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Covid-19-Impfung: 1,7 Milliarden Impfdosen später

Seit einem halben Jahr impft die Welt gegen Covid-19. Bisher erweisen sich die Impfstoffe als wirksam. Allerdings beeinflussen sie nicht überall den Verlauf der Pandemie.
Impfstoffe von Moderna und Biontech/Pfizer

Vor einem halben Jahr wurde der erste Mensch im Rahmen einer Massenimpfung gegen Covid-19 geimpft: die 90-jährige Britin Margaret Keenan. Ihre Impfung am 8. Dezember 2020 um 6.30 Uhr morgens war der Höhepunkt einer Phase, in der Impfstoffe in Rekordzeit entwickelt und auf den Markt gebracht wurden. Jetzt, mehr als 1,7 Milliarden Dosen später, sichten Forscherinnen und Forscher die Daten. »Es ist absolut erstaunlich, dass dies in so kurzer Zeit geschehen ist – für mich ist es eine ähnliche Leistung wie Menschen auf den Mond zu bringen«, sagt der Spezialist für pädiatrische Infektionskrankheiten Cody Meissner von der Tufts University School of Medicine und dem Tufts Children's Hospital in Boston, Massachusetts. »Das wird die Vakzinologie für immer verändern.«

Welche Erkenntnisse gibt es nach den ersten sechs Monaten, und welche Fragen bleiben offen? Generell lässt sich sagen: Insgesamt sind die Impfstoffe viel versprechend; die Impfungen wirken sogar besser, als viele gedacht hatten. Gleichzeitig äußern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Bedenken wegen neu auftretender Varianten und der Möglichkeit, dass die Immunantwort bereits Geimpfter nachlässt. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten.

Wie gut funktionieren die Impfstoffe außerhalb des Labors?

Die dänische Epidemiologin Ida Moustsen-Helms war begeistert, als sie im Februar zum ersten Mal sah, wie gut der Impfstoff von Biontech/Pfizer bei der Mitarbeiterschaft des Gesundheitswesens und in Langzeitpflegeeinrichtungen funktionierte. Eine klinische Studie mit mehr als 40 000 Menschen hatte bereits ergeben, dass der Impfstoff die Empfängerinnen und Empfänger zu 95 Prozent vor symptomatischem Covid-19 schützt. Moustsen-Helms, die am Statens Serum Institut in Kopenhagen arbeitet, und ihre Kollegen gehörten zu den Ersten, die die Wirksamkeit des Impfstoffs außerhalb klinischer Studien testeten.

Die Ergebnisse zeigten, dass der Impfstoff bei Pflegebedürftigen mit einem Durchschnittsalter von 84 Jahren zu 64 Prozent wirksam war und bei Mitarbeitern des Gesundheitswesens zu 90 Prozent – eine gute Nachricht für Moustsen-Helms, da die Immunantwort bei älteren Menschen oft schwächer ausgeprägt ist. Trotzdem waren einige dänische Politikerinnen und Politiker über die relativ geringe Wirksamkeit bei älteren Empfängern verärgert. »Die Leute sagten ›Wie kann das sein?‹«, erinnert sie sich: »Manchmal vergessen sie, dass sich die Bedingungen in Laborstudien von den Bedingungen der realen Welt unterscheiden.«

»Die Wirksamkeit dieser Impfstoffe ist absolut bemerkenswert«Cody Meissner, Tufts University

Heute liefern viele Ländern der Erde unzählige Daten. Insgesamt wirken die Impfstoffe in der Bevölkerung gut. Eine landesweite Impfkampagne in Israel ergab, dass der Impfstoff von Biontech/Pfizer sieben Tage nach der zweiten Dosis zu 95 Prozent effektiv gegen eine Sars-CoV-2-Infektion wirkte. Das Gamaleya National Research Center of Epidemiology and Microbiology in Moskau und der Russian Direct Investment Fund gaben bekannt, dass ihr Impfstoff Sputnik V bei fast vier Millionen Menschen in Russland zu 97 Prozent wirksam war. Und im Mai 2021 berichtete das in London ansässige Projekt Public Health England, dass die Impfstoffe von Biontech/Pfizer und AstraZeneca nach zwei Dosen zu 85 bis 90 Prozent Covid-19-Erkrankungen verhindern.

