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Corona-Variante: Der rätselhafte Ursprung von Omikron

Viele Fachleute sind sicher: Die neue Omikron-Variante entstand auf ungewöhnliche Weise. HIV könne eine Rolle spielen, hieß es erst - doch inzwischen gelten andere Möglichkeiten als wahrscheinlicher.
Ein Nerz blickt durch ein Gitter.

Die Omikron-Variante von Sars-CoV-2 ist auf dem besten Weg, die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Frühe Daten aus Südafrika deuten darauf hin, dass sie sich nicht nur schneller ausbreitet als die bisher dominierende Delta-Variante, sondern auch den Immunschutz weitgehend aushebelt. Der Ursprung von Omikron ist selbst nach einem Blick in das Erbgut des Virus noch ein Rätsel. Mit insgesamt 32 Mutationen im Spike-Protein und über einem Dutzend Mutationen in anderen Teilen des Virus ist die Variante außerordentlich stark verändert – und es sind keine verwandten Linien bekannt, die als Zwischenstufen in Frage kommen.

Die genetischen Analysen legen nahe, dass der Vorläufer von Omikron etwa Mitte 2020 von der Bildfläche verschwand und seither dutzende Mutationen anhäufte, bevor er wieder auftauchte. Doch wo steckte die womöglich gefährlichste Variante der Pandemie in den letzten 15 Monaten? Und könnten dort noch weitere solche Viren entstehen? Tatsächlich gelten derzeit drei Erklärungsansätze für den Ursprung von Omikron als plausibel.

Der einfachste wäre, dass die Vorläufer von Omikron ganz normal in der Bevölkerung evolvierten – und einfach nie in irgendwelchen Proben auftauchten. Womöglich kursierten diese Viren in Regionen oder Bevölkerungsgruppen, in denen es keine effektive Variantenüberwachung gibt, und blieben so unentdeckt. Diese Erklärung favorisierte zum Beispiel Christian Drosten gegenüber dem Magazin »Science«. Allerdings erscheint es nicht allzu wahrscheinlich, dass eine ganze Sippschaft voller womöglich hochansteckender und vorm Immunsystem geschützter Viren sich über Monate hinweg verbreitete, ohne irgendwie aufzufallen.

Brüten schwache Immunsysteme neue Varianten aus?

Deswegen favorisierten schon früh Forscher wie Tulio de Oliveira von der University of KwaZulu-Natal eine andere Option. Demnach könnte die Omikron-Variante in einer Person mit geschwächtem Immunsystem evolviert sein – zum Beispiel in einem der etwa acht Millionen unbehandelten HIV-Infizierten im südlichen Afrika. Diese Hypothese ist keineswegs neu. Seit Beginn der Pandemie beobachten Fachleute, dass Menschen mit Immunschwäche das Virus zum Teil über Monate hinweg nicht loswerden.

In dieser Zeit und Umgebung ist, auch das zeigen Studien, die Evolution des Virus stark beschleunigt. So war ein Patient in Boston, der wegen einer schweren Autoimmunerkrankung immununterdrückende Medikamente nahm, fünf Monate lang infiziert. Währenddessen häufte das Virus über 20 Mutationen an, mehr als doppelt so viele wie ein sich normal vermehrendes Virus in der gleichen Zeit. Auch das Muster der Mutationen ähnelt der Omikron-Variante: Die Mehrzahl der Veränderungen fand sich im Spike-Protein, ganze 38 Prozent sogar in der antigenbindenden Domäne, die für die Infektiosität ebenso bedeutsam ist wie für die Bindung von Antikörpern.

Hintergrund der schnellen Evolution ist, dass die Körperabwehr bei immunschwachen Menschen zwar nicht völlig machtlos ist, sie schafft es aber nicht, das Virus loszuwerden. Allerdings übt das Abwehrsystem immer noch genug Druck auf das Virus aus, um es relativ schnell evolvieren zu lassen. Für dieses Szenario spricht ebenso, dass immer wieder Mutationen in den Viren von immunschwachen Personen gefunden wurden, die auch für Varianten wichtig sind. Schon bei der Alpha-Variante vermuteten einige Fachleute wegen solcher Parallelen eine Verbindung – so zum Beispiel die Virologin Karin Mölling von der Universität Zürich.

HIV spielt vermutlich keine Rolle

Ein anderes Fallbeispiel aus dem Dezember 2020 zeigt, dass immunschwache Menschen über sehr lange Zeiträume andere Menschen anstecken können – bei der untersuchten krebskranken Frau über 70 Tage hinweg. Noch beunruhigender ist, dass die Patientin keinerlei Symptome hatte. Solche Studien lenken den Blick darauf, dass es viele andere Ursachen für ein geschwächtes Immunsystem gibt als eine Infektion mit HIV – zumal immer klarer wird, dass Südafrika wohl nicht das Herkunftsland der Mutation ist.

