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Nobelpreis für Physik 2020: Am Ende der Zeit

Roger Penrose, Andrea Ghez und Reinhard Genzel haben Schwarze Löcher aus der Fantasie in die Wirklichkeit geholt. Bis heute fordern die extremen Objekte unsere Vorstellungskraft heraus.
Sterne im galaktischen Zentrum

Das Stockholmer Nobelkomitee ist normalerweise sehr gut darin, abstrakte Wissenschaft anschaulich zu machen. Vor vier Jahren nutzte es Brezeln und Zimtschnecken, um der internationalen Presse das kaum verständliche Forschungsfeld der Topologie zu erklären. 2019 war es dann eine Kaffeetasse mit einem Schuss Milch, die als Metapher für Dunkle Energie und Dunkle Materie im Universum herhalten musste.

Dieses Jahr hingegen hielt Komiteemitglied Ulf Danielsson eine schwarze Kugel in die Kamera – und dürfte damit viele Zuschauer überfordert haben. Denn die Erklärung des schwedischen Physikers entzog sich so sehr der menschlichen Vorstellungskraft, dass man im Grunde nur verwirrt sein konnte. »Wenn ich meine Fingerspitze hineinstecke, befindet sie sich in der Zukunft«, sagte Danielsson. »Will ich sie anschließend wieder herausziehen, ist das ähnlich schwierig wie in der Zeit zurückzureisen.«

Von der Idee zur Realität

Keine Frage, Schwarze Löcher sind eine Zumutung. Vor 60 Jahren glaubten nur wenige Wissenschaftler, dass es die Licht schluckenden Massegräber wirklich gibt. Doch dann zeigten theoretische Physiker, dass Schwarze Löcher kein Widerspruch zur Relativitätstheorie sind, sondern eine logische Folge von Albert Einsteins Weltmodell. Zielstrebige Astronomen machten daraufhin Bilder des Weltalls, die sich nur mit der Existenz Schwarzer Löcher erklären lassen.

Der diesjährige Physik-Nobelpreis würdigt diese Arbeitsteilung in der modernen Wissenschaft: Zur Hälfte geht er an den berühmten Mathematiker Roger Penrose, der in den 1960er Jahren wegweisende Gedanken über Schwarze Löcher veröffentlicht hat. Die andere Hälfte teilen sich die US-Astronomin Andrea Ghez und ihr deutscher Kollege Reinhard Genzel. Ihre Teams haben seit den 1990er Jahren riesige Sterne im Zentrum unserer Galaxie beobachtet und damit bewiesen, dass sich dort ein gewaltiges Schwarzes Loch namens Sagittarius A* versteckt.

Roger Penrose | Der Mathematiker und theoretische Physiker wurde 1931 im britischen Colchester geboren. Heute arbeitet er an der University of Oxford.

Nach heutigem Verständnis handelt es sich um eine unscheinbare schwarze Sphäre. Stünde sie im Mittelpunkt unseres Sonnensystems, würde sie etwa bis zur Bahn des innersten Planeten Merkur reichen. Das klingt erst einmal nicht besonders bedrohlich. Aber da das Schwarze Loch vier Millionen Mal so viel Masse wie unsere Sonne in sich vereint, zerrt es über Lichtjahre hinweg an seinem Umfeld.

Extrem geht es auch im Inneren des Schwarzen Lochs zu. Normalerweise wehren sich Atomkerne und Teilchen dagegen, wenn man sie immer weiter zusammenschieben will. Bei Sternen und Planeten bildet sich ein Gleichgewicht zwischen Schwerkraft und Gegendruck aus, sie haben deshalb eine Oberfläche. In Schwarzen Löchern dagegen überwindet die Gravitation sämtliche Widerstände. Materie fällt einfach immer weiter nach innen und sammelt sich auf einem Punkt.

Laut Relativitätstheorie hat das bizarre Folgen. Die Schwerkraft der »Singularität« ist nicht nur so stark, dass ihr nicht einmal Licht entfliehen kann. Das Loch in der Raumzeit lässt auch Uhren langsamer ticken, Experten sprechen von gravitativer Zeitdilatation. In der Nähe des unendlich dichten Mittelpunkts müsste die Zeit sogar völlig zum Stillstand kommen. Was genau dort vor sich geht, kann Einsteins Theorie indes nicht sagen: Im Inneren der Singularität verlieren die Gleichungen ihre Aussagekraft.

Aber konnte all das wirklich sein? Die Frage beschäftigte Physiker fast ein ganzes Jahrhundert. Bereits 1915 zeigte der Deutsche Karl Schwarzschild, dass die Feldgleichungen der Relativitätstheorie extrem dichte Kugeln erlauben. Für den Mittelpunkt und die Grenzfläche gab die »Schwarzschild-Metrik« allerdings keine eindeutige Prognose ab. Erst 1939 erkannte der spätere Vater der Atombombe Robert Oppenheimer, dass der Rand von Schwarzschilds Kugel eine besondere physikalische Bedeutung hatte: Alles im Inneren dieses »Ereignishorizonts« kann der Schwereanziehung nicht mehr entkommen, nicht einmal Licht.

