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Göbekli Tepe: Das Dorf, in dem Jäger und Sammler wohnten

Im Südosten Anatoliens errichteten Jäger und Sammler den ersten Tempel der Geschichte und versammelten sich dort zu rauschenden Festen. So lautet die bisherige Annahme. Doch neuere Grabungen zeigen: Auf dem Göbekli Tepe hatten die Wildbeuter vor rund 12 000 Jahren auch Wohnhäuser erbaut. War die neolithische Lebensweise – vom Jäger und Sammler zum sesshaften Bauern – anders entstanden?
Göbekli Tepe
Vier Steinkreise haben Archäologen im Hang auf dem Göbekli Tepe ausgegraben. Mindestens 16 weitere schlummern dort, im Südosten der Türkei, noch im Boden. Die Anlagen sind zirka 12 000 Jahre alt.

Als der deutsche Archäologe Klaus Schmidt an einem Oktobernachmittag des Jahres 1994 eine steinige Anhöhe nahe dem südostanatolischen Dorf Örencik hinaufstieg, wollte er fast schon wieder umkehren. Keinerlei Anzeichen einer prähistorischen Besiedlung waren auf dem mit Basaltbrocken bedeckten Weg zu sehen. Bereits 1963 war ein Kollege, der US-Amerikaner Peter Benedict, an dieser Stelle in der Provinz von Şanlıurfa gewesen. In seinen Notizen hatte er einen mit Feuersteinsplittern übersäten Ort beschrieben. Er war überzeugt: Der Hügel, den die Einheimischen Göbekli Tepe, den bauchigen Berg, nannten, war eine Stätte aus der Jungsteinzeit. Weil er an derselben Stelle aber auch einen muslimischen Friedhof vermutete, ging Benedict seiner Idee nicht weiter nach.

Immerhin hatte 30 Jahre später ein Dorfbewohner Klaus Schmidts (1953–2014) Frage, ob es da oben Feuerstein gebe, sofort bejaht. Das trieb den Archäologen und seine Mitstreiter weiter den Berg hinauf. Als sie schließlich ein Kalksteinplateau erreichten, sahen sie einen Hügel, der die ganze Hochebene überragte. Schmidt war sofort klar, dass dies keine natürliche Anhöhe war: »Das, was wir sahen, konnte ohne Zweifel nur Menschenwerk sein«, schrieb er in seinem Buch »Sie bauten die ersten Tempel«. »Es war ein riesiger von Menschen gestalteter Hügel.«

Auch den Maulbeerbaum auf der Spitze, an den die Einwohner der Region auf Zetteln ihre Wünsche hängten und den Benedict in seinem Bericht erwähnt hatte, fanden die Archäologen vor. Es bestand kein Zweifel, sie hatten den Göbekli Tepe entdeckt!

Keine Wohngebäude, keine Wasserquellen, kein Ackerbau

Die Monumente, die auf dem bauchigen Berg ans Licht kamen, versetzten die ganze Welt in Staunen. Die Archäologen schälten runde Anlagen aus meterhohen Steinpfeilern aus der Erde, teils übersät mit Reliefbildern von wilden Tieren. Für Schmidt war rasch klar, dass es sich beim Göbekli Tepe um ein kultisches Zentrum für Jäger und Sammler gehandelt haben muss. Weit und breit gab es keine Wohngebäude, keine Wasserquellen und keine Hinweise auf domestizierte Pflanzen und Tiere. Wie es schien, war die Menschheit auch ohne Ackerbau und Sesshaftigkeit in der Lage gewesen, große Monumente zu errichten. Womöglich ebneten gar Kult und Religion den Weg ins Neolithikum?

Wohnhäuser | Weil ein neues Schutzdach nötig war, fingen die Archäologen an, erneut zu graben – und entdeckten die Überreste von eng aneinandergebauten Rundhäusern.

Die Grabungen der vergangenen Jahre lassen allerdings an dieser These zweifeln. Die Ausgräber fragen sich heute, ob der Göbekli Tepe überhaupt ein überregionales Heiligtum gewesen ist. Vielmehr noch: Baureste rund um die Steinkreise bezeugen, dass sich die Wildbeuter dort sehr wohl wohnlich eingerichtet hatten.

Fast 6 Meter hoch und 20 Tonnen schwer

Seine ersten Geheimnisse gab der Hügel im Jahr 1995 preis. Damals begann Klaus Schmidt zusammen mit türkischen Kolleginnen und Kollegen zu graben, gefördert vom Deutschen Archäologischen Institut (DAI). Die Fachleute legten zwei Hügelkuppen frei. In einer Senke des Hangs entdeckten sie vier Steinkreise, die aus Mauern und riesigen T-förmigen Megalithen bestehen. Die Pfeiler sind bis zu 6 Meter hoch und 20 Tonnen schwer. Menschen hatten sie mit Stein- und Knochenwerkzeugen aus einem nahe gelegenen Steinbruch herausgelöst.

Das Alter der Anlagen war erstaunlich: Schmidt und sein Team datierten sie in die vorkeramische Jungsteinzeit, ins 10. Jahrtausend v. Chr. Man hatte sie demnach rund 7000 Jahre vor Stonehenge und dem Bau der Pyramiden von Giseh errichtet. Mit Hilfe geophysikalischer Prospektionsmethoden, die archäologische Strukturen im Erdreich erfassen, machten die Ausgräber um Schmidt 16 weitere solcher Kreisanlagen auf dem Hügel aus.

