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Therapeutische Antikörper: Können neue Medikamente die Demenz besiegen?

Therapeutische Antikörper, die sich gegen Proteinablagerungen im Gehirn von Menschen mit Alzheimer richten, stehen in Europa kurz vor der Zulassung. Bei wie vielen Betroffenen ihre positiven Effekte die Nachteile der Behandlung aufwiegen, ist noch unklar.
Hände halten schützend ein Gehirn
Zwei neue Wirkstoffe – Lecanemab und Donanemab – sollen Alzheimerpatienten vor geistigem Abbau schützen.

Seit Jahrzehnten suchen Fachleute nach Wirkstoffen, die den kognitiven Abbau bei Morbus Alzheimer stoppen oder zumindest verlangsamen. Lange blieben ihre Mühen fruchtlos. Immer wieder gab es zwar in frühen Untersuchungen Hoffnungsschimmer, doch bei großen klinischen Studien fielen viel versprechende Kandidaten durch. Im besten Fall waren sie wirkungslos, im schlimmsten sogar gefährlich. Das soll nun vorbei sein: Zwei neue Medikamente erzielten 2023 erstmals ermutigende Ergebnisse. Die beiden therapeutischen Antikörper, Lecanemab und Donanemab, richten sich gegen bestimmte Peptide im Gehirn von Alzheimerpatienten, die β-Amyloide. Lecanemab gab die amerikanische Zulassungsbehörde FDA im Januar 2023 vorläufig und im Juli 2023 regulär für die Behandlung von Morbus Alzheimer frei. einer EU-weiten Zulassung der Arznei, die von den Pharmaunternehmen Eisai und Biogen vertrieben wird, rechnen einige Expertinnen und Experten bereits in den kommenden Monaten. Donanemab erzielte laut einer im Juli 2023 veröffentlichten klinischen Studie marginal bessere Behandlungserfolge als Lecanemab. Der Hersteller, das Pharmaunternehmen Eli Lilly, hat bei der FDA die Zulassung beantragt. Die Entscheidung der Behörde steht Ende September 2023 noch aus, sie dürfte jedoch bald erfolgen.

Schon bevor das Gedächtnis von Menschen mit Alzheimer nachlässt, kommt es in und um ihre Neurone zu krankhaften Veränderungen. Unlösliche Moleküle sammeln sich an, in manchen Hirnregionen verlangsamt sich der Stoffwechsel, Zellen sterben ab. Der Prozess beginnt nach heutigem Wissensstand in einem Bereich des Schläfenlappens, dem so genannten entorhinalen Kortex. Die Ablagerungen weiten sich in der Folge weiter in Richtung Hippocampus aus, einem zentralen Areal des Kurzzeitgedächtnisses. Dann entstehen sie in der Amygdala, die an der Verarbeitung von Gefühlen und dem emotionalen Gedächtnis beteiligt ist. Schließlich ist auch ein wichtiger Vermittler des Langzeitgedächtnisses, der Neokortex, betroffen.

Während dieses Prozesses lagern sich β-Amyloide zusammen mit anderen Molekülen im Gehirn ab. Dabei entstehen die so genannten Plaques, die charakteristisch für die neurodegenerative Erkrankung sind. Nachweisen lassen sie sich zum Beispiel mit Hilfe der Positronenemissions-Tomografie (PET). »β-Amyloid entsteht ständig im Gehirn eines jeden Menschen. Bestimmte Enzyme bauen es aber permanent auch wieder ab«, erklärt Stephan Schilling vom Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie in Halle (Saale). Problematisch könne es im Alter werden, wenn dieser Prozess langsamer ablaufe. »Dann sammelt sich β-Amyloid an, verklumpt und die abbauenden Enzyme können nichts mehr ausrichten.«

»Eines sollte jetzt nun endlich klar sein: Die Amyloid-Hypothese ist keine Hypothese mehr, sondern ein Fakt«Christian Haass, DZNE