Reinhard Genzel | Der deutsche Astrophysiker wurde 1952 in Bad Homburg vor der Höhe geboren. Heute ist er Direktor des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik in Garching bei München und Professor an der University of California in Berkeley.

Oppenheimer übertrug diese Überlegungen auf den Kollaps von sehr schweren Sternen. Fallen sie am Ende ihres Brennzyklus in sich zusammen, müsste sich dabei eine Singularität bilden, die man nur noch über ihr Gravitationsfeld nachweisen kann. Doch die meisten Gelehrten, darunter Einstein, blieben skeptisch. Einer der Einwände betraf die Symmetrie des Kollaps: Fällt eine Masse nicht von allen Seiten perfekt gleichmäßig gen Mittelpunkt, wie es in den meisten realen Situationen der Fall sein dürfte, würde die Masse womöglich auf einer Seite wieder herausschwappen und so die Singularität verhindern. Andere Forscher vermuteten, dass sich Riesensterne beim Kollaps schlicht komplett in Strahlung auflösen.

Erst nach 20 Jahren kam Bewegung in die Debatte. Mit Funkantennen ausgestattete Astronomen entdeckten Regionen am Himmel, die große Mengen Radiostrahlung abgaben. 1963 war klar, dass es Objekte außerhalb unserer Milchstraße waren: die Kerne weit entfernter Galaxien. Etwas in ihrem Zentrum schien Materie enorm stark zu beschleunigen und dadurch das Weltall mit Strahlung zu fluten. Bevor die Fachwelt wirklich an supermassereiche Schwarze Löcher als Verursacher glaubte, galt es aber noch theoretische Probleme zu lösen.

Hier tat sich Roger Penrose hervor. Er stellte eine neue Berechnung für den Kollaps einer großen Masse an. Dabei verzichtete er jedoch explizit auf eine Annahme Oppenheimers, der von einem kugelsymmetrischen Zusammenfall ausgegangen war. Dazu aber musste Penrose mit Hilfe der Topologie ein kompliziertes mathematisches Konzept entwerfen, die »eingeschlossenen Oberflächen« (englisch: »trapped surfaces«).

Es handelt sich dabei um in sich geschlossene Flächen, vereinfacht kann man sie sich als Kugeln vorstellen. Im Detail haben sie jedoch eine Besonderheit: Alle Lichtstrahlen, die von ihrer Oberfläche ausgehen, landen auf Bahnen, die letztlich in Richtung des Mittelpunkts zurückführen. Laut Penroses Überlegungen hat auch die kontrahierende vierdimensionale Raumzeit diese Eigenschaft, wenn sie hinreichend schnell in sich zusammenstürzt – ganz unabhängig von der Symmetrie des Kollaps. Entsprechend ist eine Singularität samt Ereignishorizont nicht nur eine obskure Möglichkeit, sondern in vielen Situationen eine unausweichliche Folge von Einsteins Relativitätstheorie.

Wenn die Zeit stillsteht

In der Logik der Relativitätstheorie tauschen Ort und Zeit im Inneren eines Schwarzen Lochs dadurch ihre Bedeutung: Je tiefer man ins Schwarze Loch vordringt, desto weiter schreitet man in der Zeit voran. Oder anders formuliert: Mit verstreichender Zeit rückt alles zwangsläufig näher an die Singularität, an der die Zeit dann ganz einfriert. Demnach müsste man also in der Zeit zurückzureisen, wenn man aus einem Schwarzen Loch entkommen will, so wie es Nobelkomitee-Mitglied Ulf Danielsson auf der diesjährigen Pressekonferenz erklärte.

Andrea Ghez | Die Astronomin wurde 1965 in New York geboren. Heute ist sie Professorin an der University of California in Los Angeles.

Roger Penrose beschäftigte sich noch weiter mit den bizarren Objekten und ihren Eigenschaften. Dabei arbeitete er eng mit Stephen Hawking zusammen. Die beiden übertrugen Penroses Überlegungen unter anderem auf den Urknall. Hawking zeigte dann später, dass Schwarze Löcher via »Hawking-Strahlung« langsam verdampfen. Und Penrose machte sich Gedanken dazu, wie rotierende Schwarze Löcher Energie an ihr Umfeld abgeben könnten.

Experten halten die Beiträge der beiden Briten insgesamt für ähnlich wichtig. »Jetzt, wo Penrose den Nobelpreis bekommen hat, hätte ihn im Grunde auch Hawking verdient gehabt«, sagt der Gravitationstheoretiker Luciano Rezzolla von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Penrose, Hawking und andere sorgten in den 1960er und 1970er Jahre dafür, dass ihre Kollegen Schwarze Löcher als reale Objekte in Erwägung zogen. Die beobachtende Astronomie sammelte derweil immer weiter Indizien für die Existenz der Massefriedhöfe. Doch selbst Mitte der 1990er Jahre, als längst das Hubble-Teleskop im All schwebte, zweifelten Fachleute noch.

