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Sitzposition: Gerade ist nicht gleich gesund

Wer sich in den Stuhl lümmelt, schadet seinem Rücken – denken viele. Doch neue Forschungsergebnisse stellen die bisherigen Regeln zur gesunden Körperhaltung in Frage. 
Frau sitzt aufrecht mit Büchern auf dem Kopf

Kopf hoch. Schultern zurück. Bleib aufrecht. Als Kind haben Sie solche Aufforderungen von Ihren Eltern sicher unzählige Male gehört. Wahrscheinlich hat es Sie in diesem Moment dazu veranlasst, etwas gerader zu sitzen. Erwachsene im Vereinigten Königreich verbringen die Hälfte des Tages vor einem Bildschirm sitzend. Gleichzeitig haben Millionen von Menschen mit Rückenschmerzen zu kämpfen. Es ist daher verständlich, wenn Sie sich um Ihre Haltung sorgen.

»Die meisten Leute glauben, es sei gefährlich, krumm zu sitzen«, sagt Kieran O'Sullivan von der University of Limerick. Der Physiotherapeut und Forscher hat sich auf Rückenschmerzen spezialisiert und zu dem Thema bereits einige Studien in mehreren Ländern durchgeführt.

Neue Untersuchungen bringen viele der gängigen Thesen zum Kippen und machen uns auf Probleme aufmerksam, um die wir uns wirklich kümmern sollten. Sie zeigen sogar Möglichkeiten auf, wie wir im Sitzen und Stehen unsere Stimmung verbessern können. Lehnen Sie sich also zurück (oder lümmeln Sie, wenn Sie wollen) und machen Sie sich darauf gefasst, dass Ihre bisherigen Vorstellungen über Sitzpositionen auf den Kopf gestellt werden.

Ideal ist nicht definiert

Die ideale Körperhaltung ist etwas, worüber Menschen mindestens seit der Antike sprechen. Man denke nur an die griechischen Statuen, die fast durchweg athletische, aufrecht stehende Körper mit geradem Rücken zeigen. »Die frühesten schriftlichen Belege im Westen finden sich bei den alten Griechen. Aber vor meinem geistigen Auge sehe ich eine Neandertaler-Mutter, die ihre Kinder anschreit: ›Steht aufrecht, ihr seht ja aus wie die Homo sapiens auf der anderen Talseite‹«, sagt Sander Gilman von der Emory University in Atlanta. Der Historiker hat ein Buch mit dem Titel »Stand Up Straight! A History of Posture« (Eine Geschichte der Körperhaltung) verfasst.

Wie sieht eine ideale Körperhaltung aus? Das bestimmt zum Teil unsere Kultur. »Vieles von dem, was wir für eine gute Position halten, hat mit Ästhetik zu tun und damit, was bei uns als elegant, attraktiv, interessiert oder motiviert gilt«, sagt O'Sullivan. Seine Untersuchungen zeigen, dass Frauen ihre Sitzhaltung offenbar kritischer beurteilen als Männer. Möglicherweise sei das darauf zurückzuführen, dass die Gesellschaft von Frauen im Hinblick auf gute Haltung mehr erwartet. Die Art und Weise, wie wir unseren Körper positionieren, ist zudem eng mit unserer Vorstellung von Gesundheit verbunden. Einen fitten Soldaten stellen wir uns aufrecht, einen körperlich schwachen, alten Menschen gebückt vor, sagt Leon Straker von der Curtin University im australischen Perth.

Aus medizinischer Sicht ist ideale Körperhaltung allerdings ein schwammiger Begriff. Im Allgemeinen sagen Physiotherapeutinnen und -therapeuten, die optimale Position sei eine ausgewogene. Sie sollte bequem, stabil und symmetrisch sein und keinen bestimmten Muskel, kein Gelenk überlasten. Was aber bedeutet das in der Praxis? Sollen wir den Rücken möglichst gerade machen, also jenen 90-Grad-Winkel einnehmen, den unsere Eltern damals wahrscheinlich im Sinn hatten?

Das ist schwer zu sagen. Von der Seite betrachtet weist unsere Wirbelsäule von Natur aus eine S-Form auf, mit einer leichten Innenkrümmung im unteren Rücken (Lenden), einer Außenkrümmung im oberen Rumpf (Brust) und einer weiteren Einwärtskrümmung im Hals- und Nackenbereich. Wie stark diese ausgeprägt sind, ist individuell verschieden, abhängig von den Genen, Lebenserfahrungen und Gewohnheiten einer Person. Mit den Jahren verändert sich die Körperhaltung: Wir beugen uns dem Alter.

