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Exorzisten der Unendlichkeit

Die beiden Niederländer Gerardus ’t Hooft und Martinus J. G. Veltman wurden für ihre grundlegenden Beiträge zur Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung gemeinsam mit dem diesjährigen Nobelpreis für Physik ausgezeichnet.


Wie die Königliche Schwedische Akademie der Wissenschaften in ihrer Begründung ausführt, haben die beiden Forscher die Theorie der Elementarteilchen "auf festeren mathematischen Grund" gestellt. Und: Sie hätten gezeigt, wie "die Theorie zu genauen Berechnungen physikalischer Größen angewendet werden kann".

In dieser etwas weichen Formulierung kommt eine gewisse Scheu vor dem zugrundeliegenden mathematischen Formalismus zum Ausdruck. Und in der Tat: Abstrakte Begriffe wie "Renormierung" oder gar "nicht-abelsche Eichtheorie mit lokaler Symmetrie", die mit der nun preisgekrönten Arbeit der niederländischen Physiker – und auch mit bereits früher ausgezeichneten Forschungen – verknüpft sind, mögen für den Laien unverdauliche Kost sein. Doch hinter dieser Fachterminologie verbergen sich im Grunde recht einfache Prinzipien der Natur, die zudem für die gesamte Entwicklung der modernen Elementarteilchentheorie von grundlegender Bedeutung sind.

So wissen Physiker seit langem, daß Regelmäßigkeiten und Symmetrien eine wichtige Rolle in den Naturgesetzen spielen, denen subatomare Teilchen und die Kräfte, die zwischen ihnen wirken, unterworfen sind. Dies kommt vor allem im
sogenannten Standardmodell der Teilchenphysik zum Ausdruck, einer Art umfassender Beschreibung der subatomaren Welt. Diesem Modell zufolge ordnen sich alle bekannten Elementarteilchen in drei Familien, die aus je zwei Quarks und zwei Leptonen bestehen. Die Kräfte zwischen diesen Partikeln werden durch eine Reihe von "Austauschteilchen" übertragen; bei der elektromagnetischen Kraft etwa ist dies das Photon. Die Theorien zur Beschreibung der insgesamt vier Grundkräfte haben die gleiche allgemeine Struktur (Kasten auf Seite 20). Dies ist darauf zurückzuführen, daß Symmetrien einer bestimmten Art für die gesamte theoretische Physik maßgebend sind.

Symmetrien begegnen uns auch im Alltag in vielfältiger Weise. Der Buchstabe H zum Beispiel ist (spiegel-)symmetrisch sowohl zu seiner vertikalen als auch zu seiner horizontalen Achse: Eine Spiegelung um eine dieser beiden Achsen führt ihn in sich selbst über. Mathematisch betrachtet, ist eine solche Abbildung eine Transformation, der gegenüber der Buchstabe H "invariant" ist. Das gleiche gilt für eine Drehung um 180 Grad um seinen Mittelpunkt; auch diese Transformation läßt das H unverändert.

Indes haben nicht alle Symmetrien geometrische Bedeutung. Das Muster eines Schachbretts beispielsweise bleibt unverändert, wenn man die Farben aller Felder vertauscht und das Brett anschließend um 90 Grad dreht. Und in einem Ensemble aus elektrisch geladenen Teilchen werden sich die Kräfte zwischen ihnen nicht ändern, wenn man die Vorzeichen aller Ladungen umkehrt. Auch der sogenannte Isospin ist symmetrisch. Isospin haben alle Teilchen, die wie das Proton und das Neutron der starken Wechselwirkung unterliegen. Würde man den Isospin aller Protonen und Neutronen im Universum vertauschen, hätte man alle Protonen in Neutronen umgewandelt und umgekehrt; die starke Wechselwirkung jedoch bliebe durch diese Transformation unverändert. (In Wirklichkeit allerdings gilt die Isospin-Symmetrie nur näherungsweise, weil die elektromagnetische Wechselwirkung des Protons, die mit dessen positiver Ladung verknüpft ist, geringe Abweichungen hervorruft.)

Allgemein ist eine Symmetrie in den physikalischen Gesetzen eine mathematische Transformation, unter der die Gesetze invariant sind. Man muß jedoch genauer zwischen globalen und lokalen Symmetrien unterscheiden. Global ist eine Symmetrie dann, wenn die Transformation an allen Orten zur selben Zeit wirken soll (wie zum Beispiel die Isospin-Symmetrie); lokal hingegen, wenn die Transformation an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt anders gewählt werden darf. Während in den meisten physikalischen Theorien globale Symmetrien auftreten, sind die modernen Theorien der Elementarteilchenphysik gegenüber lokalen Symmetrien invariant; das hängt damit zusammen, daß zwischen den Teilchen Kräfte auftreten, die durch Austauschteilchen vermittelt werden. Und weil in diesen Theorien per Konvention eine sogenannte Phase festgelegt – "geeicht" – werden muß, sprechen die Physiker von Eichtheorien und Eichsymmetrien.

