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Leseprobe »Menschen überzeugen, die Recht haben wollen«: Wozu diskutieren wir eigentlich?

Wie gewinnen Sie Sturköpfe für Ihre Ideen? Wie holen Sie Teammitglieder, die auf ihrer Meinung beharren, ins Boot? Woher kommen überhaupt die vielen Widerstände, die uns im Alltag begegnen? Und warum eskalieren Diskussionen offline und online so schnell? Marie-Theres Braun zeigt anhand von realen Beispielen aus Beruf und Alltag die Macht der kooperativen Gesprächstechniken. Lebensnah und anwendungsorientiert vermittelt die Kommunikationsexpertin rhetorische Methoden, mit denen Sie Ihr Gegenüber für sich gewinnen und sich in Diskussionen behaupten können. Die Schritt-für-Schritt-Techniken verhelfen selbst konfliktscheuen Menschen zu mehr Durchsetzungsvermögen und Überzeugungskraft.
Wissenschaft im Dialog

Wozu diskutieren wir eigentlich?

»Mein Chef ist cholerisch. Wie schaffe ich es, mit so einem zu reden?« Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht im Rahmen eines Trainings oder Vortrags damit konfrontiert werde, dass jemand im näheren Umfeld entweder narzisstische, toxische Züge hätte oder anderweitig wahnsinnig, mindestens aber wahnsinnig schwierig im Umgang sei. Wenn ich davon ausgehe, wie häufig meine Beratungen sich um dieses Thema drehen, könnte ich mittlerweile annehmen, dass die überwiegende Mehrzahl der Menschen, die nicht meine Beratung suchen, unter einer massiven Persönlichkeitsstörung leiden. Als wäre jedes vernünftige Gespräch mit ihnen unmöglich und für unsere Alltagskommunikation Hopfen und Malz verloren.

Die gute Nachricht zuerst: Dem ist nicht so. Die andere gute Nachricht gleich nachgeschoben: Selbst mit den schwierigsten Menschen lässt sich in den meisten Fällen – nicht in allen, aber in den meisten – eben doch reden. In der Regel lohnt sich die Diskussion.

Doch wie kommt der Eindruck zustande, dass wir alle von geradezu unmöglichen Menschen umzingelt wären? Und wie kommen wir mit diesen Leuten klar, die uns das Leben schwer machen und denen wir im Alltag oft nun mal nicht entfliehen können? Es gibt viele Situationen, in denen verschiedene Meinungen aufeinandertreffen und wir versuchen, andere für unseren Standpunkt zu öffnen: Wenn wir Kollegen von unseren Ideen überzeugen wollen, Kundinnen von unseren Produkten, die Vorgesetzte von einer Gehaltserhöhung, den Partner von unserer Abendgestaltung, wenn wir miteinander Verträge schließen oder in Teams zusammenarbeiten. Und manchmal wird es dabei schwierig, nämlich dann, wenn sich einer der Diskussionspartner verschließt, die andere Seite nicht hören will, oder wenn es auf einmal um Grundsätzliches geht. Ging es vorher nur um eine Gehaltserhöhung, die nicht bewilligt wurde, geht es wenig später auf einmal um die kapitalistische Führungskraft, die sowieso nur in ihre eigene Tasche wirtschaftet. Aus einer harmlosen Diskussion wird schnell ein Streit zwischen zwei Lagern, die sich mit steigender Vehemenz voneinander abgrenzen: die »egoistischen Kapitalisten« und die »links-grünen Idealisten«, die »alten weißen Cis-Männer«, die ihre Privilegien nicht hinterfragen, und die »unzufriedenen Feministinnen«, die in allem einen Angriff sehen, die »Macher« und die »Jammerer«, »die da oben« und »wir hier unten«, die »Sprachpolizei« und die »Rassisten«, die »Covidioten« und die »Schlafschafe«. Überall lauern sie, die schwierigen Themen, die uns das Diskutieren schwer machen.

Solche Diskussionen sind anstrengend und vor allem hochemotional. Wie gelingt es, auch beim größten Sturkopf nicht an die Decke zu gehen? Und wie schaffen wir es, andere für unsere Sichtweise zu öffnen – sei es unser Produkt, das nächste Urlaubsziel oder eine politische Einstellung? Gerade wenn Sie es mit festgefahrenen Ansichten zu tun haben, kommen Sie mit einer »harten Kante« nicht weiter. Ihr Gegenüber wird sich dann erst recht gegen Ihre Sicht der Dinge wehren. Mit kooperativen Techniken ist es dagegen möglich, Diskussionen zu entschärfen und selbst schwierige Menschen zu »knacken«. Ein plumpes »Ich versteh dich, aber …« ist dabei wenig hilfreich und entspricht oft nicht der Wahrheit, denn: Verstehen Sie den Kollegen, der an Ihrer Kompetenz zweifelt, wirklich?

