter des Alpinismus, als Kletterer die bedeutendsten Berge der Westalpen zum ersten Mal bestiegen hatten. Sicher lebten und gingen Menschen schon seit Jahrtausenden in die Berge. Ötzi, die berühmte Gletschermumie vom Tisenjoch, entdeckten Wanderer 1991 auf 3000 Meter Höhe in den Ötztaler Alpen. Auch Hirten trieben ihr Vieh über Bergpässe und Menschen suchten in felsigen Höhen nach Kristallen. Aber im 18. Jahrhundert setzte eine neue Entwicklung ein: Man begann, Bergtouren zu planen und Erstbesteigungen systematisch zu dokumentieren. Was einige Menschen nun reizte, war offenbar das Erlebnis und das Bezwingen hoch gelegener Gipfel. Denn ein Aufstieg hat erst mal keinen konkreten Nutzen; bisweilen ist es sogar lebensgefährlich.

Der Berg ruft!

Der Begriff Alpinismus bürgerte sich Mitte des 19. Jahrhunderts ein, auch als Synonym fürs Bergsteigen. Vorher war meist vom Bergreisen die Rede. In dieser Zeit etablierte jedenfalls eine Gruppe das organisierte Bergsteigen; sie stand auch hinter der Ersterklimmung des Matterhorns: Es waren englische Adlige und Wohlhabende, die in London 1857 den ersten Alpenverein gründeten – den Alpine Club – und die Anfangszeit des modernen Bergsteigens prägten.

Damit einher ging ein neues Verständnis der Natur. Die fortschreitende Industrialisierung und das rasante Wachstum der Städte ließen die Alpen für viele Menschen zu einem Sehnsuchts- und Zufluchtsort werden. Historiker und Historikerinnen deuten den Alpinismus daher manchmal als eine Reaktion auf die Industrialisierung. Gleichzeitig galt die Natur als etwas, was Menschen beherrschen und bezwingen können. Das Erklimmen der Gipfel wurde spätestens im 19. Jahrhundert zum Sinnbild für diese Idee.

Eine der frühen Erstbesteigungen war besonders markant, sie war ein echter Paukenschlag: Im Jahr 1786 wurde der höchste Berg der Alpen bezwungen, der Mont Blanc. Mit über 4800 Metern liegt er zwischen Italien und Frankreich. Wegbereiter dieses Aufstiegs war ein Naturforscher aus Genf, der auch den Begriff der Geologie einführte: Horace Bénédict de Saussure (1740–1799). Er schrieb ein Preisgeld für die Erkundung einer Aufstiegsroute aus, was Michel-Gabriel Paccard und Jacques Balmat zum Anlass nahmen, eine Erstbesteigung zu wagen. Die Anfänge des Alpinismus waren also getrieben von wissenschaftlichem Ehrgeiz. Denn de Saussure wollte auf dem Gipfel Messungen durchführen, das Gestein untersuchen und Rückschlüsse auf die Atmosphäre ziehen.

Alpiner Abenteuerspielplatz für reiche Engländer

Diesen Anspruch hatten die reichen und adligen Männer des Alpine Club nicht, des ältesten Bergsteigerverbands der Welt. Sie brachen Mitte des 19. Jahrhunderts zu den Berggipfeln der Alpen auf, um Rekorde aufzustellen. Vor allem suchten sie den Wettkampf und das Abenteuer. In den Club wurde nur aufgenommen, wer mindestens einen Viertausender bestiegen hatte. Das gelang den britischen Alpinisten allerdings recht häufig, weil ihnen lokale Bergführer halfen. Überhaupt blieb oft unerwähnt, dass die Avantgarde des Alpinismus hochgradig von solchen Bergführern und den Trägern abhängig war, die ihr die Ausrüstung nach oben brachten. Allein in der Schweiz wurden so um 1850 insgesamt 27 Viertausender zum ersten Mal dokumentiert bestiegen.

Erstbezwinger | Gemeinsam mit sechs weiteren Männern gelang dem britischen Bergsteiger Edward Whymper die Erstbesteigung des Matterhorns.

Die Alpen wurden zum Abenteuerspielplatz für reiche Briten, wie es Leslie Stephen (1832–1904) einmal formulierte. Stephen, übrigens der Vater der Schriftstellerin Virginia Woolf, musste es wissen, denn er war Mitbegründer und Präsident des Alpine Club. Ausgerechnet der Matterhorn-Erstbesteiger, Edward Whymper (1840–1911), war eine Ausnahme. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Der Alpine Club schickte ihn auch nicht zum Klettern, sondern zum Zeichnen in die Alpen. Whymper arbeitete als Illustrator für einen Verleger, der Mitglied im Alpine Club war. Mehrfach versuchte Whymper, das Matterhorn zu besteigen. Einmal stürzte er sogar 60 Meter in die Tiefe und kam dabei fast ums Leben.

Das Matterhorn galt lange als unbezwingbar und blieb der letzte unbestiegene Viertausender der Alpen. Die Expeditionsgruppe um Whymper, die am 13. Juli 1865 zum Gipfel aufbrach, bestand aus vier Briten, einem französischen Bergführer und zwei Schweizer Bergführern, Vater und Sohn Taugwalder. Viele in der Gruppe kannten sich eigentlich nicht, die Männer hatten sich zufällig gefunden.

