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Leseprobe »Schockwellen«: Verpasstes Energieembargo - Was wurde aus der Zeitenwende?

Ein schnelles Energieembargo gegen Russland wäre sinnvoll und ökonomisch vertretbar! So lautete die wissenschaftliche Empfehlung an die Bundesregierung gleich zu Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Doch der Bundeskanzler entschied sich dagegen, mit einer Überraschenden Begründung: Er vertraute lieber den Empfehlungen der Wirtschaft. Nun erschüttert die Energiekrise die globale Wirtschaft. Gas und Öl werden als geopolitische Waffen eingesetzt. Und plötzlich sind Kohle, Fracking und Atomkraft wieder auf der Tagesordnung. Doch wer zahlt den Preis? Haben wir überhaupt noch eine Chance, uns aus den Abhängigkeiten zu befreien? Energieökonomin Claudia Kemfert gibt Antworten. Und sie benennt die Verantwortlichen für die verfahrene Situation. Ein kleines Zeitfenster bleibt, durch entschlossenes Handeln unsere Energieversorgung zu sichern und gleichzeitig Demokratie, Wohlstand und friedliches Zusammenleben zu stützen.
Eine Sanduhr mit rotem Granulat steht vor verschwommenem Hintergrund und ist bereits zur Hälfte abgelaufen

Energieembargo – eine Diskussion und ein Irrtum

In Deutschland war die Diskussion zu dem Energieembargo besonders intensiv, denn Deutschland ist Putins bester Kunde, was das fossile Geschäft angeht. Kein anderes Land importiert mehr Kohle, Öl und Gas aus Russland als Deutschland. In den ersten beiden Kriegsmonaten soll Deutschland alleine 9,1 Milliarden Euro für Energie an Russland gezahlt haben. Umgekehrt ist Deutschland nach China, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich für Russland der viertwichtigste Handelspartner und Russland machte 2020 etwa 5,5 Prozent seines Exportgeschäfts mit deutschen Unternehmen.

Deswegen gab es zahlreiche prominente Stimmen aus der Politik, die Deutschland aufriefen, die milliardenschweren Lieferungen von Gas, Erdöl und Kohle aus Russland und vor allem den entgegengesetzten Geldfluss zu unterbrechen. Sofort.

Neben US-Außenminister Antony Blinken gehörte dazu vor allem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er zeigte sich enttäuscht, dass Deutschland sich schon bei den Waffenlieferungen an die Ukraine extrem zurückhielt, und forderte nunmehr wenigstens deutliche wirtschaftliche Sanktionen ein. Ein Energieembargo befürworteten auch Prominente aus den Regierungsfraktionen, etwa Jürgen Trittin (Grüne), Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und die Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal (SPD). Auch aus der Opposition kam Zuspruch für einen solch radikalen Im- portstopp von fossilen Energien, beispielsweise von Norbert Röttgen, Jens Spahn und Paul Ziemiak (alle CDU). Aus den Fraktionen der Linken und der AfD sprach sich hingegen niemand für ein Energieembargo aus.

Am deutlichsten aber begrüßte die deutsche Bevölkerung die Idee eines Energieembargos. Laut ZDF-Politbarometer waren Anfang März 5 Prozent der Befragten dafür, kein russisches Öl oder Gas mehr einzuführen, auch wenn es dann in Deutschland zu Versorgungsproblemen käme. Die Menschen wollten offenbar, dass die deutsche Reaktion auf den Angriff für Putin so schmerzhaft wie möglich ausfiel, und scheuten auch keine eigenen negativen Auswirkungen.

Zu einem vergleichbaren Ergebnis kam zur gleichen Zeit auch das Meinungsforschungsinstitut Civey in einer repräsentativen Umfrage. Sie hatten gefragt: »Wären Sie bereit, aufgrund möglicher Sanktionen gegen Russland persönlich wirtschaftliche Konsequenzen zu tragen (z.B. erhöhte Energiekosten)?« 54 Prozent antworteten mit Ja. 73 Prozent sagten, sie seien auf jeden Fall bereit, die Folgen zu tragen, 71 Prozent antworten mit »eher Ja«. Umso erstaunlicher schien es, dass sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zeitgleich entschlossen gegen einen Importstopp aussprach. Er behauptete, dieser könne nicht von heute auf morgen wirksam werden. Bei überhasteten Schritten drohe Deutschland eine Rezession. Was genau ihn zu dieser Einschätzung bewogen hat, verriet er nicht. Deswegen kann man nur spekulieren, welche Motive seine Entscheidung beeinflussten. Sicher, ein Bundeskanzler muss immer abwägen, die möglichen Wirkungen auf Gesellschaft und Gemeinwohl im Blick haben und darf sich nicht von Umfragen leiten lassen. Vermutlich befürchtete er einen möglichen Volksaufstand, der ausbrechen könnte, wenn die persönlichen wirtschaftlichen Konsequenzen doch höher ausfielen als gedacht.

