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Cyclocarbone: Seltsame Ringe stellen zentrales Konzept der Chemie in Frage

Eine neue Form des elementaren Kohlenstoffs zeigt ein bekanntes Phänomen auf unerwartete Weise. Die Bindungen der Cyclocarbone ähneln Aromaten wie Benzol – und sind doch ganz anders.
Ein Ring aus schwarzen Kugeln.
Ringe aus Kohlenstoffatomen lassen ein zentrales Prinzip chemischer Bindungen in neuem Licht erscheinen.

Auf den ersten Blick sehen Cyclocarbone fast langweilig aus: Ringe, in denen sich ein Kohlenstoffatom an das andere reiht, verknüpft abwechselnd durch Dreifach- und Einfachbindungen – oder durch eine ununterbrochene Abfolge von Doppelbindungen. Je nachdem, wie man das Ganze betrachtet. Doch der einfache Schein trügt. Jahrzehntelang war es unmöglich, solche Verbindungen herzustellen. Erst in den letzten Jahren ist es Chemikern gelungen, die Synthese so weit zu treiben, dass sie solche neuen molekularen Formen reinen Kohlenstoffs erforschen konnten. Und einige der so gewonnenen Erkenntnisse könnten ein zentrales Konzept der Chemie völlig umkrempeln: das der Aromatizität.

Die Idee, dass Cyclocarbone eine weitere Erscheinungsform des elementaren Kohlenstoffs sein könnten – ein so genanntes Allotrop –, fasziniert Fachleute schon lange: »Die meisten Chemiker fühlen sich von Schönheit und Symmetrie angezogen«, sagt Rik Tykwinski, ein Experte für physikalische organische Chemie von der University of Alberta in Kanada. Schon in den 1960er Jahren testete der Nobelpreisträger Roald Hoffmann an den Cyclocarbonen seine Modellrechnungen zur Aromatizität. Damals bestanden die Moleküle aber nur in der Theorie, und über ihre Bindung, Geometrie und Aromatizität war kaum etwas bekannt. Vorhersagen über ihre Eigenschaften waren oft widersprüchlich und umstritten. »Man rechnet mit einer Methode, dann kommt dies heraus. Man rechnet mit einer anderen, dann kommt jenes heraus, vielleicht sogar das Gegenteil«, erklärt Tykwinski. »Solange man das Molekül nicht herstellt, lassen sich viele Fragen nicht beantworten.«

Den Beweis, dass Cyclocarbone tatsächlich existieren, erbrachten Experimente in den 1980er Jahren, bei denen die ringförmigen Verbindungen als Spurengase entstanden. 1989 präsentierten François Diederich und sein Team von der University of California in Los Angeles, die erste gezielte Synthese von Cyclo[18]carbon (C18) in der Gasphase. Einige Jahre zuvor war auch das Buckminsterfulleren erstmals synthetisiert worden, ein kugelförmiges Molekül aus 60 Kohlenstoffatomen. Einige Chemiker dachten daraufhin, Cyclocarbone könnten ein weiteres stabiles Allotrop von Kohlenstoff darstellen. Doch ganz so einfach war es nicht. Es sollte noch 30 Jahre dauern, bis Harry Anderson von der University of Oxford in England, einst Postdoc in Diederichs Gruppe, C18 in nichtgasförmiger Form herstellte. Die dazu nötigen Experimente erforderten kryogene – also extrem niedrige – Temperaturen, und das Material musste auf einer kristallinen Oberfläche stabilisiert werden.

Herstellung des kleinsten Cyclocarbons | Strukturformeln und Rastertunnelmikroskopaufnahmen der Synthese des Cyclocarbons C6. Es entsteht, indem man durch Stromstöße von Hexachlorbenzol nach und nach immer mehr Chlor abspaltet.

In den letzten Jahren brachte ein freundschaftlicher Wettstreit zwischen den beiden einzigen Cyclocarbon-Forschungsteams der Welt mehrere neue Rekorde hervor. Die Gruppe von Wei Xu an der Tongji-Universität in China kann für sich beanspruchen, das kleinste Cyclocarbon hergestellt zu haben: C6, über das die Forschenden im Oktober 2023 in einer Vorabveröffentlichung berichteten. Und im November 2023 publizierte das Team um Anderson, seinen Postdoc Igor Rončević und den Züricher IBM-Forscher Leo Gross ebenfalls einen Preprint, in dem es die Synthese von C13 bekannt gab. Es ist das erste Cyclocarbon mit einer ungeraden Anzahl von Atomen.

Bisher wurden alle Cyclocarbone mit speziellen Verfahren auf Oberflächen hergestellt – doch 2024 könnten wir das erste klassisch hergestellte freie Exemplar sehen. Womöglich erleben wir sogar, wie die Moleküle bei der Synthese neuer, noch unerforschter Kohlenstoffmaterialien zum Einsatz kommen werden.