Bei Menschen über 85 Jahren, die den Impfstoff von Biontech/Pfizer erhalten hatten, wurde in Israel ein Schutz von 94 Prozent vor einer Sars-CoV-2-Infektion festgestellt. Ein bemerkenswert hoher Wert für diese Altersgruppe, der zudem deutlich höher ist als das Ergebnis von Moustsen-Helms von 64 Prozent. Zum Teil könnten die Unterschiede zu Stande kommen, weil Bewohnerinnen und Bewohner von Langzeitpflegeeinrichtungen eher in einem schlechten Gesundheitszustand sind. Eine britische Studie ergab, dass die Impfstoffe von Biontech/Pfizer und AstraZeneca mit einer Wirksamkeit von je 80 Prozent coronabedingte Krankenhausaufenthalte von Menschen im Alter ab 70 Jahren verhinderten.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Aktuelle Studien beschäftigen sich mit der Frage, ob die Impfungen durch das Mischen und Kombinieren von Impfstoffen noch wirksamer werden. Die ersten Ergebnisse sind viel versprechend. Die Impfstoffe haben die Erwartungen sogar bereits übertroffen, sagt Meissner, vor allem wenn man bedenkt, wie schnell sie entwickelt wurden und welche neuartigen Ansätze sie verwendeten. Manche Impfstoffe brauchen Jahre in der Entwicklung und erreichen dann vielleicht immer noch nicht dieses Schutzniveau. »Die Wirksamkeit dieser Impfstoffe ist absolut bemerkenswert«, sagt Meissner.

Am anderen Ende des Altersspektrums haben Biontech/Pfizer und Moderna vor Kurzem klinische Studien mit ihren Impfstoffen bei Jugendlichen abgeschlossen: So schützt Biontech/Pfizer die 12- bis 15-Jährigen zu 100 Prozent; Moderna bietet den 12- bis 17-Jährigen einen 93-prozentigen Schutz. Daten aus der realen Welt sind noch nicht verfügbar. Meissner, der als externer Berater für Impfstoffe bei der US Food and Drug Administration tätig ist, findet es allerdings fraglich, ob Kinder unter 12 Jahren geimpft werden sollten, bevor die Impfungen eine vollständige behördliche Zulassung erhalten haben – und nicht nur eine Genehmigung für den Notbetrieb.

Wie wirksam sind die Impfstoffe gegen Varianten?

Kurz nach dem Erfolg von Keenans erster Dosis hatte die Welt einen neuen Grund zur Sorge. Eine in Großbritannien identifizierte Sars-CoV-2-Variante schien sich ungewöhnlich schnell auszubreiten. Eine andere Variante, die zuerst in Südafrika identifiziert wurde, trug Besorgnis erregende Mutationen im Spike-Protein des Coronavirus, das als Grundlage für die meisten verwendeten Covid-19-Impfstoffe dient. Seitdem tauchen ständig weitere »Besorgnis erregende Varianten« mit Mutationen auf, die die Ausbreitung des Virus fördern oder die Wirksamkeit von Covid-19-Impfstoffen untergraben könnten. »Unkontrollierte Ausbrüche erzeugen Mutanten«, sagt Jerome Kim, Generaldirektor des International Vaccine Institute in Seoul.