Die erste Eichtheorie mit lokaler Symmetrie war – auch wenn man sie damals noch nicht so bezeichnete – die Theorie der elektrischen und magnetischen Felder, die 1868 James Clark Maxwell einführte. Das elektrische Feld ruhender Ladungen weist zwar eine globale Symmetrie auf (weil es unverändert bleibt, wenn man das zugehörige Potential an allen Stellen und zur selben Zeit um den gleichen Betrag verändert), aber um die Theorie zu vervollständigen, muß man auch die bewegten Ladungen berücksichtigen, die ihrerseits Magnetfelder ins Spiel bringen. Das gemeinsam betrachtete elektromagnetische Feld ist dann gegenüber lokalen Symmetrie-Transformationen invariant.

Mitte der zwanziger Jahre formulierten Paul Dirac, Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger und andere Physiker die Grundlagen der Quantenmechanik. Unmittelbar danach versuchte man, die Wechselwirkung zwischen geladenen Elementarteilchen – die sich der Quantenmechanik zufolge als Wellenfunktionen auffassen lassen – und elektromagnetischen Feldern in einer speziellen Quantenfeldtheorie zu vereinen. Doch der theoretische Rahmen der neuen Quantenelektrodynamik erwies sich von Anfang an als unvollständig. Die Berechnungen ergaben immer wieder "divergierende Integrale", denen keinerlei physikalische Bedeutung zugeordnet werden konnte. Es gelang noch nicht einmal, die Wechselwirkung eines einzelnen Elektrons mit sich selbst sinnvoll zu beschreiben: Die mathematischen Formeln für diese Selbstenergie lieferten stets unendliche Werte.

Diese Probleme entstanden durch eine besondere Aussage der Quantenmechanik: Ein Elektron sollte ein Photon aussenden und gleich wieder absorbieren können. (Ein solcher Vorgang läßt sich durch ein Feynman-Diagramm darstellen, das eine Schleife enthält; Bild auf Seite 22.) Die Zeitspanne zwischen Emission und Absorption ist dabei umgekehrt proportional zur Energie des Photons. Da die Lebensdauer des virtuellen Lichtteilchens im Extremfall Null sein kann, müßte seine Energie dann ins Unendliche anwachsen. Solche Prozesse führten zu Vorhersagen der Theorie, für die es keine physikalisch sinnvolle Deutung gab.

Die Renormierung


Eine Lösung dieses Problems wurde erst gegen Ende der vierziger Jahre gefunden, als der Japaner Shin-Ichiro Tomonaga sowie Julian Schwinger und Richard Feynman aus den USA unabhängig voneinander ein formales Verfahren zur Behandlung der unendlichen Selbstenergie vorschlugen, das heute Renormierung genannt wird. Im Prinzip werden dabei von den aus der Theorie folgenden unendlichen Ausdrücken für die experimentell bestimmbaren Größen von Elektronenmasse und -ladung andere unendliche Beiträge so abgezogen, daß endliche Größen übrigbleiben, die einer physikalisch sinnvollen Vorhersage entsprechen. Mit dieser formalen Methode gelang es, außerordentlich genaue Vorhersagen zu machen.

Der erste Schritt zu einer Eichtheorie für die starke Wechselwirkung gelang 1954 C. N. Yang und Robert L. Mills. Sie gingen von der Isospin-Symmetrie aus, die zunächst global ist: Sie gilt nur, wenn man alle Protonen und Neutronen im Universum gleichzeitig vertauscht. Um lokal zu sein, müßte die starke Wechselwirkung auch unverändert bleiben, wenn man ei-ne Isospin-Transformation an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten durchführte. Yang und Mills gelang es, die globale Isospin-Symmetrie in eine lokale umzuwandeln, indem sie nach dem Vorbild des elektromagnetischen Feldes sechs Vektorfelder einführten, die eine unbegrenzte Reichweite haben. Zwei davon sind mit dem elektrischen und dem magnetischen Feld identisch und beschreiben das Feld des Photons. Die vier anderen lassen sich zwei weiteren Austauschteilchen zuordnen, die allerdings geladen sein müssen: eines positiv, das andere negativ.

Die Yang-Mills-Theorie erwies sich als grundlegend für die Beschreibung der subatomaren Welt, obgleich sie in ihrer ursprünglichen Form da-zu nicht geeignet war. Man versuchte sie zu verbessern, indem man den geladenen Austauschteilchen eine Masse zuschrieb. Dadurch ordnete man den zugehörigen Feldern eine beschränkte Reichweite zu, und so gelang es, die Unterschiede zwischen Protonen und Neutronen – nämlich ihre Wechselwirkung mit dem elektromagnetischen Feld – zu erklären. Die Theorie trug nun also auch dem Umstand Rechnung, daß die Isospin-Symmetrie nur annähernd erfüllt ist.