Misserfolge rüttelten an These

Die »Amyloid-Hypothese« sieht genau hierin das entscheidende Problem: »β-Amyloid lagert sich ab und stiftet ein Protein namens Tau an, ebenfalls unlösliche Strukturen – so genannte Fibrillen – zu bilden. Die Nervenzellen gehen daraufhin zu Grunde«, fasst Schilling zusammen. Den Anfang dieser Kette bilden β-Amyloide, deshalb stürzten sich zahlreiche Forschende auf diese Peptide. »Das ist der Killer, also müssen Ablagerungen verhindert oder beseitigt werden, so der Denkansatz«, erläutert Christian Behl, Direktor des Instituts für Pathobiochemie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz.

Seit 25 Jahren stehen die Moleküle im Fokus der Medikamentenforschung. »Die Erfolgsquote war bisher aber sehr bescheiden«, fasst Evgeni Ponimaskin von der Medizinischen Hochschule Hannover zusammen. Die Idee, die krankhaften Ablagerungen mit Hilfe des Immunsystems oder durch Antikörper zu beseitigen, ist nicht neu. Recht früh habe man versucht, Patientinnen und Patienten aktiv gegen β-Amyloid zu immunisieren, sagt Ponimaskin. Dies schlug allerdings fehl, es gab sogar Todesfälle: »2002 wurde die erste Studie daher gestoppt«, erinnert sich der Neurophysiologe.

Ähnlich erfolglos verliefen anfängliche Bemühungen, abgelagertes Amyloid mit Hilfe von Antikörpern unschädlich zu machen. Manche von ihnen können die Plaques zwar zuverlässig reduzieren. Deutliche positive Effekte auf die Symptome und die Kognition der behandelten Menschen blieben jedoch aus. In diese Kategorie reiht sich die umstrittene Zulassung von Aducanumab in den Vereinigten Staaten ein. Die FDA stimmte dem Antrag im Juni 2021 zu – eine Entscheidung, die selbst innerhalb der Behörde zu Kontroversen führte. Anhand der verfügbaren Daten war nämlich nicht klar, ob der Wirkstoff Patienten und Patientinnen unterm Strich tatsächlich nutzt. »Es gab keinen Wirknachweis, trotzdem ließ die FDA den Antikörper zu«, sagt Linda Thienpont, Leiterin Wissenschaft der Alzheimer Forschung Initiative e.V. (AFI). Die Europäische-Arzneimittelagentur (EMA) lehnte den Antrag auf Zulassung in der EU im Dezember 2021 ab. Im Mai 2022 gab Biogen – das Unternehmen, das Aducanumab vertrieb – bekannt, dass es die Vermarktung des Antikörperpräparats einstellen werde.

Die Misserfolge ließen Fachleute zunehmend daran zweifeln, ob dieser Ansatz der richtige sei. Stimmen, die die Amyloid-Hypothese in Frage stellten, wurden lauter. Nun sehen deren Befürworter ihre Sicht allerdings auf Grund der Studienergebnisse zu Lecanemab und Donanemab bestätigt: »Eines sollte nun endlich klar sein: Die Amyloid-Hypothese ist keine Hypothese mehr, sondern ein Fakt«, kommentierte Christian Haass vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankung (DZNE) in München gegenüber dem »Science Media Center« im Mai 2023.

Wie eine Entrümpelung im Kopf

Beide therapeutischen Antikörper lagern sich an β-Amyloid-Moleküle im Gehirn an. So markieren sie diese für den Abbau durch lokale Fresszellen, die Mikroglia. Lecanemab bindet vor allem an lösliche Vorstufen, Donanemab an unlösliches, bereits abgelagertes β-Amyloid. Sie werden im Labor mit Hilfe tierischer Zellkulturen hergestellt, sind jedoch »humanisiert«; durch diese Anpassung merkt das körpereigene Abwehrsystem nicht, dass die Proteine in der Infusion eigentlich von außen kommen. »Beide Antikörper richten sich gegen Strukturen, die nur im Rahmen einer Alzheimererkrankung auftreten«, erklärt Stephan Schilling. Sie beseitigen das Amyloid zuverlässig und, noch bedeutsamer: Sie verlangsamen das Voranschreiten der Demenz – Lecanemab im Schnitt um 27 Prozent, Donanemab um bis zu 36 Prozent.