Whymper war überstürzt in die Schweiz aufgebrochen, nachdem er erfahren hatte, dass eine andere Expeditionsgruppe den Aufstieg über die italienische Südseite wagen wollte. Der Brite beschloss daher recht spontan, über die Schweiz von Zermatt aus aufzusteigen, über die Nordseite. Whymper wählte die Hörnligrat-Route, die heute als die Normalroute gilt. Doch die Zeit drängte, wollte er den Gipfel noch vor der Konkurrenz erreichen. Er war aber noch ein »General ohne Armee«, wie er später schrieb, denn er hatte noch keine Seilschaft gefunden. Am Ende sammelte er all jene Leute ein, die er auf dem Weg nach Zermatt traf. Den Großteil der Gruppe rekrutierte er erst am Vortag des Aufstiegs beim Abendessen im Hotel.

Erst der Erfolg, dann die Katastrophe

Frühmorgens am 13. Juli legte die Zufallsgemeinschaft los. Sie erklomm den unbezwingbaren Berg – und kam zu ihrer Überraschung schnell und problemlos voran. Bis Mittag waren die Männer bereits auf etwa 3000 Meter aufgestiegen. Sie beschlossen dann, dort zu übernachten und am nächsten Tag zum Gipfel zu klettern. Der Weg war zwar beschwerlich, aber nicht so sehr wie vermutet, so dass die Bergsteiger ihrem Ziel immer näher kamen. Gegen 14 Uhr am 14. Juli 1865 war es so weit, sie standen auf dem Gipfel!

Doch der Triumph sollte nur sehr kurz währen. Oben angekommen türmten sie aus Felsbrocken eine Pyramide auf und hissten eine Fahne. Whymper zeichnete sodann den Gipfel. Nach ungefähr einer Stunde machten sie sich wieder auf den Weg nach unten.

Der Rückweg gestaltete sich mühsamer als erwartet. Sie schritten als Seilschaft voran, alle Bergsteiger waren also mit einem Seil aneinandergebunden. Nur zirka 100 Meter unterhalb des Gipfels passierte dann die Katastrophe. Einer der Männer rutschte aus und riss drei weitere Teilnehmer mit in die Tiefe. Der Schweizer Bergführer Taugwalder reagierte sofort, stemmte sich gegen die Felswand und wickelte das Seil um einen Felsen, um es zu fixieren und nicht selbst als Nächstes in die Tiefe gezogen zu werden. Doch dann der Schock: Das Seil riss. Die vier Bergsteiger fielen in den Tod.

Die drei Überlebenden standen wie gelähmt für eine halbe Stunde still, ehe sie weiter abstiegen und nach einer Übernachtung am 15. Juli Zermatt erreichten.

Die Tragödie machte das Matterhorn weltberühmt und löste ein starkes Medienecho aus. Davor und danach gab es ebenfalls zahlreiche Erstbesteigungen von Bergen in den Alpen, aber über keine wurde so ausführlich berichtet. Allein in der Londoner »Times« erschienen innerhalb eines Monats 43 Artikel über die erste Bezwingung des Matterhorns.

Das Unglücksseil | Beim Abstieg vom Matterhorn riss das Seil, das die sieben Männer zusammenhielt. Vier Bergsteiger stürzten in den Tod. Nur Edward Whymper und die Schweizer Bergführer Vater und Sohn Taugwalder kehrten vom Gipfel zurück. Das Seil ist heute im Museum von Zermatt ausgestellt.

Ein gerissenes Seil und viele weitere Fragen

Was war der Grund für das Unglück? War das Seil vielleicht gar nicht gerissen, sondern wurde es durchgeschnitten, um die Überlebenschancen der übrigen Männer zu erhöhen? Schon bald kursierten viele Geschichten und Gerüchte über die Ereignisse wenige Meter unterhalb des Matterhorn-Gipfels. Materialtests hatten jedenfalls gezeigt, dass das verwendete Seil nicht stark genug war, um vier Personen zu halten. Zudem hatte die Gruppe zwei weitere Seile dabei, die deutlich mehr Gewicht ausgehalten hätten. Etwa ein neuartiges dehnbares Hanfseil, das der Alpine Club exklusiv herstellen ließ.

Warum die Männer es nicht beim Abstieg verwendeten und ob es die Last gehalten hätte, lässt sich nicht mehr zweifelsfrei klären. Das Seil des Alpine Club ist verschollen, das dünne Unglücksseil hingegen liegt in Zermatt im Museum.

Das Unglück markiert das Ende des goldenen Zeitalters des Alpinismus. Die massive internationale Berichterstattung schreckte die Menschen nämlich nicht ab, sondern lockte sie fasziniert in die Berge – der moderne Alpentourismus begann, wie der Autor und Bergsteiger Malte Roeper in seiner »Kleinen Geschichte des Bergsteigens« beschreibt. Der Kanton Wallis, wo das Matterhorn liegt, gilt seither als die Wiege des professionellen Bergsteigens.

Und das Matterhorn? Es wurde später zum Wahrzeichen der Schweiz, zudem gilt seine Besteigung weiterhin als eine der gefährlichsten Bergtouren überhaupt. Seit 1865 ist kein Jahr ohne tödliches Unglück am Matterhorn vergangen. Das bezeugt auch ein Friedhof in Zermatt, den man eigens für verunglückte Alpinisten angelegt hat.

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