Allerdings trat bei der Yang-Mills-Theorie ein ähnliches Problem auf wie früher schon bei der Quantenelektrodynamik: Für gewisse Prozesse – solche, deren Feynman-Diagramme Schleifen aufweisen – ergaben sich Unendlichkeiten, die sich mit den bekannten Renormierungsverfahren nicht beseitigen ließen. Durch Einführen eines "Geist"-Teilchens in die Rechnung erreichte Feynman für Prozesse mit einer Schliefe in den Diagrammen, daß sich positive und negative Unendlichkeiten gegenseitig aufhoben. Die Renormierung gelang also wieder mit einem Trick: Indem man die Wahrscheinlichkeit für die Erzeugung eines Geist-Teilchens gleich Null setzt, kann man es für die Rechnung verwenden, ohne daß es im Endresultat erscheint.

Ein neues Instrumentarium


Auf Anregung von Martinus Veltman untersuchte Gerardus ’t Hooft in seiner Doktorarbeit, die er 1969 als 23-jähriger an der Universität Utrecht begonnen hatte, die Renormierung der Yang-Mills-Theorie, die zwischenzeitlich von Peter Higgs und anderen Physikern modifiziert worden war und in der eine lokale Symmetrie gebrochen wird. Mit Hilfe eines störungstheoretischen Ansatzes und eines von Veltman entwickelten Computerprogramms vermochte ’t Hooft bereits 1971 zu zeigen, daß sich Yang-Mills-Theorien auch im Falle einer solchen Symmetriebrechung renormieren lassen. Damit ließen sich nun auch für Feynman-Diagramme mit zwei Schleifen alle Unendlichkeiten zum Verschwinden bringen. Und mit Eichtheorien wurden konkrete, experimentell überprüfbare Vorhersagen möglich. Wie Tomonaga, Schwinger und Feynman ein Vierteljahrhundert zuvor für die Quantenelektrodynamik hatten ’t Hooft und Veltman somit eine weitere funktionierende theoretische Maschinerie entworfen.

Das Instrumentarium, das die beiden der Physik zur Verfügung stellten, floß sogleich in weitere theoretische Arbeiten ein, so etwa in die Wei-terentwicklung des Glashow-Weinberg-Salam-Modells der elektroschwachen Wechselwirkung. Auf der Grundlage der Yang-Mills-Theorie hatten Steven Weinberg – damals an der Harvard-Universität – und Abdus Salam vom Internationalen Zentrum für Theoretische Physik in Triest 1967 unabhängig voneinander ein vereinheitlichtes Modell für die elektromagnetische und die schwache Wechselwirkung entwickelt. Sie versuchten ei-ne lokale Isospin-Symmetrie zu erreichen, indem sie in der Yang-Mills-Theorie noch ein weiteres Vektorfeld einführten. Dadurch gelangten sie zu einem zusätzlichen Austauschteilchen, das eine Masse, aber keine Ladung haben sollte. Bereits 1960 hatte Sheldon Lee Glashow – ebenfalls von der Harvard-Universität – angenommen, daß es drei Austauschteilchen für die schwache Wechselwirkung gibt: je eines mit der Ladung 0, +1 und –1 (in Einheiten der Elementarladung).

Ihrem Wesen nach sollten diese hypothetischen Partikel dem masselosen Photon – dem Träger der elektromagnetischen Kraft – ähneln. Die Unterschiede bestehen lediglich darin, daß die drei Austauschteilchen – auch intermediäre Vektorbosonen genannt – die elektroschwache Kraft zwischen den Elementarteilchen austauschen und eine sehr große Masse haben. Diese drei schweren "Kraftteilchen" – Z0, W+ und W – wurden schließlich 1983 am Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik CERN in der Nähe von Genf nachgewiesen. Die experimentell ermittelten Massen stimmen hervorragend mit den theoretisch erwarteten überein – eine glänzende Bestätigung für die elektroschwache Theorie. Auch die Masse des 1995 am Fermilab in der Nähe von Chicago entdeckten top-Quarks war anhand von Modellrechnungen vorhergesagt worden. Auf ähnliche Weise versucht man heute, die Masse des hypothetischen Higgs-Teilchens einzugrenzen. Die Physiker hoffen, dieses Partikel, das zur Vervollkommnung des Standardmodells postuliert wurde, mit dem Large Hadron Collider am CERN zu entdecken, der im Jahre 2005 in Betrieb gehen soll.

Mit ihren theoretischen Arbeiten zur Renormierung haben Veltman und ’t Hooft wesentlich mitgeholfen, das heute gültige Standardmodell der Elementarteilchenphysik zu entwickeln. Ohne ihre Beiträge würden die Theorien wohl keine mathematisch konsistenten und präzisen Vorhersagen über die Eigenschaften der Elementarteilchen erlauben.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1999, Seite 18
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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