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Sexualität: Alltag im Schlafzimmer

Was genau machen Pärchen eigentlich im Bett? Wie häufig? Und was wird aus der sexuellen Spannung, wenn der Alltag einkehrt? Die Vermessung alternder Leidenschaften ist komplizierter als erwartet. Eine Bestandsaufnahme.
Nackte Beine auf zerwühlten Laken

Kennen Sie den Coolidge-Effekt? Der Legende nach besuchte der frühere US-Präsident Calvin Coolidge (1872-1933) zusammen mit seiner Ehegattin einst eine Musterfarm. Bei der Führung zeigte sich die First Lady beeindruckt von einem Hahn, der sich angeblich dutzende Male täglich paaren konnte. Süffisant bemerkte sie: »Erzählen Sie das doch einmal dem Präsidenten!« Darauf angesprochen, fragte dieser: »Ist es denn jedes Mal dasselbe Huhn?«, was ihm verneint wurde – die Hennen würden ständig wechseln. Seine prompte Antwort: »Erzählen Sie das doch einmal Mrs. Coolidge!«

Ob sich der Wortwechsel zwischen den Coolidges tatsächlich so abgespielt hat, ist nicht gesichert. Der nach ihm benannte Effekt wurde jedoch in vielen Studien, wenn auch mit Ratten, nachgewiesen: Nach wiederholtem Sex mit demselben Partner klappt es nicht mehr so gut.

Die Anekdote birgt jedoch auch eine schmerzhafte Realität für viele feste Paarbeziehungen: Die Lust flaut mit zunehmenden Beziehungsjahren allmählich ab. Der britische Genetiker William H. James untersuchte 1981 die Tagebuchaufzeichnungen verschiedener Ehepaare über die Dauer von drei Jahren. Sein Fazit: Ein Jahr nach der Heirat schlafen Paare nur noch halb so oft miteinander wie in ihrem ersten Ehemonat. Je oller, desto doller? Mitnichten.

James behauptete sogar, die abnehmende Frequenz des sexuellen Akts mit einer mathematischen Formel modellieren zu können. Hatte ein Paar kurz nach der Eheschließung N-mal Geschlechtsverkehr im Monat, betrage die monatliche Sexhäufigkeit nach i Jahren Ehe N = 19xN / 2x(i+18).

Bevor Sie jetzt anfangen, Ihr eigenes Beziehungsleben nachzurechnen: Vergessen Sie die Gleichung am besten gleich wieder. Erstens ist James' Modell etwas aus der Zeit gefallen (Wie viele Paare warten mit dem ersten Sex denn noch bis nach der Heirat?). Und zweitens: Der exakte Zahlenwert ist im Grunde völlig egal. Viel interessanter ist doch: Warum nimmt die Lust in dauerhaften Beziehungen eigentlich ab? Ist das überhaupt ein Problem? Und was können Paare tun, um ihren sexuellen Alltag auch weiterhin spannend zu gestalten? Diese Fragen sind allerdings gar nicht so leicht zu beantworten.

Langjährige Paare haben den besseren Sex

Wie zufrieden Paare mit ihrem Sexleben sind, zeigt sich an zahlreichen Kenngrößen. Die schiere Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs ist nur eine davon. Julia Heiman und ihre Kollegen vom US-amerikanischen Kinsey-Institut luden mehr als 1000 heterosexuelle Pärchen zu einer umfassenden Beziehungs-Inventur ein. Mitmachen durften nur Paare mittleren und höheren Alters – mindestens 40 sollte der männliche Partner sein. Die Versuchspersonen aus Brasilien, Deutschland, Japan, Spanien und den USA sollten frank und frei über ihr Liebesleben Auskunft geben: wie oft sie knutschten, kuschelten, Sex hatten – und wie glücklich sie mit ihrer Beziehung waren. Oberste Regel dabei: Beantworten Sie die Fragen allein, sprechen Sie sich nicht ab!