All das macht es für Fachleute schwierig, sich auf eine perfekte Haltung zu einigen. In einer von O'Sullivan publizierten Studie wurden Physiotherapeuten dazu aufgefordert, die beste Sitzposition auszuwählen. Sie bekamen neun Optionen zur Auswahl, diese reichten von einer kerzengeraden bis hin zu einer total zusammengesackten Haltung mit vorstehendem Kinn. Etwa die Hälfte der Befragten war der Meinung, ein aufrechter unterer Rücken bei entspanntem oberem Rumpf sei am besten. Ein Drittel hielt dagegen eine Vorwärtsneigung aus der Hüfte mit gerader Wirbelsäule für optimal.

Hinzu kommt: Zwar haben alle eine ungefähre Vorstellung davon, was eine gute Position ausmacht. Wir halten sie aber nur selten ein. Genau das haben Vasileios Korakakis vom Aspetar Orthopaedic and Sports Medicine Hospital in Doha, Katar, und seine Kollegen in einer Studie mit 100 gesunden Menschen gezeigt. Die meisten saßen von Natur aus leicht gebeugt. Als sie aufgefordert wurden, eine optimale Sitzhaltung einzunehmen, saßen alle plötzlich viel aufrechter – die Frauen noch etwas mehr als die Männer.

Schadet es uns denn tatsächlich, wenn wir krumm sitzen? Zahlreiche Websites erklären, wie eine »schlechte« Körperhaltungen zu Nacken-, Schulter- und Rückenschmerzen führt. Dort finden sich außerdem Methoden, um dem Ganzen entgegenzuwirken. Auch der britische National Health Service beschäftigt sich auf seinen Seiten mit häufigen Haltungsfehlern und den Problemen, die sie verursachen können.

Wenn es nur so einfach wäre. Sicher ist: Mit schiefem Nacken oder schiefer Wirbelsäule zu sitzen, kann vorübergehend Muskelschmerzen verursachen. Das ist unter anderem auf eine Überaktivität bestimmter Muskeln zurückzuführen. Ob ein Zusammenhang zwischen der Körperhaltung und längerfristigen Schmerzen besteht, ist allerdings höchst umstritten.

Krumme Körperhaltung ist kein Garant für Schmerzen

Während einige – oft kleinere – Studien einen offensichtlichen Zusammenhang zeigen, finden größere, strengere Analysen diesen häufig nicht. »Es gibt nur sehr wenige Belege dafür, dass unsere typische Körperhaltung vorhersagt, ob wir chronische Schmerzen bekommen oder nicht«, sagt Straker. Andere Forscher gehen sogar noch weiter. Laut O'Sullivan »gibt es nicht nur wenig Evidenz für einen Zusammenhang zwischen schlechter Körperposition und langfristigen Schmerzen – es gibt gar keine«.

So kamen Forschende der Monash University im australischen Melbourne in einer Analyse von 653 relevanten Studien aus dem Jahr 2021 zu dem Schluss, es gebe keine verlässlichen Beweise dafür, dass bestimmte Haltungen beim Autofahren mit Schmerzen im unteren Rücken einhergehen. Eine Studie der University of Southern California von 2017, in der 67 Personen mit Schulterschmerzen mit 68 schmerzfreien Probanden verglichen wurden, fand hinsichtlich der Schulterhaltung keinen Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Diese Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

»Es gibt nicht nur wenig Evidenz für einen Zusammenhang zwischen schlechter Körperhaltung und langfristigen Schmerzen – es gibt gar keine«Kieran O'Sullivan, Physiotherapeut

Karen Richards, die wie Leon Straker ebenfalls an der australischen Curtin University forscht, wurde auf den Mangel an Beweisen aufmerksam, als einige Eltern ihre Kinder in die dortige Klinik brachten, weil sie sich Sorgen über deren Haltung machten. Keines von ihnen hatte jedoch Schmerzen gehabt, sagt Richards. Der Ärztin wurde klar, dass die Evidenz bezüglich möglicher Fehlhaltungen fehlte. Deshalb sah sie keinen Grund, einzugreifen.