Vor allem aber entdeckten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine unerwartete Beziehung zwischen den Bindungen in Cyclocarbonen. In Molekülen mit ringförmigen Systemen aus Doppel- oder Dreifachbindungen wechselwirken alle diese Bindungen miteinander und bilden unter bestimmten Umständen ein gemeinsames System. Dabei teilen sich sämtliche beteiligten Atome eine Klasse von Bindungselektronen: die π-Elektronen oberhalb und unterhalb der Ringebene. Alle beteiligten Bindungen sind gleichwertig, auch wenn sich formal etwa Einfach- und Doppelbindungen abwechseln. Man bezeichnet solche Systeme als aromatisch. Sie sind stabiler, als man es erwarten würde, und reagieren chemisch anders als »normale« Bindungen. Das ist auch bei manchen Cyclocarbonen der Fall – aber auf eine Weise, die den Begriff in seiner Definition in Frage stellt.

Cyclocarbone mit mikroskopischer Nadelspitze »synthetisiert«

Die jüngsten Entdeckungen basieren vor allem auf Fortschritten im Manipulieren von einzelnen Atomen, insbesondere mittels der Rasterkraft- (AFM) und Rastertunnelmikroskopie (STM). Bei extrem niedrigen Temperaturen bringt man Vorläufermoleküle auf einen metallischen Einkristall auf – also einen Kristall, dessen Bausteine ein durchgehendes, homogenes Kristallgitter bilden –, der mit einigen Lagen Natriumchlorid beschichtet ist. Die Vorläufermoleküle werden dann mit Hilfe von Spannungsimpulsen von einer atomar feinen Nadelspitze des Mikroskops in Cyclocarbone umgewandelt. Das geschieht dadurch, dass »maskierende« Gruppen wie Kohlenmonoxid oder Chlorid abgespalten oder interne Bindungen aufgebrochen werden. Zu sehen, wie sich das Molekül in Echtzeit unter dem Mikroskop bilde, sei der »spaßige Teil«, sagt Gross.

Das Design des Vorläufermoleküls sollte gut überlegt sein. Es muss ausreichend stabil sein, um den Sublimationsprozess zu überleben, durch den es auf die Oberfläche aufgetragen wird. Gleichzeitig sollte es so instabil sein, dass es sich durch die von der Mikroskopspitze ausgelösten Reaktionen in Cyclocarbon verwandelt. Oft lässt sich nur schwer vorhersagen, ob das alles so funktioniert wie gedacht. Entsprechend kann der Schritt viel Zeit kosten: »Die Synthese des C18-Vorläufers hat ein Jahr gedauert«, erinnert sich Gross. »Die Vorstufe war sehr instabil, also mussten wir sie auf Trockeneis verschicken lassen und sehr schnell damit arbeiten.« Er selbst war äußerst skeptisch, ob der Oberflächenschritt, bei dem man mehrere Kohlenmonoxidmoleküle abspalten musste, funktioniert. Doch der Plan ging auf, und das Team konnte den ersten nichtgasförmigen Cyclokohlenstoff unter die Lupe nehmen. Um sicherzustellen, dass die Synthese tatsächlich funktioniert, wird das Experiment dann zigmal wiederholt. Aber: »Sobald man es zwei- oder dreimal beobachtet hat, beginnt die Aufregung«, erzählt Anderson.

Sonderbare Aromaten | Die Dreifachbindungen der Cyclocarbone bestehen aus drei Komponenten. Ein bindendes Elektronenpaar befindet sich in der Ringebene zwischen den Atomen, hier gezeigt durch die schwarzen Linien. Die beiden anderen Komponenten entstehen, indem die keulenförmig abstehenden p-Orbitale zweier Atome wechselwirken. In einer Dreifachbindung entstehen zwei dieser π-Bindungen, die senkrecht zueinander stehen (Abbildung links). Wenn alle Atome in einem Ring an π-Bindungen beteiligt sind, können sie ein gemeinsames π-System bilden – das klassische Merkmal aromatischer Moleküle. Abbildung rechts: Theoretisch kann C6 eine polyinische oder kumulenische Struktur annehmen. Theoretische Rechnungen zeigen, dass die kumulenische Struktur für dieses Molekül am energieärmsten ist. Experimente bestätigen das.

Die Oberflächensynthese hat es Chemikern erstmals ermöglicht, die bisweilen überraschende Aromatizität von Cyclocarbonen zu untersuchen. Cyclocarbone haben zwei π-Systeme aus Bindungselektronen, die außerhalb der Ringebene liegen – eines in der Ebene des Moleküls und eines senkrecht dazu. »Beide π-Systeme können aromatisch sein, das ist okay«, erklärt Rončević und verweist auf Beispiele wie C18. »Beide π-Systeme können auch antiaromatisch sein, das ist ebenfalls okay«, sagt er. Bei antiaromatischen Systemen teilen sich benachbarte Bindungen keine Elektronen, wodurch der Ring energiereich und weniger stabil ist. Bei C12 ist dies etwa der Fall. »Aber es gibt auch die Situation, in der eines der π-Systeme aromatisch und das andere antiaromatisch ist. Das passiert bei C16