Die Ergebnisse stimmen optimistisch. Je mehr gemeinsame Jahre die Paare miteinander verbracht hatten, desto zufriedener waren sie im Schnitt mit ihrem Sexleben. Dabei zeigte sich ein spannender Geschlechterunterschied: In den ersten 20 Beziehungsjahren kamen die Männer sexuell besser auf ihre Kosten als ihre Partnerinnen. Die jedoch holten mit den Jahren immer mehr auf und überholten ihre Partner schlussendlich. Jenseits des 30. Beziehungsjahres waren Frauen messbar zufriedener mit ihrer Sexualität.

Für das Beziehungsglück entscheidend: dass die Partner sich oft küssen und miteinander kuschelen

Auch sonst hielt die 2011 veröffentlichte Untersuchung einige Überraschungen bereit. Für das Beziehungsglück war entscheidend, dass die beiden sich oft küssten und miteinander kuschelten. Das galt aber nur für die männlichen Teilnehmer, nicht für die weiblichen! Männer hatten die zusätzlichen Streicheleinheiten offenbar nötiger als ihre Partnerinnen. Für beide gleichermaßen wichtig war es übrigens, dass sie häufig Sex miteinander hatten – und das möglichst pannenfrei (dazu später mehr).

Auch andere Arbeitsgruppen untersuchen, was eine sexuell erfüllte Beziehung eigentlich ausmacht. Auf den vorderen Plätzen: offen über Sex kommunizieren, keine Seitensprünge, Raum für verschiedene sexuelle Praktiken lassen. So weit, so erwartbar. Wie gut es im Bett läuft, darüber entscheiden aber auch ganz praktische Fragen jenseits des Schlafzimmers. Wer kümmert sich beispielsweise um die Kleinen? Hier zeigte sich: Blieb die komplette Arbeit an der Mutter hängen, lief es auch sonst zwischen beiden Elternteilen nicht mehr rund. Sexuell am zufriedensten waren diejenigen Paare, die die Kinderbetreuung fair untereinander aufteilten. Wenn das für die Männer mal nicht ein zusätzlicher Anreiz zum Füttern und Windelwechseln ist!

Leider haben all diese Studien ein Problem: Es lässt sich nur schwer sagen, ob die vermuteten Faktoren die tatsächliche Ursache für die sexuelle Zufriedenheit darstellen. Ebenso gut wäre es denkbar, dass Paare offener miteinander sprechen, mehr experimentieren oder die Kinderbetreuung gerechter aufteilen, weil sie so zufrieden mit ihrem Sexleben sind. Oder entscheiden am Ende ganz andere Dinge darüber, wie gut es in der Beziehung läuft? Um solche tückischen Ursachengeflechte fachgerecht zu entwirren, wären kompliziertere Studiensettings vonnöten – die gibt es bislang aber nur vereinzelt.

Unbefriedigende Forschung

Die Situation ist paradox. Es herrscht eine große Neugier auf Sex in all seinen Facetten. Illustrierte sind voll mit launigen Sexkolumnen und Umfrageergebnissen über die beliebtesten Stellungen, Fantasien, Praktiken. Doch die meisten dieser Statistiken basieren auf schnellen Telefonumfragen mit eher kleinen Stichproben und zweifelhafter Aussagekraft. Die akademische Forschung wiederum ist bemerkenswert prüde, was die körperliche Lust angeht. Eine satte empirische Basis gibt es oft nur dort, wo Sex zum Problem wird – etwa im Zusammenhang mit Krankheiten, Funktionsstörungen oder Kriminalität. Warum dieser Fokus aufs Negative? Über den »ganz alltäglichen Sex«, etwa in festen Paarbeziehungen, weiß man jedenfalls beschämend wenig.