Blick ins galaktische Zentrum

Das lag zum einen daran, dass man Schwarze Löcher nun einmal nicht auf Teleskopbildern sehen kann. Sichtbar wäre nur ihr Umriss, wenn sie von leuchtendem Gas umgeben sind. Doch der Ring, den man dabei beobachten sollte, wäre in den allermeisten Fällen schlicht zu klein und zu weit entfernt, um ihn von der Erde ausmachen zu können.

Reinhard Genzel und Andrea Ghez entwickelten eine Strategie, wie man besonders massereiche Exemplare auf indirektem Wege nachweisen kann. Die konkurrierenden Gruppen in Garching und Kalifornien blickten dafür ins Zentrum unserer Galaxie, wo Experten bereits damals Sagittarius A* vermuteten.

Das Gravitationsmonster mit seinen mehreren Millionen Sonnenmassen müsste Sterne in seiner Nähe eigentlich enorm stark beschleunigen. Und an der Form der Sternbahnen sollte man ablesen können, wie kompakt die Masse im Zentrum der Milchstraße verteilt ist. Das war ein wichtiger Punkt. Denn manche Forscher argumentierten damals, dass sich im Zentrum der Milchstraße einfach ein besonders üppiger Sternhaufen verberge, der ähnlich viel Schwerkraft aufbringe wie das mutmaßliche Schwarze Loch.

Sternbahnen | Simulation der Orbits mehrerer Sterne rund um das extrem massereiche Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße.

Wer einen Blick ins Herz der Milchstraße werfen will, muss große Hindernisse überwinden. Die Region ist 26 000 Lichtjahre von der Erde entfernt und von dichten Staubwolken umgeben. Auch müssen Jäger des Schwarzen Lochs die Sterne in der Zentralregion über einen sehr langen Zeitraum im Blick behalten, was nur Teleskope am Erdboden leisten können – die dabei jedoch von Interferenzen in der Atmosphäre gestört werden.

Letztlich entwickelten Genzel und Ghez Lösungen für all diese Probleme. Sie bauten Lichtdetektoren, die Strahlung im Nahinfrarot auffangen, welche interstellare Staubwolken einigermaßen gut durchdringen kann. Zudem entwickelten sie Methoden, mit denen sich die Turbulenzen in der Atmosphäre herausrechnen lassen. »Die Gruppen haben diese Techniken sehr zielgerichtet weiterentwickelt«, sagt Lutz Wisotzki vom Leibniz-Institut für Astrophysik in Potsdam.

Daneben bewiesen die Teams große Beharrlichkeit: Über drei Jahrzehnte hinweg richteten sie immer wieder Teleskope der Europäischen Südsternwarte (ESO) in Chile und des Keck-Observatoriums auf Hawaii auf das galaktische Zentrum. Mit der Zeit fiel ihnen dabei ein Stern auf, den Genzel und sein Team kurz und knapp »S2« taufte. Seine Bahn gleicht einer ausgedehnten Ellipse, die um das Zentrum der Milchstraße führt. 16 Jahre benötigt S2 für einen Umlauf – und wird dabei zeitweise von gewaltigen Gravitationskräften auf 2,5 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt.

Letztlich passen der Orbit von S2 und die Bahnen anderer Sterne am besten zu einer sehr kompakten Masse im galaktischen Zentrum – womit ein schwerer Sternhaufen oder andere Erklärungen ausscheiden. Dadurch bleibe nur ein »kompaktes, supermassereiches« Objekt übrig, schreibt das Nobelkomitee. Die meisten Experten würden sagen: ein Schwarzes Loch.

Das erste Bild eines schwarzen Lochs | Diese Aufnahme des Event Horizon Telescope ging um die Welt: Sie zeigt einen leuchtenden Ring aus heißer Materie, der das Schwarze Loch im Zentrum der Galaxie M87 umgibt. Das Bild ist das Resultat einer Rekonstruktion von Messdaten, die acht Observatorien im April 2017 gesammelt hatten.

Dass sich die Gravitationsmonster im Zentrum von Galaxien verbergen, hat kürzlich ein weltweiter Zusammenschluss von Radioteleskopen gezeigt, das Event Horizon Telescope. 2019 präsentierte die internationale Forscherkollaboration die Aufnahme aus dem Zentrum der Galaxie M87. Das dortige Schwarze Loch ist mit rund 6,5 Milliarden Sonnenmassen nochmals deutlich schwerer als das Objekt im Herzen unserer Milchstraße.

Viele Beobachter hatten im Vorfeld der Nobelpreisverkündung erwartet, dass die Königliche Schwedische Akademie dieses Jahr das Event Horizon Telescope auszeichnet. Das hätte aber wohl zum einen praktische Probleme gebracht, da sich bei dem großen Teamprojekt nicht ohne Weiteres drei klare Preisträger herausheben lassen. Andererseits hätte man damit wohl auch jene Forscher übergangen, die jahrzehntelang indirekte Hinweise sammelten – und sie gegen die Zweifel ihrer Kollegen verteidigten.

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