»Es ist unklar, ob die Betroffenen den Effekt spüren; die Krankheit verzögerte sich lediglich um vier bis sieben Monate«Linda Thienpont, Leiterin Wissenschaft der Alzheimer Forschung Initiative

An der klinischen Studie von Lecanemab nahmen knapp 1800 Menschen teil. Sie alle waren zwischen 50 und 90 Jahre alt und hatten eine beginnende Demenz oder leichte kognitive Störungen, wie sie oft im Frühstadium einer solchen Erkrankung vorkommen. In ihrem Gehirn oder Liquor wiesen Fachleute β-Amyloid-Ansammlungen nach, die auf Morbus Alzheimer hindeuten. Die Hälfte der Probandinnen und Probanden bekam eineinhalb Jahre lang alle zwei Wochen eine Infusion mit Lecanemab. Bei der anderen Hälfte enthielt diese statt dem Antikörper ein Placebo. Mit Hilfe verschiedener Tests prüften die Forschenden, wie sich die Gedächtnisleistung der Betroffenen entwickelte. Sie maßen etwa, wie gut eine Person sich orientieren oder urteilen konnte und wie gut sie in den Bereichen Körperpflege, Hobbys oder Gemeinschaftsaktivitäten zurechtkam. Mit diesen Daten errechneten sie den so genannten CDR-SB-Score (»Clinical Dementia Rating-Sum of Boxes«) vor und nach der Intervention. Die Testpersonen starteten etwa bei einem Wert von 3,2. Nach eineinhalb Jahren schnitten alle von ihnen schlechter ab: In der Placebogruppe um 1,66 Punkte, in der Lecanemabgruppe um 1,21 – bei Letzteren war der kognitive Abbau also im Behandlungszeitraum 27 Prozent geringer.

Die Studie zu Donanemab war ähnlich aufgebaut. An ihr nahmen etwas mehr als 1700 Testpersonen mit frühen Alzheimeranzeichen teil, die 18 Monate lang alle zwei Wochen entweder die experimentelle Therapie oder ein Scheinmedikament erhielten. Über die gesamte Patientengruppe hinweg sank der CDR-SB-Score bei den mit dem Antikörper Behandelten um 29 Prozent weniger stark ab, bei einer Teilgruppe mit geringen oder mittleren Tau-Ablagerungen im Gehirn sogar um knapp 36 Prozent.

Messbare Veränderungen mit wenig Wirkung

Doch was bedeuten diese Werte für Menschen mit Demenz? Möglicherweise bemerken sie von dem verlangsamten Fortschreiten weniger, als die Zahlen suggerieren. Denn diese sind zwar aus wissenschaftlicher Sicht »statistisch signifikant«, das heißt, sie weisen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einen Unterschied zwischen Scheinbehandlung und Antikörpergabe hin. Das bedeutet jedoch nicht automatisch, dass die Behandlung Patientinnen und Patienten deutliche Vorteile bietet. Ob sie das tut, wird in Fachkreisen noch lebhaft diskutiert. Viele Kritikerinnen und Kritiker finden die Daten zwar akademisch interessant, schätzen den klinischen Nutzen aber als verschwindend gering ein. So urteilt etwa Linda Thienpont über den Effekt von Donanemab: »Es ist unklar, ob die Betroffenen ihn spüren; die Krankheit verzögerte sich lediglich um vier bis sieben Monate.« Der große Druck, endlich über ein Alzheimermedikament zu verfügen, führe dazu, dass selbst nebenwirkungsreiche, extrem teure Arzneien auf den Markt drängten. »Wenn man den aktuellen Hype um die minimalen therapeutischen Effekte verfolgt, scheint es weniger um die Menschen als um Rechthaberei zu gehen«, kritisiert Christian Behl.

