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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte einer berühmten Patientin und Sozialpionierin

Sie war Freuds »Urpatientin der Psychoanalyse«. Doch wie unsere Kolumnisten Hemmer und Meßner erzählen, machte Bertha Pappenheim bald ganz anders von sich reden.
Bertha Pappenheim in einer Fotografie aus dem Jahr 1882

Ihre Heilung ist bis heute ein Rätsel. Ab 1888 lebte die in Wien geborene Bertha Pappenheim in Frankfurt am Main ein Leben, als hätte es ihre langjährige Krankheitsphase nie gegeben. Und hätte ein Psychoanalytiker 1953 in einer Biografie über Sigmund Freud nicht in einer Fußnote verraten, dass es sich bei dessen Patientin »Anna O.« eigentlich um Bertha Pappenheim handelt, wüssten wir vielleicht gar nichts davon.

Die Pappenheims waren eine gut situierte jüdische Familie. Und wie üblich verbrachten sie die Sommermonate nicht in der Stadt, sondern fuhren in die Sommerfrische. Im Jahr 1880 ging es nach Ischl, einem österreichischen Kurort im Salzkammergut. Doch plötzlich erkrankte Bertha Pappenheims Vater dort schwer, und gemeinsam mit ihrer Mutter übernahm die 21-Jährige die Pflege. Der Sommer im Kurort markierte auch den Beginn ihrer Krankengeschichte.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Pappenheim entwickelte ungewöhnliche Symptome: Sie begann zu halluzinieren, sah schwarze Schlangen und verlor ihre Sprache. Mit der Zeit häuften sich diese Zustände, und weitere Symptome kamen hinzu – sie wurde etwa immer schwächer, hatte Lähmungserscheinungen, starke Stimmungsschwankungen und entwickelte einen starken Husten. Zurück in Wien wurde im November der Arzt Josef Breuer zu Rate gezogen, der in der Wiener Oberschicht sehr beliebt war.

Zwei Jahre lang besuchte er Bertha Pappenheim mehrmals in der Woche und kam zu einer damals häufig gestellten Diagnose: Hysterie. Hysterie, die ihre Wurzeln bereits in der Antike hat, leitet sich ab von »hysteron«, dem griechischen Wort für Uterus. Inzwischen sind Begriff und vermeintliches Krankheitsbild aus dem medizinischen Vokabular verschwunden, doch um 1900 spielte sie eine wichtige Rolle bei der Entstehung der freudschen Psychoanalyse.

Anna O. als Urpatientin der Psychoanalyse

Hysterie wurde sehr unterschiedlich therapiert, auch durch elektrische Schläge, Dauerbäder und Wasserkuren sowie gynäkologische Eingriffe. Breuer entschied sich für eine damals ungewöhnliche Behandlungsmethode: eine Sprechbehandlung. Er versetzte Bertha Pappenheim in einen hypnotischen Zustand und redete mit ihr. Meist kam er abends vorbei und »nahm ihr die Geschichte ab«.

Mit seinem Freund und Kollegen Sigmund Freud hat Breuer den Fall Pappenheim im Buch »Studien über Hysterie« beschrieben und analysiert. Sie trägt dort das Pseudonym »Anna O.«. Weil Freud diesen Fall als Impuls zur Begründung der Psychoanalyse bezeichnete, wurde die »Urpatientin« Anna O. bald zu einer anonymen Berühmtheit. Pappenheim verwendete im Lauf ihrer Behandlung einige Begriffe, die Eingang in die Psychotherapie fanden, wie »Redekur« oder auch »Chimney Sweeping«.

Es gibt viele Spekulationen über die Behandlung, ihre Symptome und vor allem auch den Behandlungserfolg. Denn Breuer beendete nach zwei Jahren die Therapie, recht abrupt im Juni 1882, und verfasste einen Bericht, in dem es heißt, die Patientin erfreue sich vollständiger Gesundheit. Ob das stimmt, ist zweifelhaft. Die nächsten Jahre ihrer Biografie sind nur unvollständig dokumentiert, aber wir wissen von Aufenthalten in Sanatorien und von mehreren Therapien, etwa einer Elektrotherapie und einer Arsen- und Chininbehandlung.

Ein Leben für die jüdische Wohlfahrt

1888 zog sie mit ihrer Mutter nach Frankfurt am Main, und jetzt trat eine Bertha Pappenheim in die Öffentlichkeit, die mit Anna O. nichts mehr gemein zu haben schien: Sie war aktiv, begann Bücher zu schreiben, gründete den Jüdischen Frauenbund, der in den 1920er Jahren fast 50 000 Mitglieder zählte, war eine wichtige Stimme der konfessionellen Frauenbewegung und Sozialpionierin, die den Bereich der Wohlfahrtspflege professionalisierte.

Sie arbeitete etwa in einem Waisenhaus für Mädchen, dessen Leitung sie schließlich übernahm. Und die Erfahrungen dort führten auch zu dem Plan, ein eigenes Mädchen- und Kinderheim zu gründen. Das gelang ihr schließlich im Jahr 1907 in Neu-Isenburg nahe Frankfurt. Das Mädchenwohnheim wurde von ihr streng nach jüdischen Riten geführt, es galt der Grundsatz, alle Kinder gleich zu behandeln und nicht nach der Herkunft zu fragen.

In Neu-Isenburg stellte sie den Bereich der Wohltätigkeit auf neue Grundlagen und lebte etwas vor, was wir heute als moderne Sozialarbeit bezeichnen würden. Sie dokumentierte die Arbeit im Heim sorgfältig und hielt alles in Akten und Berichten fest.

Die Gefahr durch den Nationalsozialismus hatte Bertha Pappenheim allerdings falsch eingeschätzt, indem sie sich lange gegen eine Auswanderung aussprach. Die Zwangsauflösung des Jüdischen Frauenbunds hat sie nicht mehr erlebt. Ihr Tod im Jahr 1936 ersparte ihr auch, das Schicksal des von ihr gegründeten Heims in Neu-Isenburg mitzuerleben. Das Haupthaus wurde bei den Novemberpogromen 1938 niedergebrannt, die Einrichtung 1942 von der Gestapo aufgelöst, die Bewohnerinnen wurden ins Konzentrationslager deportiert. Heute befindet sich in Neu-Isenburg die Seminar- und Gedenkstätte Bertha Pappenheim.

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