Das technisch wirkende Argument, man könne einen Importstopp nicht von heute auf morgen machen, war jedenfalls vorgeschoben. Denn kurz darauf beschloss die EU ein gemeinsames Kohle-Embargo, dann auch ein Öl-Embargo. Beides trat erst zeitlich verzögert ein. So hätte man auch ein Gasembargo gestalten können.

Doch auch das zweite Argument, dass Deutschland eine Rezession einzig und allein durch ein Energieembargo drohe, schien wenig stich- haltig. Denn Deutschland drohte sowieso eine Rezession – mit oder ohne Embargo. Der Krieg würde in jedem Fall – auch ohne jedes Embargo – die Energiepreise auf den Weltmärkten steigen lassen.

Warum ein Krieg die Energiepreise steigen lässt

Fossile Energie wird zu großen Teilen mit sehr viel Vorlauf gekauft. Man muss zum Kaufzeitpunkt also den Verkaufspreis in einer ungewissen Zukunft abschätzen. Je länger im Voraus ich plane desto ungewisser ist der Preis, aber je größere Mengen ich abnehme, desto billiger wird es. Die Mindestbedarfe werden über Jahre im Voraus in großen Mengen billig vertraglich abgesichert; die Spitzenverbrauchswerte werden kurzfristig teuer dazugekauft. In Friedenszeiten, wo sich alle wie gewohnt verhalten, kann man aufgrund der Erfahrungswerte relativ entspannt Vorhersagen treffen. Im Winter wird mehr Gas gebraucht als im Sommer. Das kann man auf Jahre hinaus am Kalender ablesen. In einem milden Winter wird weniger verbraucht als in einem kalten. Für die Kalkulation werden meteorologische Daten und Prognosen hinzugezogen. Deswegen gibt es mi Gashandel ausgeklügelte Computerprogramme, die versuchen, derlei Faktoren bei einer umfassenden Risikobewertung auszubalancieren.

Ein Krieg aber bringt alles durcheinander. Hier taucht eine Vielzahl von neuen Risiken auf, die sich auf die Marktpreise auswirken. Ähnlich wie Menschen in Krisen anfangen, beispielsweise Mehl und Toilettenpapier zu hamstern, gibt es in Krisen auch auf den Energiemärkten verstärkte Aktivitäten. Dazu gehören auch Spekulanten, die auf eine Verschlechterung der Lage und damit auf steigende Preise wetten, indem sie Energie kaufen, ohne sie selbst zu brauchen oder handeln zu wollen. Sie hoffen auf Profit und treiben damit die Preise zusätzlich in die Höhe.

Insofern war auch schon weit vor dem 24. Februar 2022 erkennbar, dass die sich zuspitzende Lage an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine die Preise für fossile Energien steigen ließ. Der Ausbruch des Krieges würde die Preise also garantiert weiter steigen lassen. Denn früher oder später war damit zu rechnen, dass zwischen Russland und Europa kein Gas und kein Öl mehr fließen würde. Und dabei war es egal, ob Putin Stopp sagte oder die EU.

Das Einzige, was die Preissteigerung stoppen konnte, war ein schnelles Ende des Krieges. Und dafür war ein Embargo ein ziemlich vielversprechendes Instrument.

Wenn die Preise steigen, ist die deutsche Wirtschaft belastet. Ist sie überlastet, gibt es eine Rezession. Aber ist es das Ende? Natürlich nicht. Es ist schlimm, das ist keine Frage. Aber es ist machbar. Jedenfalls haben wir das schon in der Corona-Pandemie erlebt – und ganz gut überstanden. Im Jahr 2020 geriet nämlich die deutsche Wirtschaft nach zehn Jahren des Wachstums in eine tiefe Rezession. Das war für manche Branchen – Gastronomie, Luftverkehr, Tourismus, Kultur und so weiter – durchaus dramatisch, aber es bedeutete für Deutschland nicht den Untergang. Manche Branchen haben sogar davon profitiert, der Onlinehandel zum Beispiel.