Erste Labortests deuteten darauf hin, dass die durch den Impfstoff von Biontech/Pfizer erzeugten Antikörper weniger wirksam gegen die in Südafrika identifizierte B.1.351-Variante waren. Zunächst blieb aber unklar, was dies für den Impfschutz bereits Geimpfter bedeutet. Im Mai entwarnten Forscherinnen und Forscher aus Katar:Nach zwei Impfungen mit dem Impfstoff von Biontech/Pfizer hatten Geimpfte ein um 75 Prozent geringeres Risiko, an Covid-19 durch eine Infektion mit B.1.351 zu erkranken. Außerdem schützte die Impfung sie fast vollständig vor einer schweren Erkrankung. »Die große Frage ist jetzt, ob weitere Varianten die Situation verändern«, sagt Studienautor Laith Jamal Abu-Raddad. Der Epidemiologe für Infektionskrankheiten arbeitet am Weill Cornell Medicine-Qatar in Doha. »Wir beobachten das täglich, aber wir sind optimistisch, dass wir vielleicht das Schlimmste gesehen haben.«

Der AstraZeneca-Impfstoff schnitt in einem anderen Test nicht so gut ab: Eine kleine klinische Studie in Südafrika deutete darauf hin, dass der Impfstoff schlecht vor Infektionen mit der Variante B.1.351 schützt, die zu diesem Zeitpunkt die meisten Infektionen in Südafrika verursachte. Infolgedessen traf die südafrikanische Regierung die schwierige Entscheidung, ihre Dosen zu verkaufen und auf einen anderen Impfstoff zu warten. Jetzt wird der von Johnson & Johnson in New Brunswick, New Jersey, hergestellte Impfstoff eingeführt, der in einer klinischen Studie zu 64 Prozent wirksam war, um moderate bis schwere Covid-19-Infektionen in Südafrika zu verhindern – zu einer Zeit, als B.1.351 mehr als 94 Prozent der Infektionen in der Studie ausmachte. Ein von Novavax in Gaithersburg, Maryland, hergestellter Impfstoff, der noch nicht für den Notfalleinsatz zugelassen war, verhinderte in bis zu 51 Prozent der Fälle mit Versuchspersonen ohne HIV-Diagnose eine symptomatische Infektion mit Covid-19.

Nicht einverstanden mit der Entscheidung gegen AstraZeneca in Südafrika war hingegen Shabir Madhi. Der Immunologe an der University of the Witwatersrand in Johannesburg ist der leitende Prüfarzt für die Versuche mit dem Impfstoff in Südafrika. Es bestehe immer noch die Hoffnung, dass der Impfstoff vor schwerer Krankheit und Tod schützen könne, sagt er – das wurde in der Studie, an der überwiegend junge Menschen mit einem geringen Risiko für eine schwere Erkrankung teilnahmen, nicht getestet. Eine spätere Studie an Hamstern ergab, dass der Impfstoff die durch B.1.351 verursachte klinische Erkrankung verhindert, merkt Madhi an.

Insgesamt hat sich das Coronavirus Sars-CoV-2 als viel anfälliger für Mutationen erwiesen, als Forscher zunächst dachten. Eine neue Besorgnis erregende Variante mit der Bezeichnung B.1.617.2 wurde zuerst in Indien identifiziert und breitete sich schnell in Großbritannien aus. Das hat Befürchtungen geweckt, dass sie ungewöhnlich leicht übertragbar sein könnte. Public Health England hat festgestellt, dass zwei Dosen des Impfstoffs von Biontech/Pfizer oder AstraZeneca symptomatische Erkrankungen durch diese Variante zu 88 Prozent bzw. 60 Prozent verhindern.

Wie lange hält der Schutz vor Krankheit an?

Sechs Monate sind nicht viel Zeit, um Daten darüber zu sammeln, wie lange die Immunität nach der Impfung anhält. Aber bald könnten erste Daten von Versuchspersonen vorliegen, die innerhalb einer klinischen Studie bereits im vergangenen Juli ihre erste Dosis erhalten haben. Bis dahin schauen einige Forscherinnen und Forscher auf die natürliche Immunität als einen Indikator. Eine Studie mit mehr als 25 000 Mitarbeitenden des Gesundheitswesens in Großbritannien zeigte: Nach einer durchgemachten Infektion mit Sars-CoV-2 verringerte sich das Risiko einer erneuten Ansteckung für mindestens sieben Monaten um 84 Prozent. Laut Abu-Raddad ergab eine noch unveröffentlichte Studie in Katar zudem, dass bis zu einem Jahr nach einer Sars-CoV-2-Infektion ein Schutz von etwa 90 Prozent gegen eine erneute Infektion besteht. »Es scheint darauf hinzudeuten, dass die Immunität gegen dieses Virus wirklich stark ist«, sagt er. »Ich bin optimistisch, dass die Immunität gegen den Impfstoff länger als ein paar Monate und hoffentlich länger als ein Jahr anhält.«