Sicher, da gab es die berühmten Reports des US-amerikanischen Biologen Alfred Kinsey, der Mitte des 20. Jahrhunderts sein Land in helle Aufregung versetzte. Dass ein robuster Anteil der Befragten homosexuelle Fantasien hegte oder regelmäßig masturbierte, klingt aus heutiger Sicht kaum überraschend – für die damalige US-Öffentlichkeit war es eine schiere Ungeheuerlichkeit. Ein solcher Kinsey-Schock blieb im deutschen Sprachraum aber aus: Eine derart aufwändige Studie über das hiesige Sexualleben existiert bis heute nicht.

Julia Haversath von der TU Braunschweig hat mit ihren Kollegen 2017 in einer repräsentativen Umfrage zumindest die grundlegenden Fragen geklärt (siehe Grafik). Einige der Angaben sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Dass sich Männer etwa mit doppelt so vielen Sexualkontakten wie Frauen brüsten, dürfte viel mit sozial erwünschtem Antwortverhalten zu tun haben.

Sexualpraktiken in Deutschland

Ein Team von Sexualforschern des Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf will die Wissenslücke füllen und dabei den ganz großen Wurf wagen – mit ihrer umfassenden Studie zu »Gesundheit und Sexualität in Deutschland« (GeSiD). Über die Adressverzeichnisse der Einwohnermeldeämter wollen sie 5000 Interviewpartner zufällig auswählen, um so ein möglichst unverzerrtes Bild von der Sexualität der Deutschen zu gewinnen.

In der Pilotstudie mit rund 1000 Befragten wollte das nicht so recht gelingen: Weniger als ein Zehntel der ausgewählten Probanden machten sich die Mühe, den Fragebogen zurückzuschicken. Selbst im persönlichen Kontakt verweigerten die meisten Angefragten ihre Teilnahme, sei es aus Scham, Desinteresse oder wegen mangelnden Geschicks des Interviewpersonals.

Trotz der schwachen Rücklaufquoten bringen die Antworten der Befragten Erstaunliches zu Tage. Was die Probanden als sexuelle Orientierung angaben, passte nicht immer zu ihrer gelebten Sexualität. Etwa 95 Prozent der Teilnehmer und Teilnehmerinnen definierten sich als heterosexuell, die übrigen als homo- oder bisexuell. Das spiegelte sich aber nicht unbedingt in ihrem Verhalten wider: Einer von sechs schwulen Männern gab etwa an, sowohl mit Frauen als auch mit Männern zu schlafen. Unter den bisexuellen Befragten war die Diskrepanz noch deutlicher: Sie hatten fast ausschließlich Hetero-Sex, obwohl sie auch Menschen des eigenen Geschlechts anziehend fanden. Ein Teil ihrer sexuellen Fantasien und Wünsche blieb offenbar auf der Strecke.

Wenn es nicht klappt, obwohl beide wollen

Auch sonst wollen Fantasie und Wirklichkeit oft nicht so recht zusammenpassen. Das fängt schon mit der bloßen Häufigkeit an: Nur 46 Prozent der Männer und 58 Prozent der Frauen sind mit dem Status quo zufrieden, so eine australische Studie. Die Übrigen wünschen sich größtenteils mehr Sex, nur selten weniger. Die sexuelle Unterzuckerung kann verschiedene Ursachen haben: Mitunter will einer von beiden Partnern eben nicht. Doch manchmal wollen beide, es will aber einfach nicht gelingen.

»Jeder vierte Mann berichtet von Erektionsschwierigkeiten. Bei der Hälfte dieser Männer ist das Problem so stark, dass sie ohne Hilfsmittel überhaupt keinen Geschlechtsverkehr haben können«, berichtet Kathleen Herkommer. Die Professorin für Urologie erforscht mit ihrem Team am Münchner Universitätsklinikum rechts der Isar die Sexualität des 45-jährigen Mannes. 12 000 Probanden schloss die repräsentative Erhebung bisher ein. »Unser Vorteil ist, dass die Probanden nicht zu einer Sexstudie kommen, sondern zu einer Krebsvorsorgestudie«, erklärt Herkommer. Die Probanden hätten deshalb weniger Hemmungen, von ihrem Sexleben zu berichten. Denn eigentlich geht es bei der PROBASE-Studie um Prostatakarzinome. Um den Zusammenhang mit der sexuellen Aktivität besser zu verstehen, drehte sich ein Teil der Fragen auch um dieses Thema.