Um diese akademische Lücke zu schließen, untersuchten Richards und ihre Kollegen 686 Teenager. Die 17-Jährigen waren Teil einer Langzeitstudie. Mit Hilfe von Körpersensoren bestimmten sie die natürliche Nackenhaltung der Jugendlichen beim Sitzen und teilten sie verschiedenen Kategorien zu: aufrechter Nacken und Körper, zusammengesackter Brustkorb mit nach vorn gerichtetem Kopf, aufrechter Brustkorb mit nach vorn gerichtetem Kopf und ein Zwischending, bei dem die Wirbelsäule leicht gekrümmt ist. Fünf Jahre später fragte das Team die Probandinnen und Probanden, ob sie innerhalb des letzten Jahres Nackenschmerzen gehabt hatten, die über mindestens drei Monate anhielten.

Die Ergebnisse waren überraschend. Bei männlichen Teilnehmern sagte die Nackenhaltung im Alter von 17 Jahren nichts darüber aus, ob sie mit 22 Jahren Schmerzen bekommen würden. Unter aufrecht sitzenden jungen Frauen waren künftige Nackenschmerzen sogar häufiger. Eine eher gebeugte Haltung wirkte offenbar schützend. Die allgemeine Aufforderung, gerade zu sitzen, um Schmerzen vorzubeugen, müsse also überdacht werden, folgerten Richards und ihr Team. Die Physiotherapeutin vermutet, die Beschwerden der Probandinnen könnten von einer ständigen, schwachen Muskelaktivierung rühren, welche es braucht, um aufrecht zu bleiben. Möglicherweise wird die Position durch andere Faktoren, zum Beispiel Ängste, gefördert.

Mehr bewegen

Die Art und Weise, wie wir sitzen und stehen, ist wichtig – nicht zuletzt, weil sie unsere Stimmung beeinflussen kann (siehe »Bessere Körperhaltung, bessere Laune«). Eine ungünstige Körperhaltung kann zudem zu weiteren Problemen führen. Nicht unbedingt wegen der Position an sich, sondern wegen der Dauer, die man darin zubringt. Viele Menschen bewegen sich immer weniger. »Wir sind immer weniger aktiv, sowohl während der Arbeit als auch in der Freizeit. Das ist in den meisten Ländern so«, sagt O'Sullivan.

»Wir sind immer weniger aktiv, sowohl während der Arbeit als auch in der Freizeit«Kieran O'Sullivan, Physiotherapeut

Das bedeutet: Wir behalten die Haltung, zu der wir natürlicherweise neigen, über einen längeren Zeitraum bei. Im Lauf der Jahre passt sich unser Körper dem an. »Der Körper reagiert auf das, was wir mit ihm machen, insbesondere bei Kindern und jungen Erwachsenen«, sagt Straker. »Die Knochen strukturieren sich jeden Tag neu, als Reaktion auf die Belastungen, die wir auf sie ausüben.« In den Augen der Forschenden könnte ein ständiges Herumlümmeln die Körperform dauerhaft verändern. »Wer sehr viel Zeit in gebückter Haltung verbringt, wird vermutlich auf Dauer krumm«, sagt Straker. Die Auswirkungen sind noch nicht bekannt. Doch einige Forscher sind besorgt.

Bessere Körperhaltung, bessere Laune

Zwar führt eine schlechte Körperhaltung nicht zwangsläufig zu langfristigen Schmerzen. Die Vorstellung, dass eine »gute« Körperhaltung Vorteile bringt, ist allerdings nicht völlig unbegründet. Bestimmte Positionen können beispielsweise die Stimmung verbessern.

Bereits im 19. Jahrhundert entstand ein Bewusstsein dafür, dass zwischen Körper und Emotionen ein Zusammenhang besteht. Der Philosoph William James stellte die These auf, dass wir nicht lachen, weil wir glücklich sind, sondern dass wir glücklich sind, weil wir lachen. Diese Idee ist heute als »Embodied Cognition« oder »Embodiment« bekannt. Sie beruht darauf, dass der Körper unsere Gedanken beeinflusst. Treffen Sie beispielsweise einen geliebten Menschen, kann sich Ihr Herzschlag erhöhen. Wenn Sie sich umarmen, spüren Sie seine Haut an Ihrer. Das Gehirn kombiniert die neuen Daten und ruft die entsprechende Emotion hervor. Erst dann können wir Gefühle wie Liebe oder der Freude bewusst wahrnehmen.