Womöglich hält die durch den Impfstoff induzierte Immunität nicht so lange an wie die Immunität durch eine natürliche Infektion, befürchtet Mehul Suthar, ein Immunologe an der Emory University in Atlanta. So nahmen die Antikörperspiegel bei denjenigen, die mit dem Moderna-Impfstoff geimpft wurden, schneller ab als bei denjenigen, die sich mit Sars-CoV-2 infiziert hatten. Antikörper sind nicht die einzige Determinante der Immunität, sagt er, aber die Ergebnisse machen ihm Sorgen. »Ich bin ein wenig besorgt, dass die Impfstoffe keine dauerhafteren Antikörperantworten zu erzeugen«, sagt Suthar. »Wenn man die Varianten mit einbezieht, werden wir eine Auffrischung brauchen.«

Wie schnell diese Auffrischung benötigt wird, könnte zum Teil davon abhängen, wie schnell die Antikörperspiegel sinken – sie könnten steil abfallen oder sich auf einem niedrigen Niveau einpendeln. Eine Modellstudie geht davon aus, dass niedrige Antikörperspiegel ausreichen, um einen signifikanten Schutz gegen schwere Erkrankungen zu bieten. Der Geschäftsführer von Pfizer, Albert Bourla, geht jedoch davon aus, dass eine Auffrischungsimpfung etwa acht bis zwölf Monate nach der zweiten Dosis des Impfstoffs von Biontech/Pfizer erforderlich sein wird.

Am 19. Mai 2021 gab die britische Regierung bekannt, dass sie eine Studie finanziert hat, die effektive Auffrischungsimpfungen untersucht. Sieben Covid-19-Impfstoffe wurden mindestens zehn bis zwölf Wochen nach der zweiten Dosis eines ersten Impfstoffs verabreicht. Erste Ergebnisse werden im September erwartet – rechtzeitig, um ein Auffrischungsprogramm zu entwickeln, das die am stärksten gefährdeten Gruppen über den britischen Winter schützen soll. Die US National Institutes of Health untersuchen ebenfalls Booster bei einigen Versuchspersonen, die ihre erste Impfstoffdosis in einer im März 2020 gestarteten klinischen Studie erhalten haben.

Impfstoffentwickler testen nun auch variantenspezifische Booster. Vorläufige Ergebnisse des Herstellers Moderna zeigen, dass ein Booster-Impfstoff mit einer Spike-Protein-Sequenz aus der B.1.351-Variante die Konzentration von Antikörpern erhöht, die Sars-CoV-2 und insbesondere die B.1.351-Variante neutralisieren.

Selbst wenn die Immunität früher nachlässt, als er hofft, ist Abu-Raddad optimistisch, dass sie nicht ganz verschwinden wird. Selbst wenn die Menschen ihre Immunität gegen weitere Infektionen verlieren würden, sagt Abu-Raddad, wette er trotzdem darauf, dass sie weiterhin immun gegen schwere Verläufe bleiben.

Wie sehr blockieren Impfstoffe die Übertragung?