Fantasie und Wirklichkeit passen oft nicht so recht zusammen. Nur 46 Prozent der Männer und 58 Prozent der Frauen sind mit dem Status quo zufrieden

»Die Erektionsprobleme sind oft einem ungesunden Lebensstil geschuldet: zu viele Zigaretten, zu wenig Sport«, erzählt die Forscherin. Gerade starkes Bauchfett würde bei Männern die Produktion von Östrogenen anregen und die Ausschüttung von Testosteron hemmen. Die Folge: Er steht nicht mehr. Auch der allmähliche Libidoverlust kann zu einem Problem für Beziehungen werden. Dass der sexuelle Appetit mit dem Alter etwas abflaut, liegt bei Männern teilweise am Testosteron; der Hormonspiegel sinkt mit dem Alter. Doch auch Stress oder Ärger im Job können dazu führen, dass die Lust nachlässt.

»Diejenigen Männer, die im letzten Vierteljahr überhaupt keinen Sex hatten, haben wir gefragt, woran das lag. Die Begründung lautete dann häufig: Krankheit, beruflicher Stress oder schlichtweg der Mangel an Gelegenheiten«, erzählt Herkommer. Schwierig werde es vor allem dann, wenn ein Partner deutlich mehr Lust habe als der andere. »In den urologischen Sprechstunden klagen heterosexuelle Männer häufig: Meine Frau hat keine Lust. Bei schwulen Männern ist das oft umgekehrt. Die erzählen oft, ihr Partner wolle mehr Sex als sie selbst«, so Herkommer.

Auch bei Frauen werden häufig sexuelle Probleme diagnostiziert. Mehr als 15 Prozent aller Frauen hätten mit einer dauerhaften Funktionsstörung zu kämpfen, will eine britische Studie aus dem Jahr 2011 herausgefunden haben. Häufig seien etwa fehlende sexuelle Lust, mangelnde Befriedigung oder die Unfähigkeit, zum Orgasmus zu kommen. Wobei die Diagnose gewisse Bauchschmerzen bereitet: Warum genau soll es eine Störung sein, wenn ein Mensch kein Interesse an Sex (mehr) hat?

Natürlich ist Sex für viele Menschen ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens, eine Quelle ungezügelter Lust und Ekstase. Aber das muss ja noch längst nicht bei allen so sein. Durchs Leben kommt man schließlich auch mit wenig Sex – oder sogar völlig ohne. Einige Kritiker meinen, die Diagnose einer »sexuellen Appetenzstörung« werde vor allem von Pharmafirmen vorangetrieben, um neue Arzneimittel zu verkaufen, etwa das klinisch umstrittene Medikament Flibanserin, auch bekannt als »Viagra für Frauen«.

Dennoch: Vielen Paaren macht es zu schaffen, dass sie mit den Jahren nicht mehr so viel Sex haben wie in ihren ersten gemeinsamen Monaten. »Wenn zwei Menschen sehr lange zusammen sind, finden sie oft Wege, um ihre Sexualität anders auszuleben. Der Fokus geht dann häufig weg vom klassischen vaginalen Verkehr«, meint Kathleen Herkommer. »Viele meiner Patienten erzählen mir, dass sie mit den Jahren kreativer werden, auch mal in den Sexshop gehen oder neue Praktiken ausprobieren. Das wirkt sich positiv auf ihr Liebesleben aus. Ob sie dabei einmal mehr oder weniger Sex pro Monat haben, ist dann völlig egal.«

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