Der Grundzustand von C16 ist doppelt antiaromatisch – eine instabile Situation für das Molekül, weil es stark verzerrt wird und nicht mehr wie ein symmetrischer Ring mit gleichwertigen Bindungen daherkommt. Doch mit einem kleinen Energieschub kann das Molekül in einen angeregten Zustand übergehen, indem sich der Spin eines seiner π-Elektronen umkehrt. Dadurch wird eines der π-Systeme aromatisch, während das andere antiaromatisch bleibt. »Ein π-System drängt das Molekül dazu, schön symmetrisch, rund und aromatisch zu sein. Das andere π-System drängt es dazu, sich zu verformen und zu versuchen, seiner Antiaromatizität zu entkommen«, erklärt Rončević. In diesem seltsamen, fein ausbalancierten Zustand »wird das Konzept der Aromatizität ein bisschen komisch, weil winzige Veränderungen in der Geometrie die Gewichtung des einen π-Systems gegenüber dem anderen verändern können«, sagt er.

Das Team nennt diese Situation »gemischte« Aromatizität. Diese Bezeichnung wird aber dem Umstand, wie schlecht der Zustand zum bisherigen Verständnis von Aromatizität passt, nicht gerecht. Kleine Änderungen an der Geometrie eines Moleküls sollten seine Aromatizität nicht drastisch verändern, doch bei C16 ist genau das der Fall. »In gewisser Weise werden unsere Kriterien für Aromatizität dadurch neu bewertet«, sagt Rončević. »Wenn ein Modell ein so einfaches Molekül nicht beschreiben kann, ist es dann überhaupt ein gutes Modell?«

Was gilt eigentlich als Synthese?

Für Anderson besteht das nächste große Ziel darin, Cyclocarbone unter Umgebungsbedingungen stabil zu machen. Solange die Moleküle auf einer Oberfläche sitzen, »kann man nicht ausschließen, dass die Oberfläche eine Rolle für die Geometrie spielt«, erklärt Tykwinski. Mit einem Freund hat er übrigens darum gewettet, ob die Manipulation einzelner Atome tatsächlich als Synthese gilt. »Er behauptet, es gilt erst dann, wenn man die Moleküle per NMR untersucht und nur ein einziges Signal sieht, weil alle Kohlenstoffatome gleich sind«, sagt Tykwinski.

Knick im Ring | Das Cyclocarbon C13 entsteht ebenfalls durch die Abspaltung von Chlorid. Allerdings bildet es wegen der ungeraden Atomzahl zwei Strukturvarianten: eine runde und eine oval verzerrte.

Anderson und sein Team arbeiten daran, Cyclocarbone in Catenane einzubauen – Makromoleküle, die aus ineinandergreifenden Ringen bestehen. »Die Idee ist, Ringe um die Cyclocarbone zu legen. So erhält man viele ineinandergreifende Ringe, welche die Moleküle voneinander fernhalten und sie molekular einkapseln«, erklärt er. »Wir sind uns noch nicht sicher, aber wir glauben, dass es Varianten gibt, die unter Umgebungsbedingungen mehrere zehn Minuten überleben.« Man müsste sie nur ein bisschen stabiler machen und in eine kristalline Form bringen. »Eine Kristallstruktur eines Cyclocarbons wäre wirklich schön. Ich hoffe, wir schaffen das dieses Jahr, aber man weiß ja nie«, sagt Anderson

Einig sind sich die Forschenden darin, dass es wahrscheinlich keine breiten Anwendungsmöglichkeiten für Cyclocarbone geben wird. Allerdings könnten sie zur Herstellung neuartiger Kohlenstoffstrukturen dienen, einschließlich sehr großer Ringe. Die Arbeit an C13 deutete erstmals darauf hin, dass dies möglich sein könnte: Das Molekül fusionierte unerwartet mit seinem Nachbarn zu C26. »Cyclocarbone könnten Vorläufer für einige einzigartige zweidimensionale Kohlenstoffmaterialien wie Graphdiin sein«, sagt Xu. Gelingt der Beweis, wäre das der nächste große Erfolg auf diesem Feld.

»Alternativ könnte man versuchen, Cyclocarbone als Synthone zu verwenden, um sie an ein anderes Molekül anzuhängen – das ist eine völlig unerforschte Art der Chemie«, sagt Rončević. Ein Synthon ist ein Baustein eines größeren Moleküls, dessen Herstellung bekannt ist. Aus mehreren solcher bekannter Bausteine lassen sich komplexere Strukturen gezielt zusammensetzen. »Uns interessiert außerdem, ob wir diese Moleküle als künstliche molekulare Maschinen oder als Logikelemente verwenden können, die sich mit einzelnen Elektronen steuern lassen. Das würde sie sehr energieeffizient machen«, fügt Gross hinzu.

Auch wenn Cyclocarbone keinen großen praktischen Nutzen haben, so würden sie doch das Verständnis der Chemiker für grundlegende Konzepte wie Bindungen, Aromatizität und die Wechselwirkung zwischen Licht und Materie vertiefen, so Rončević. »Fast alles, was wir über Cyclocarbone lernen, ist überraschend, denn wir wissen experimentell nichts über sie«, sagt Tykwinski. »Für mich war die größte Überraschung, dass man sie tatsächlich herstellen und sehen kann.«

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