Die meisten klinischen Studien haben einen Fall jedoch nicht erfasst: asymptomatische Infektionen, die die Ausbreitung des Virus fördern könnten. Forscherinnen und Forscher haben versucht, diese Lücke zu schließen. Bis jetzt sehen die Daten viel versprechend aus: Der Impfstoff von Johnson & Johnson könnte laut aktuellen Ergebnissen zu 74 Prozent gegen asymptomatische Infektionen wirken. Untersuchungen des Impfstoffs von Biontech/Pfizer in Israel ergaben außerdem, dass die Impfung die Virusmenge bei infizierten Personen um das bis zu 4,5-Fache reduziert: Damit geben sie das Virus mit geringerer Wahrscheinlichkeit an andere Menschen weiter.

»Es ist wahrscheinlich, dass alle Impfstoffe eine ähnliche Wirkung haben«Michael Weekes, University of Cambridge

Bereits eine einzige Dosis des Impfstoffs von Biontech/Pfizer oder AstraZeneca könnte die Ausbreitung der Krankheit von infizierten Personen auf Haushaltsmitglieder um bis zu 50 Prozent reduzieren. Das ergab eine Studie von Public Health England . »Es ist wahrscheinlich, dass alle Impfstoffe eine ähnliche Wirkung haben«, sagt Michael Weekes, ein Immunologe an der University of Cambridge, UK. »Insgesamt ist es ein recht optimistisches Bild.«

Aber angesichts der unvollständigen Daten müssen sich diese Studien oft auf Schlussfolgerungen verlassen – zum Beispiel auf die Annahme, dass eine geringere Viruslast mit einer geringeren Übertragung einhergeht, sagt Susan Little, eine Spezialistin für Infektionskrankheiten an der University of California in San Diego. Little ist an einer ehrgeizigen Studie beteiligt, die an mehr als 30 Hochschulen in den USA untersucht, wie oft geimpfte Personen andere anstecken. In der Studie erhalten die Studierenden nach dem Zufallsprinzip entweder den Moderna-Impfstoff direkt oder mit einer Verzögerung von vier Monaten. Die Freiwilligen werden täglich auf Infektionen getestet, ihre engen Kontaktpersonen führen zweimal pro Woche einen Coronavirus-Test durch.

Little und ihr Team sind auf der Suche nach qualitativ hochwertigen Daten, um die anstehenden wichtigen Entscheidungen zu untermauern. »Da die Menschen wieder zur Arbeit gehen, stellt sich die Frage, ob die Impfung in Schulen, an Arbeitsplätzen und in öffentlichen Verkehrsmitteln vorgeschrieben werden soll«, sagt sie und fragt: »Müssen geimpfte Personen Masken tragen oder Abstand halten?« Am 13. Mai revidierten die US-Zentren für Krankheitskontrolle und -prävention ihre Richtlinien zu Masken: Vollständig geimpfte Personen dürfen sich jetzt in einigen öffentlichen Bereichen ohne Masken aufhalten.

Dass nun viele Menschen geimpft sind, stellt die Forschung auch vor Herausforderungen: Little hat Schwierigkeiten, Versuchspersonen für ihre Studie zu rekrutieren. Und die Verbreitung von Virusvarianten könnte das Bild noch komplizierter machen, sagt Kim. »Die Übertragung ist ein wirklich schwieriges Thema«, sagt er. »Und eine unbekannte Variable hier ist, wie die Varianten diese beeinflussen werden.«

Wie sicher sind die Impfungen?

Die Geschwindigkeit, mit der die Länder Covid-19-Impfstoffe auf den Markt gebracht haben, ist beispiellos. Dasselbe gilt für Studien zu Nebenwirkungen. Einige klinische Studien mit mehr als 40 000 teilnehmenden Personen ergaben nur wenige Anzeichen von Nebenwirkungen, die über eine wunde Injektionsstelle, Fieber und Übelkeit hinausgehen. »Wir sagen im Allgemeinen, dass kein Impfstoff 100 Prozent sicher ist«, sagt Meissner. »Aber die Sicherheit dieser Impfstoffe ist bemerkenswert.«

Kurz nach Beginn der Impfungen mit dem Biontech/Pfizer-Impfstoff meldeten einige Regionen Fälle einer schweren allergischen Reaktion, der so genannten Anaphylaxie. Weitere Untersuchungen zeigten jedoch, dass das Risiko dieser Reaktion – die im Impfzentrum behandelt werden kann – für die Moderna- und Biontech/Pfizer-Impfungen nicht wesentlich höher ist als für andere Impfstoffe, sagt Meissner. Für Biontech/Pfizer liegt das Risiko bei etwa 4,7 Fällen pro einer Million Dosen; das Risiko einer Anaphylaxie bei jeder Impfung wird auf 1,3 von einer Million geschätzt.