Deshalb lernen Sie 28 rhetorische Techniken kennen, mit denen ein gemeinsames Gespräch trotz hochstrittiger Themen gelingt und mit denen Sie die Argumente und Wertvorstellungen des Gegenübers geschickt aufnehmen, um sie anschließend in die eigene Argumentation einzubinden. Anhand von Alltagsgeschichten sowie faszinierenden Geschichten aus Forschung und Öffentlichkeit werden verborgene Strukturen hinter Diskussionen aufgedeckt und die rhetorischen Techniken dahinter offengelegt. Schritt-für-Schritt-Techniken und Praxistipps ermöglichen sogar konfliktscheuen Menschen mehr Durchsetzungsvermögen und Überzeugungskraft.

Dabei geht es nicht darum, anderen mit schlagfertigen Sprüchen zu zeigen, wo der Frosch die Locken hat, sondern darum, ein zugewandtes Gespräch zu führen und andere für den eigenen Standpunkt zu gewinnen, ohne verbrannte Erde zu hinterlassen. Denn Sie wollen auch morgen noch mit Ihren Kollegen und Geschäftspartnerinnen zusammenarbeiten. Überzeugungskraft muss weder laut noch schlagfertig sein. Sie hat viele Facetten. Kluge Gesprächstechniken helfen, diese zu entdecken, sich nicht mehr machtlos anderen gegenüber zu fühlen und für die eigenen Ideen einzustehen.

Der erste Teil des Buchs ist mit seinen 28 kooperativen Techniken wie die Chronologie eines Gesprächs zu verstehen. Er beginnt damit, die Sichtweise des anderen zu verstehen und herauszufinden, was hinter seinen Argumenten wirklich steckt. Das baut gleichzeitig eine positive Beziehungsbasis auf, die die Chance auf einen respektvollen Austausch und den eigenen Einfluss erhöht. Erst danach beginnt die eigene Argumentation, die die Sichtweise des anderen einbindet. Die Werte des anderen erhalten dabei besondere Beachtung. Zusätzlich erhalten Sie anschließend wichtige Hinweise, wie Sie Ihren Standpunkt und Ihre Argumente im besten Licht erscheinen lassen. Sobald Sie Ihre Sichtweise preisgeben, bekommen Sie es womöglich mit Unverständnis und Angriffen zu tun. Wie Sie diese souverän abwehren und zu einem positiven Gespräch zurückfinden, erfahren Sie im Kapitel Sich selbst behaupten. Diese Chronologie ist gleichzeitig auch eine Abbildung verschiedener Eskalationsstufen: Mit Zuhören und Verständnis begonnen, geht es gegen Ende auch darum, dem anderen glasklar zu verstehen zu geben, wo er aus Ihrer Sicht falschliegt, seine Argumente zu entkräften, und darum, Angriffe zu parieren und die Augenhöhe zu wahren.

Um das zeigen zu können, werden auch hochsensible Themen und extreme Beispiele besprochen. Denn von Extremen können wir lernen. Alles, was bei explosiven Themen funktioniert, funktioniert in harmloseren Alltagsdiskussionen erst recht. In keinem dieser Beispiele sollen Sie als Leserinnen und Leser inhaltlich von etwas überzeugt werden. Es geht in diesem Buch um das Reden über Inhalte, nicht um die Inhalte selbst. Deshalb baue ich als Autorin auf Ihr Abstraktionsvermögen, sobald es in manchem Beispiel um Werte geht, die Ihnen persönlich am Herzen liegen.

Im zweiten Teil des Buchs geht es um Sie als überzeugende Persönlichkeit: Wie können Sie Ihre Stimme, Körpersprache und Wortwahl so einsetzen, dass Sie als Person glaubwürdig wirken und Ihr Gegenüber Ihren Inhalten Bedeutung beimisst? Gleichzeitig tragen die Tipps dazu bei, emotionale Gespräche zu deeskalieren. Dieser Punkt spielt auch bei der Online-Kommunikation eine große Rolle. Hier eskalieren Diskussionen in den Kommentarspalten besonders schnell. Warum das so ist, wie Sie damit umgehen und weshalb dennoch eine große Chance in der Online-Kommunikation steckt, lesen Sie in Teil 3.

Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte

Mein Bruder hat am 29. Februar Geburtstag, alle vier Jahre. Wenn es den nicht gibt, weil gerade kein Schaltjahr ist, sagen die einen: »Man muss am 28. Februar gratulieren, denn er hat am letzten Tag des Februars Geburtstag und einen Tag vor dem 1. März.« Die anderen sagen: »Nein, er hat am Tag nach dem 28. Februar Geburtstag, und man sollte nie zu früh gratulieren, also muss man am 1. März gratulieren.« Beide Seiten haben Recht. Es ergibt keinen Sinn, sich weiter darum zu streiten, wer mehr Recht hat. Genauso wenig ergibt es Sinn, einen Kompromiss zu schließen, der in der Mitte um 0 Uhr liegt. Eine Entscheidung muss her. Wenn Sie sich mit Ihrem Partner darüber unterhalten, wo Sie Abendessen gehen wollen – er schlägt ein Restaurant am anderen Ende der Stadt vor, Sie eins am gegenüberliegenden Ende der Stadt –, einigen Sie sich hoffentlich nicht in der Mitte und gehen am dreckigen Hauptbahnhof essen – mitten in einer Baustelle, wenn man wie ich in Stuttgart wohnt. Mit der Mitarbeiterin, die ständig unpünktlich kommt, einigt sich die Führungskraft hoffentlich auch nicht da­rauf, in Zukunft »ein bisschen pünktlich« zu sein. Und doch glauben viele, dass es das Ziel einer jeden Auseinandersetzung sei, die »vernünftige Mitte« zu finden. Das ist nicht der Fall, vor allem nicht dann, wenn einer von beiden auf dem Holzweg ist.