Die möglichen Entstehung von Omikron könnte etwa in Menschen stattgefunden haben, deren Immunreaktion durch Medikamente heruntergefahren ist – und von denen gibt es weit mehr als immunschwache HIV-Infizierte. Zum Beispiel unterdrückt eine Krebstherapie das Immunsystem, oder die Körperabwehr wird wegen einer Autoimmunerkrankung oder nach einer Organtransplantation gezielt gedämpft. In den Industrieländern betrifft das einige Prozent der Bevölkerung.

Ohnehin gibt es ganz generell begründete Zweifel an der Herkunft aggressiverer Varianten aus immunschwachen Menschen. Denn ein Virus passt sich in einem immunschwachen Wirt an die speziellen Bedingungen in diesem Körper an – und ein geschwächtes Immunsystem funktioniert anders als ein gesundes. Diese Anpassung hat zudem nichts mit der Fähigkeit des Erregers zu tun, andere Menschen anzustecken. Es ist also mindestens fraglich, ob das »Training« durch die Restimmunität einer geschwächten Körperabwehr das Virus tatsächlich widerstandsfähiger gegenüber einer gesunden Immunität macht oder gar ansteckender zwischen Menschen.

Die dritte Möglichkeit für den Ursprung von Omikron ist kaum weniger beunruhigend. Sars-CoV-2 infiziert immer wieder Tiere, und seit geraumer Zeit fürchten Fachleute, dass der Erreger unkontrolliert in Wild- oder Nutztieren zirkulieren könnte. Im Jahr 2020 töteten die dänischen Behörden Millionen Nerze, um dieses Szenario zu verhindern. Eine Studie an Weißwedelhirschen zeigte jedoch 2021, dass es inzwischen bereits passiert ist. Omikron könnte sich ebenfalls in einem solchen tierischen Reservoir gebildet haben und nach einigen Monaten zum Menschen zurückgesprungen sein.

Omikron könnte aus Tieren stammen

Ursprung der vielen Mutationen im Spike-Protein wäre in diesem Szenario der Druck, sich möglichst gut an den neuen tierischen Wirt und dessen ACE2-Rezeptoren anzupassen. Auch das würde mit dem recht starken Selektionsdruck auf das Spike-Protein zusammenpassen. Daneben könnten die charakteristischen Veränderungen der Omikron-Variante womöglich Spuren eines tierischen Ursprungs enthalten. Nach solchen Indizien suchen Fachleute seit Beginn der Pandemie: Sie sammeln auch Sequenzen, die sie bei mit Sars-CoV-2 infizierten Tieren finden – seien es Tiger in einem Zoo oder Mäuse im Labor.

Deswegen gibt es einen ganzen Katalog von Mutationen im Spike-Protein und den Tieren, bei deren Viren die Veränderungen aufgetaucht sind. Und dabei gibt es durchaus eine Auffälligkeit. So verweist der Immunologe Kristian G. Andersen, der eine tierische Herkunft von Omikron für am plausibelsten hält, darauf, dass man mehrere der für Omikron typischen Mutationen an der antigenbindenden Domäne des Spike-Proteins auch von Viruslinien in Mäusen kennt.

Für einen tierischen Ursprung spricht auch, dass Omikron einige neue und einzigartige Mutationen enthält. Außerdem infiziert Sars-CoV-2 viele Tiere und dass das Virus auf Tiere und zurück auf Menschen springen kann, hat man schon bei Nerzen beobachtet. Andererseits lassen sich große Teile der Mutationen von Omikron genauso gut oder gar besser mit einer Evolution im Menschen erklären. Außerdem ist die Vielfalt von Sars-CoV-2 in Menschen so extrem viel größer, dass es statistisch unwahrscheinlich erscheint, dass eine global signifikante Variante wie Omikron ausgerechnet aus einer so engen Nische hervorgeht. Aber auch das ist Spekulation: Bisher gibt es keinerlei Daten über die Wechselwirkungen zwischen einer Pandemie und tierischen Reservoirs.

Das gilt ebenfalls für die offenen Fragen, die sich bei den beiden anderen Hypothesen stellen. Während es diverse Fallberichte und genetische Sequenzen aus langzeitinfizierten Menschen mit Immunsuppression gibt, weiß niemand, wie gut sich solche mutierten Viren wirklich schlagen. Es ist nicht einmal sicher, dass eine der drei Optionen stimmt – womöglich ist Omikron das Produkt völlig anderer Umstände. So könnten auch Menschen mit gesundem Immunsystem in seltenen Fällen lange infiziert sein und stark veränderte Varianten ausbrüten. Was also wirklich in den wohl etwa 15 Monaten zwischen dem letzten bekannten Vorläufer von Omikron und dem Erscheinen der sehr stark mutierten neuen Variante geschah, ist vorerst unbekannt.

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