»Wenn man den aktuellen Hype um die minimalen therapeutischen Effekte verfolgt, scheint es weniger um die Menschen als um Rechthaberei zu gehen«Christian Behl, Johannes Gutenberg-Universität in Mainz

Anders schätzt Stephan Schilling die Situation ein: Die knapp 30 Prozent bei Lecanemab seien erst der Anfang. Er ist überzeugt, die Schere zwischen Behandelten und Unbehandelten werde zunehmend auseinandergehen, sobald man Menschen länger als 18 Monate therapiert. »Das Fortschreiten der Erkrankung kann dann womöglich noch erheblicher verlangsamt und die Pflegebedürftigkeit weiter hinausgeschoben werden.« Die kognitive Einschränkung sei mit den Antikörpern signifikant weniger fortgeschritten als ohne, bestätigt auch Christian Behl. Er gibt jedoch zu bedenken, dass es trotzdem bergab gehe, »nur minimal langsamer«, und fragt: »Ist das wirklich das Ziel einer überzeugenden Therapie?«

Die Herstellerfirmen von Lecanemab, Biogen (USA) und Eisai (Japan), veröffentlichten die Ergebnisse der Studie über eine Presseaussendung, bevor detaillierte Daten dazu im Fachjournal »New England Journal of Medicine« erschienen. In den Anhängen zur Untersuchung versteckt sich ein spannendes Detail: Frauen profitieren offenbar deutlich weniger von der Therapie als Männer. Bei Ersteren macht der bremsende Effekt nur 12 Prozent aus, bei Letzteren hingegen 43 Prozent. Da Frauen häufiger Alzheimer entwickeln als Männer – 60 von 100 Betroffenen sind weiblich –, hat diese Information eine große klinische Bedeutung. Dennoch wurde sie im Studienbericht nicht erwähnt und auch sonst kaum kommuniziert.

Erhöhtes Risiko von Schwellungen und Blutungen

Donanemab bremste den kognitiven Abbau etwas stärker als Lecanemab, insbesondere bei Patientinnen und Patienten mit geringen Tau-Ablagerungen im Gehirn. Doch dieser Effekt war teuer erkauft: »Nebenwirkungen wie Hirnschwellungen und Hirnblutungen waren stärker ausgeprägt. Es sind sogar drei Menschen gestorben«, sagt Linda Thienpont. Donanemab-Infusionen führten bei rund einem Drittel der Behandelten zu solchen unerwünschten Effekten, bei Lecanemab traten sie bei einem von fünf auf. Viele Betroffene bemerken es allerdings gar nicht, wenn ihr Gehirngewebe etwas anschwillt oder es zu winzigen Hirnblutungen kommt. Durch Hirnscans, die die Forschungsteams im Rahmen der klinischen Studie regelmäßig von den Probanden anfertigten, ließen sich die Schwellungen und Blutungen selbst dann nachweisen, wenn sie bei den Betroffenen noch keine Beschwerden auslösten. Drei bis sechs Prozent der Behandelten litten allerdings unter Kopfschmerzen, ihnen wurde übel oder sie waren verwirrt. Manche wurden bewusstlos, einige wenige starben in der Folge.

Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung der Neurologin Sherry Chou von der Feinberg School of Medicine der Northwestern University in Chicago berichtete über den Fall einer 65-jährigen Patientin. Die Frau kam mit akuten Schlaganfallsymptomen in die Notaufnahme. Ein Blutgerinnsel in ihrem Kopf lösten die Ärztinnen und Ärzte mit den üblichen Medikamenten auf. Nach einer knappen Stunde stieg der Blutdruck der Frau dramatisch an, woraufhin das medizinische Team die Therapie abbrach. Ein Hirnscan offenbarte zahlreiche Blutungen in ihrem Gehirn. Die Patientin starb drei Tage später. Sie hatte an der Lecanemab-Studie teilgenommen und den Antikörper bereits dreimal verabreicht bekommen. Die letzte Infusion lag zum Zeitpunkt ihres Schlaganfalls vier Tage zurück.