Warum ein Energieembargo richtig gewesen wäre

Ich persönlich habe mich für ein schnelles Energieembargo eingesetzt. Ein frühzeitiges Energieembargo hätte ein früheres Ende des Kriegs bewirken können – und zwar sowohl ein Ende des brutalen Angriffskriegs gegen die Ukraine als auch ein Ende des Energiekriegs gegen den Westen. Mit einem Energieembargo hätten wir den Spieß einfach umgedreht: Statt dass Putin uns den Gashahn zudreht, drehen wir ihm den Geldhahn zu. Mir einer radikalen Abkehr von fossilen Energien erschweren wir die Finanzierung eines Kriegs und jeglicher Repressalien gegen die russische Bevölkerung. Gleichzeitig machen wir uns unabhängig. Und wir schaden Putin. Schließlich ist der Verkauf von Energien seine Haupteinnahmequelle.

Aus Angst vor Preissteigerungen ein Embargo auszuschließen ist ein Logikfehler, der sich wissenschaftlich klar widerlegen lässt. Auch ohne Sanktionen bekämen wir keine billige Energie, denn ein Verzicht auf Sanktionen führt nicht automatisch zu keinem Energie-Stopp und auch nicht automatisch zu billiger Energie wie bisher.

Um es in formaler Logik auszudrücken: Wenn die Aussage »A bewirkt B« wahr ist, folgt daraus eben nicht automatisch, dass auch »Nicht A bewirkt Nicht B« wahr ist. Wenn es regnet, werde ich nass. Stimmt. Wenn es nicht regnet, werde ich nicht nass. Das stimmt nicht, wenn ich gerade unter der Dusche stehe. Denn B kann auch durch etwas anderes ausgelöst werden. Nicht nur wir könnten mit einem Embargo »Stopp« sagen, sondern mindestens genauso einfach auch Putin – und zwar ganz unabhängig davon, ob wir Sanktionen erheben oder nicht. Und genau so ist es ja auch gekommen.

Zu glauben, Putin würde diesen Schritt nicht gehen, bedeutete, das Ruder aus der Hand zu geben. Dabei war von Anfang an klar: Schnellstmöglich zu Alternativen zur russischen Energie zu wechseln ist folgerichtig und zwingend nötig – und zwar sowohl im Falle eines selbstbestimmten Importstopps als auch bei einem fremdbestimmten Lieferstopp durch Putin. Ein Verzicht auf russische Energie ist energiewirtschaftlich möglich, wie unsere Berechnungen gezeigt haben – und wie sich in der Realität auch bestätigt hat. Die deutschen Speicher waren vor der anvisierten Zeit wieder gefüllt – am Ende auch ohne russisches Gas.

Natürlich hatten wir ohne Embargo noch einige Monate länger Zeit, das russische Gas zu ersetzen. Aber leider haben wir diese Monate über auch Milliarden Euro in Putins Kriegskasse gespült. Ein frühzeitiges Energieembargo wäre schmerzhaft gewesen und hätte vielleicht bedeutet, dass wir den Sommer über hätten stärker Energie sparen müssen. Aber auch das wäre – gerade im Sommer – möglich gewesen wie wir in unseren Modellrechnungen zeigen konnten.

Ein frühzeitiges Energieembargo wäre ein deutlicher Schlag gegen Putin gewesen und darüber hinaus ein Befreiungsschlag für Deutschland, der uns erlöst hätte aus der Energieabhängigkeit und der Fremdbestimmtheit. Es hätte uns als Nation zusammengeführt und die Solidarität Europas gefestigt, die Deutschland aufgrund seines Zauderns strapaziert hat.

Nun lag offen, dass sich Deutschland nicht von Logik und Vernunft leiten ließ, sondern von einer unlogischen, diffusen Angst vor Wohlstandsverlust. Damit war auch klar, dass Putin mit dem Lieferstopp eine sehr mächtige Waffe in der Hand hatte, die er wie seine Folterinstrumente nach und nach zum Einsatz bringen würde – was er dann ja auch tat.

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