Wir brauchen die Fähigkeit, miteinander zu diskutieren und auf gemeinsame Lösungen zu kommen, die sinnvoll sind. Eine Möglichkeit, das zu erreichen und Konflikte zu lösen, ist zu verhandeln. Wir befinden uns immer dann in einer Verhandlung, wenn zwei Menschen unterschiedlicher Meinung sind und sich einigen wollen – von der Honorarverhandlung bis zur Urlaubsplanung. Das Ergebnis kann der eigene Standpunkt sein, aber auch der des anderen oder eine ganz andere Lösung, die alle Wünsche berücksichtigt. Je überzeugender Sie sich behaupten, desto näher liegt das Ergebnis an Ihrem Standpunkt. Wir brauchen für Konflikte also sowohl Verhandlungs- als auch Überzeugungskompetenzen. Ziel ist es, keinen Rückzieher zu machen oder falsche Kompromisse zu schließen, sondern die beste Lösung zu finden, indem Sie auch Ihren Standpunkt überzeugend einbringen.

Manchmal ist aber auch keine Einigung notwendig. Das ist dann der Fall, wenn beide Varianten richtig und möglich sind. Die einen feiern am 28.2., die anderen am 1.3. Zwei unterschiedliche Ansätze dürfen nebeneinander existieren. Das ist nach dem US-amerikanischen Philosophen John Rawls der »Reasonable Pluralism«, ein vernünftiger Pluralismus. Er geht davon aus, dass Menschen – selbst wenn sie sich gründlich und logisch Gedanken machen – zu unterschiedlichen Schlüssen kommen können und dass es möglich ist, diese nebeneinan­der bestehen zu lassen, wenn keine gemeinsame Lösung notwendig ist. Es ist in Ordnung, dass unterschiedliche Religionen, unterschiedliche Beziehungs- und Familienkonzepte und Weltanschauungen neben­einander existieren, solange sie sich gegenseitig nicht beeinträchtigen und niemandem schaden. Dies im Hinterkopf zu haben, schützt uns vor wilden Anschuldigungen, wenn jemand anderer Meinung ist.

Sich mit der Haltung aus der Affäre zu ziehen, dass wir uns nicht einigen müssen, und somit jeglicher Diskussion aus dem Weg zu gehen, wäre die einfachste Lösung. Schließlich sind Diskussionen anstrengend, und für unseren Seelenfrieden wäre es heilsamer, sich von den größten Sturköpfen fernzuhalten. In diese Kerbe schlagen viele, die einem einen Rat geben wollen: »Grenze dich ab von schwierigen Menschen«, »Verabschiede dich von Energievampiren«, »Umgib dich mit Gleichgesinnten!«, »So wird dir die Meinung anderer komplett egal. Mach dein Ding!«. Diese Ratschläge sind so lange zielführend, wie sie nicht als Abgrenzung gegen alles, was unserer Meinung nicht entspricht, missverstanden werden. Was passiert, wenn wir uns vorschnell von Menschen abgrenzen, die anders denken als wir? Wenn wir nur noch mit Menschen sprechen, die hochsensibel kommunizieren und die gleichen Werte vertreten wie wir? Wir verlieren Kritikfähigkeit, Gesprächskompetenzen, merken nicht, wenn wir in die falsche Richtung laufen, verlieren Beziehungen und: die Chance, doch noch zu überzeugen.

Wer keine Gesprächskompetenzen hat und wichtige Verhandlungen zum Beispiel aus Trotz abbricht (»So nicht!«), verliert die Chance auf gewinnbringende Geschäftsbeziehungen. Wer sich über seine Kollegen echauffiert: »Die verstehen einfach nicht, wie spitzenmäßig meine Ideen sind, dann eben nicht!«, der wird keine Durchsetzungsfähigkeit entwickeln. Ich bin Trainerin für Rhetorik und Verhandlung. Hier geht es genau darum, andere zu bewegen und nicht sofort aufzugeben, wenn jemand keine positive Energie versprüht oder Nein sagt. Ein Nein ist erst der Beginn einer Diskussion. Dann ist die Frage: Wie können wir jemanden hin zu einem anderen Standpunkt bewegen und die andere Person doch noch für unsere Perspektive begeistern? Das funktioniert, indem wir die Inhalte so verpacken, dass sie ihre bestmögliche Wirkung entfalten.

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