»Patienten würden wahrscheinlich einige Nebenwirkungen in Kauf nehmen. Selbst, wenn sie die Krankheit damit nur sechs oder acht Monate hinauszögern könnten«Evgeni Ponimaskin, Medizinische Hochschule Hannover

Die Antikörpertherapien fördern Blutungen und Schwellungen wohl vor allem bei jenen, bei denen sich unlösliche Proteinplaques nicht nur um die Nervenzellen herum, sondern auch in Blutgefäßen abgelagert haben. Wird ihr Immunsystem an diesen Stellen aktiv – angeregt durch den therapeutischen Antikörper –, läuft man Gefahr, die Gefäße durchlässiger zu machen oder zum Platzen zu bringen. Besonders hoch ist das Risiko bei Menschen mit der Genvariante APOE4. Auch die 65-Jährige aus Chicago trug diese in ihrem Erbgut, so wie viele andere Alzheimerpatientinnen und -patienten. Christian Behl weist noch auf ein weiteres heikles Detail aus der klinischen Studie hin: Bei Personen mit APOE4 habe Lecanemab den geistigen Abbau nach Datenlage offensichtlich nicht merklich hemmen können. Im Gegenteil: Bei ihnen beschleunigte sich der Krankheitsfortschritt sogar.

Bisher gibt es keine Medikamente, die Demenzen stoppen. Die Verzweiflung ist bei vielen Betroffenen und Angehörigen groß. Nicht wenige wären vermutlich bereit, bei der Behandlung auch gewisse Risiken einzugehen. »Patienten würden wahrscheinlich einige Nebenwirkungen in Kauf nehmen. Selbst, wenn sie die Krankheit damit nur sechs oder acht Monate hinauszögern könnten«, schätzt Evgeni Ponimaskin.

Teuer, aufwändig, langwierig

Linda Thienpont glaubt ebenfalls, dass viele Betroffene Lecanemab oder Donanemab trotz aller Gefahren einnehmen würden. »Die Medikamente sind aber lange nicht für jeden geeignet«, fügt sie hinzu. Ein Team um die Neurologin Maria Vassilaki von der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota, rechnete im Fachjournal »Neurology« vor, dass nur 17 von 100 Menschen mit einer frühen Alzheimersymptomatik die Kriterien für Probanden der klinischen Studie zu Lecanemab erfüllen. Zum Beispiel musste dazu der Body-Mass-Index zwischen 17 und 35 liegen. Personen, die schon einmal einen Schlaganfall oder eine Krebserkrankung hatten, waren ausgeschlossen. Ebenso solche, die unter einer Herz-Kreislauf-Erkrankung litten, blutverdünnende Medikamente einnahmen oder bei denen sich im Hirnscan Durchblutungsstörungen zeigten.

Neben dieser hochselektiven Auswahl müssen Personen, die einen der Wirkstoffe bekommen, ständig mittels Magnetresonanztomografie (MRT) »überwacht« werden. Die Bildgebungsmethode macht Hirnschwellungen und Blutungen sichtbar. Sind sie vorhanden, muss die Therapie möglichst schnell gestoppt werden. Die engmaschige Kontrolle ist aufwändig – und teuer. Ein einziger Scan kostet in Deutschland einige hundert Euro, in den USA mehrere tausend US-Dollar. Zudem sind die Behandlungen langwierig. Lecanemab wird alle zwei Wochen per Infusion verabreicht, und zwar dauerhaft. Bei Donanemab muss der Vorgang alle vier Wochen wiederholt werden. Der Vorteil bei diesem Antikörper ist, dass laut Hersteller Behandlungspausen eingelegt werden können, sobald ausreichend Amyloid im Gehirn beseitigt wurde.