Noch besorgniserregender war das sehr seltene Auftreten eines Blutgerinnungssyndroms nach Impfungen mit den Impfstoffen von AstraZeneca und Johnson & Johnson. Zu den Merkmalen des Syndroms gehören Blutgerinnsel an ungewöhnlichen Stellen – insbesondere im Gehirn und im Bauchraum – in Verbindung damit, dass gerinnungsfördernde Zellfragmente abnahmen, die Blutplättchen. Das kann tödlich sein; allerdings birgt eine Covid-19-Infektion für viele Menschen ein höheres Risiko, als das Gerinnungssyndrom zu entwickeln. Die Europäische Arzneimittelbehörde ist zu dem Schluss gekommen, dass es bei etwa einer von 100 000 geimpften Personen auftritt.

»Eine andere Person sagt ›Einer von einer Million? Was, wenn ich das bin?‹«Cody Meissner, Tufts University

Die Wissenschaft rätselt immer noch, wie der Impfstoff das Syndrom verursachen könnte. Als schließlich auch nach Impfungen mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson in den USA ähnliche Vorfälle auftraten – wenn auch mit einer Häufigkeit von nur etwa 3,5 pro Million Menschen – spekulierten Forscherinnen und Forscher: Die Erkrankung könnte mit deaktivierten Adenoviren zusammenhängen, die in den Impfstoffen verwendet werden, um das Coronavirus-Spike-Gen in die Zellen zu schleusen.

In Großbritannien wird seither empfohlen, lediglich Menschen über 40 Jahren mit diesen Impfstoffen zu impfen. In Deutschland liegt die Altersgrenze bei 60 Jahren. Auch in den Vereinigten Staaten wird wieder mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson geimpft. In Dänemark hingegen wurden Impfungen mit dem Impfstoff von AstraZeneca im April eingestellt. Denjenigen, die bereits eine Dosis erhalten haben, wurde eine Zweitimpfung mit einen mRNA-Impfstoff von Biontech/Pfizer oder Moderna empfohlen. Umfragen zeigen, dass die Debatte über die Sicherheit dieser Impfstoffe das Vertrauen der Öffentlichkeit in sie erschüttert hat. »Was definiert einen sicheren Impfstoff?«, sagt Meissner. Für manche Menschen möge ein Fall von hunderttausend sicher erscheinen. »Eine andere Person sagt: ›Einer von einer Million? Was, wenn ich das bin?‹«

Das israelische Gesundheitsministerium untersucht nun einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Impfstoff von Biontech/Pfizer und Berichten über eine Herzentzündung, die Myokarditis. Bisher sind die meisten Fälle mild verlaufen und bei Männern im Alter zwischen 16 und 19 Jahren aufgetreten.

Welchen Einfluss haben die Impfstoffe auf den Verlauf der Pandemie?

In mehreren Ländern mit hohen Impfraten – darunter Israel und Großbritannien – sind die Zahlen der Todesfälle und Krankenhausaufenthalte auf Grund von Covid-19 sprunghaft zurückgegangen. Public Health England hat errechnet, dass die Impfstoffe 13 000 Menschenleben in der Altersgruppe der über 60-Jährigen gerettet haben. Das Vereinigte Königreich hat mehr als ein Drittel seiner Bevölkerung vollständig geimpft.