Mehrere Experimente stützen diese Idee. Studien der Psychologin Elizabeth Broadbent von der University of Auckland in Neuseeland haben beispielsweise gezeigt, dass Menschen mit Depressionen tendenziell gebeugter gehen, stehen und sitzen als Menschen ohne diese Erkrankung. Aber auch bei gesunden Personen zeigt sich ein Effekt. Das Team teilte Menschen nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen ein und brachte ihren Rücken mit Hilfe von Kinesiotape entweder in eine gebeugte oder eine aufrechte Sitzposition. Anschließend sollten die Teilnehmenden eine Rede halten. Die aufrecht sitzende Gruppe berichtete nicht nur, dass sie sich besser fühlte, sondern war gemessen an ihrem Blutdruck auch weniger gestresst.

Ein Team um Johannes Michalak von der Universität Witten/Herdecke nutzte Biofeedback, um zu beeinflussen, wie Menschen auf einem Laufband gingen. Den Studierenden wurden zunächst positiv und negativ behaftete Wörter gezeigt. Die Forscher fragten sie, wie gut das Wort sie jeweils beschreibt. Danach forderten sie sie auf, so zu gehen wie jemand, der unglücklich oder extrem glücklich ist. Die jeweils typischen Gangarten basieren auf Experimenten, die zeigen, dass traurige Menschen dazu neigen, ihren Körper vermehrt zur Seite zu bewegen, die Arme weniger mitzuschwingen und gebückter zu gehen als glückliche.

Zum Schluss gab es noch einen Überraschungstest: Die Teilnehmenden sollten sich an so viele Wörter wie möglich erinnern, die ihnen zu Beginn der Studie genannt wurden. Das Ergebnis: Wenn sie »traurig« gingen, erinnerten sie sich an mehr negative Wörter, als wenn sie einen fröhlichen Gang einschlugen. Die Forscher vermuten, dass die Art des Gehens eine Veränderung des emotionalen Zustands ausgelöst haben könnte, der sich dann wiederum auf das Gedächtnis auswirkte.

 

»Wir wissen noch nicht, was mit Kindern passiert, die den ganzen Tag krumm sitzen«, sagt Wendy Katzman von der University of California in San Francisco. Krümmt sich die Brustwirbelsäule übermäßig nach vorne, könne man mit der Zeit die Lungen vielleicht nicht mehr vollständig mit Luft füllen.

Die gute Nachricht: Wenn Sie dazu neigen, zu lange Zeit in einer bestimmten Position zu verharren, können Sie etwas tun, um den Auswirkungen auf Ihren Körper entgegenwirken. Stärken und dehnen Sie die Muskeln und Bänder, die sonst verkürzen und schwächer werden. Pilates und Yoga können Ihnen helfen, dieses Ziel zu erreichen. Die Übungen tragen auch dazu bei, den vollen Bewegungsumfang des Körpers aufrechtzuerhalten. Diese Fähigkeit beschäftigt Straker und andere Physiotherapeuten übrigens weit mehr als eine vermeintlich schlechte Körperhaltung.

Kraft- und Flexibilitätsübungen wirken auch einem Verbiegen der Brustwirbelsäule entgegen, wovon 40 Prozent der Erwachsenen über 65 Jahre betroffen sind (siehe »Das hilft dem Rücken«). Eine starke Biegung kann die Lebensqualität ernsthaft beeinträchtigen, denn sie vermindert beispielsweise die Gehgeschwindigkeit.

Sich in unnatürliche Positionen zu zwingen, nur um die eigene Körperhaltung zu verbessern, sei aber keineswegs hilfreich, sagt O'Sullivan: »Wenn man Leute dazu auffordert, sich ›richtig‹ – also gerade – hinzusetzen, verspannen sie sich und fühlen sich unwohl.« Das ist einer der Gründe, weshalb manche Physiotherapeutinnen und -therapeuten – ein Berufsstand, der früher fest überzeugt davon war, dass es eine korrekte Haltung gibt – heute dafür plädieren, sich weniger Gedanken zu machen und sich stattdessen mehr zu bewegen. »Wechseln Sie häufiger mal die Position. Es gibt keine Haltung, die für jeden gut ist«, sagt auch Richards.

Das ist letztlich die Botschaft, über die sich die Experten einig sind. »Machen Sie sich keine Gedanken über die richtige Sitzhaltung und korrigieren Sie Ihre Kinder nicht ständig«, sagt O'Sullivan. »Sorgen Sie lieber dafür, dass sie sich zwischen dem Lümmeln viel bewegen.«

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