Die jährlichen Kosten einer Lecanemabtherapie schätzt die Alzheimer Forschung Initiative e.V. auf 26 500 US-Dollar. Sie werden derzeit noch nicht von den US-amerikanischen Krankenversicherungen übernommen. Das Deutsche Netzwerk Gedächtnisambulanzen berechnete, dass sich bei ähnlichen Preisen wie in den USA die Behandlungskosten aller geeigneten Alzheimerpatienten in 27 EU-Ländern auf 133 Milliarden Euro pro Jahr belaufen würden. Für die hiesigen Gesundheitssysteme stellt das eine unbezahlbare Summe dar.

Aktuell ist der Nutzen der neuen Therapeutika zwar eher bescheiden. Doch Stephan Schilling hofft, dass sich ihre Wirkung weiter optimieren lässt – etwa, indem man die Antikörper noch früher im Krankheitsverlauf verabreicht. Dazu bräuchte es einfach und günstig messbare Biomarker, die auf eine spätere Alzheimererkrankung hindeuten. Nach solchen suchen Forschende bereits intensiv. Viel Potenzial sieht Schilling außerdem bei etwaigen Kombinationstherapien. Aktuell befinden sich mindestens 125 potenzielle Wirkstoffe in klinischen Studien. Einen davon hat er mit Kolleginnen und Kollegen mitentwickelt: »PQ912« hemmt ein Enzym in Neuronen. Dieses verändert einen Baustein von β-Amyloid, die Aminosäure Glutamat, und wirkt so entscheidend an der Plaquebildung mit. Das Molekül testen die Fachleute gerade in einer frühen klinischen Studienphase, in der es erstmals Patientinnen und Patienten verabreicht wird.

Breiterer Blick für verbesserte Behandlungen

Es sei wichtig, sich nicht nur auf die Antikörpertherapie zu fixieren, betont Schilling. Das sieht auch Linda Thienpont so: »Es muss weiterhin in viele Richtungen geforscht werden.« Amyloid ist nämlich nur ein Teil des Puzzles. Genetische Faktoren, die bestimmte Prozesse in Hirnzellen stören, tragen ebenfalls zur Krankheit bei. In den vergangenen Jahren sind Entzündungsprozesse und Infektionen in den Fokus von Forschungsgruppen gerückt – vermutlich spielen auch sie eine Rolle beim Krankheitsgeschehen. »Die meisten Fachleute sind sich einig, dass Alzheimer durch viele Faktoren bedingt ist«, sagt Thienpont. Die Neurodegeneration hat dementsprechend mehrere Auslöser und kann sehr unterschiedlich ablaufen. Das eine Medikament für alle werde es daher auch in Zukunft voraussichtlich nicht geben.

Dass Amyloid eine Rolle im Krankheitsprozess spielt, bestreitet heute kaum jemand. Fachleute sind sich jedoch uneins darüber, wie stark das Molekül zur Alzheimerentstehung beiträgt. »Es ist sicherlich nicht gut, zu viel davon im Gehirn zu haben«, meint etwa Christian Behl. »Aber ich bin überzeugt, dass es nicht der initiale Trigger ist«. Immer, wenn das Gehirn unter starkem Stress stehe, bilde es Amyloid, sagt der Neurobiologe. Daraus könne man schließen, dass das Molekül eine Schutzfunktion habe. Womöglich, so eine These, entferne es als antimikrobielles Peptid Krankheitserreger.

In dem Buch, das er 2023 veröffentlichte, fordert Behl einen Paradigmenwechsel: weg vom Fokus auf die Amyloid-Hypothese, hin zu anderen Modellen der Alzheimerentstehung. Eingangs zitiert er den britischen Genetiker und Demenzforscher Sir John Hardy: »Als wir Amyloid-Mutationen fanden, dachten wir und die Fachwelt, dass die Beseitigung von Amyloid die Beseitigung von Demenz sei. Wir hatten die Idee einer Wunderwaffe. Das denken wir nicht mehr.« Die Antikörperpräparate, die voraussichtlich bald in Europa erhältlich sein werden, sind also nur ein erster Schritt hin zu einer wirksamen Alzheimertherapie.

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