Aber diese Länder haben parallel zur Impfkampagne Maßnahmen wie Abstandhalten aufrechterhalten. Chile hingegen hat Anfang des Jahres seine Distanzierungsauflagen zurückgenommen und eine aggressive Impfkampagne gestartet. Bereits im April waren die Intensivstationen des Landes mit Covid-19-Infizierten überfüllt, obwohl das Land eine der höchsten Impfraten der Welt hat.

Abstand halten | In Santiago de Chile gilt Mitte Juni 2021 eine strenge Quarantäne. Die Zahlen der Neuinfektionen mit dem Coronavirus sind trotz hoher Impfquoten stark angestiegen.

Sobald die Impfstoffe jedoch eine breite Masse der Bevölkerung erreicht haben, könnten Maßnahmen gelockert werden. Israel beispielsweise lockerte die meisten Restriktionen schrittweise, nachdem etwa die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung geimpft worden war. Die Infektionsraten blieben niedrig. Auch in den Vereinigten Staaten gehen die Infektionen zurück: Dort liegt der Anteil der vollständig geimpften Erwachsenen über 40 Prozent.

Die Seychellen, das Land mit der weltweit höchsten Impfrate (mit einer Bevölkerung von weniger als 100 000 Einwohnern), erlebten einen sprunghaften Anstieg der Infektionen – trotz relativ weniger Todesfälle –, als dort Anfang Mai mehr als 60 Prozent der Erwachsenen geimpft worden waren. Bislang ist unklar, was diesen Ausbruch ausgelöst hat und ob Varianten des Coronavirus dafür verantwortlich sein könnten, sagt Kim. Aber es lohne sich, die Beschränkungen nur langsam zu lockern, sagt er, selbst wenn ein Land einen hohen Impfgrad erreicht hat. Nicht zu vergessen sei, dass die Zahlen bisher jedes Mal wieder angestiegen sind, sagt Kim, »nachdem sie zurückgingen und wir erleichtert und entspannt waren«.

Für einen Großteil der Welt – vor allem für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen – werden Impfstoffe auf Grund der begrenzten Vorräte in diesem Jahr wahrscheinlich wenig Einfluss auf den Verlauf der Pandemie haben. Madhi denkt nicht, dass die derzeitige Einführung in Südafrika viel dazu beitragen wird, das Land vor der drohenden dritten Welle zu schützen: Bis alle Menschen über 60 Jahre ihre erste Dosis erhalten haben, erwartet er, dass die Maßnahmen wie Abstandhalten und Maskentragen die steigenden Infektionszahlen des Landes bereits gesenkt haben. In Indien hat vermutlich eine Kombination aus niedrigen Impfraten, aggressiven Varianten und sozialer Interaktion zu einem tragischen und überwältigenden Covid-19-Ausbruch geführt.

Während einige reiche Länder in der Lage waren, große Mengen an Impfstoff vorzubestellen, mussten viele Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen mit weniger auskommen. Das Ziel der Weltgesundheitsorganisation ist es, bis Ende dieses Jahres 20 Prozent der Bevölkerung in diesen Ländern zu impfen. »Das wird nicht die vorrangige Exitstrategie für dieses Jahr sein«, sagt Mark Jit, ein Modellierer für Infektionskrankheiten an der London School of Hygiene & Tropical Medicine. »Vielleicht im Jahr 2022, wenn das Angebot weniger eingeschränkt ist.« Stattdessen müssen sich solche Länder möglicherweise stark auf soziale Distanzierung, das Tragen von Masken und Test-und-Trace-Programme verlassen.

Und selbst in Ländern mit höheren Impfraten ist die einstige Hoffnung auf Herdenimmunität verblasst, sagt Kim. »Mit der weit verbreiteten Entstehung dieser Varianten und anhaltenden unkontrollierten Ausbrüchen sieht das immer unwahrscheinlicher aus«, sagt er. »Und die Auswirkungen der Pandemie werden so lange zu spüren sein, bis die Impfung nicht nur in Ländern mit hohem Einkommen, sondern auch in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen durchgesetzt werden kann.«

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