Ebenso Aufsehen erregend wie die Monolithen selbst waren die Reliefs auf den Steinpfeilern. Neben nicht eindeutig lesbaren Symbolen und anthropomorphen Elementen wie menschlichen Armen bedecken hauptsächlich fein gemeißelte Tiere die Kalksteinflächen. Sie stellen nicht einfach die typische Fauna der Region dar. Genauso wenig bilden sie einzig Jagdwild ab. Vielmehr folgten ihre Schöpfer offenbar einer bestimmten Idee, wie Klaus Schmidt vermutete. Sie wählten vor allem gefährliche Tiere aus: Zähnebleckende Löwen, Keiler mit großen Hauern, Leoparden, Schlangen, Skorpione, Spinnen, Raubvögel und Widder dominieren die Bilder. Und es fällt auf, dass es ausschließlich männliche Tiere sind.

Wie entstand unsere Zivilisation?

Inzwischen ist der Göbekli Tepe weltberühmt. Wer den Fundplatz auf Google eingibt, erhält fast viereinhalb Millionen Einträge. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Disziplinen haben sich mit der Anlage befasst. Nicht nur in der Fachliteratur taucht die 2018 zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannte Ausgrabungsstätte auf, sondern auch zahlreiche TV-Dokumentationen berichten über den bauchigen Hügel. Seine Prominenz verdankt der Göbekli Tepe aber nicht nur dem Alter der Stelen oder der virtuosen Steinmetzarbeit. Die Fundstätte ist außergewöhnlich, weil sie die bisherigen Thesen über den Verlauf kultureller Entwicklungen offenbar auf den Kopf stellt.

Da sie weder Anzeichen einer Wohnbebauung noch Spuren von domestizierten Tieren oder Pflanzen fanden, gingen Schmidt und sein Forschungsteam davon aus, dass mobile Jäger und Sammler die Anlagen erbaut hatten. Denen hatte man eine solche organisatorische und logistische Leistung bis dahin allerdings nicht zugetraut. Die meisten Archäologen waren nämlich überzeugt: Dazu musste zunächst die Entwicklungsstufe des sesshaften bäuerlichen Lebens durchschritten werden. Erst dann verfügten Gemeinschaften über die notwendigen hierarchischen Strukturen und produzierten Nahrung im Überschuss, damit Spezialisten ihr Handwerk entwickeln und die ersten Monumentalbauten in die Welt setzen konnten. Doch diese Annahmen schienen die Funde vom Göbekli Tepe Lügen zu strafen.

Tiere in Stein | Auf dem Pfeiler vom Göbekli Tepe sind ein Stier, vermutlich ein Fuchs und eine Art Ente abgebildet (von oben nach unten).

Eine These von Klaus Schmidt schlug dabei besonders hohe Wellen in der Fachwelt: Wie waren die vielen Helfer, die man zur Errichtung der Anlage brauchte, versorgt worden? Laut Schmidt lieferte diese Mammutaufgabe für die Wildbeuter den Anlass, sesshaft zu werden und sich fortan dem Ackerbau und der Viehzucht zu widmen. Da er den Göbekli Tepe als Bergheiligtum deutete, wo Menschen zusammenkamen, um ihre Religion auszuüben, goss er seine Überzeugungen in folgende Formel: »Erst kam der Tempel, dann die Stadt.« Die Idee von der Religion als Triebkraft der neolithischen Revolution, wie der Archäologe Gordon Childe (1892–1957) den Übergang zur sesshaften agrarischen Lebensweise benannt hatte, griffen in der Folgezeit viele Intellektuelle auf.

Schächte für ein neues Schutzdach

Doch die neuesten Ausgrabungen stellen diese These in Frage. Der Anlass dafür war zunächst weniger wissenschaftlicher Natur: Neue Dächer sollten den Fundort schützen, dafür mussten Schächte gegraben und Stützpfeiler in den Boden gerammt werden. Die Archäologen untersuchten vorab das Areal und legten tiefe Sondagen an. Dabei entdeckten sie in den frühesten Schichten des Fundplatzes Mauerzüge – es waren die Überreste von Wohngebäuden.

Die Häuser waren zeitgleich mit den Kreisanlagen entstanden. »Das sind kleine Rundbauten von zwei bis drei Meter Durchmesser«, berichtet Lee Clare vom Deutschen Archäologischen Institut, Grabungskoordinator und Nachfolger von Klaus Schmidt. »Viele dieser Bauten waren mehrphasig, das heißt, sie wurden immer wieder nachgebaut.« In den Häusern gab es Feuerstellen, Herdplätze und Abfallgruben. In den freien Flächen dazwischen hatten die einstigen Bewohnerinnen und Bewohner Feuerstein bearbeitet oder aus Knochen und Gestein Perlen hergestellt. Die Archäologen fanden zudem Knochen- und Steinwerkzeuge. Auch Überreste von Rechteckbauten, die Klaus Schmidt frei gelegt und dem Kultbereich zugerechnet hatte, identifizieren die Ausgräber anhand des Fundinventars mittlerweile als Wohngebäude.

»Wir haben uns die Funde aus diesen Bauten angesehen. Es sind Mahlsteine und Werkzeuge aus Silex – also die typische Ausstattung jungsteinzeitlicher Häuser, wie man sie auch aus anderen Siedlungen kennt«, sagt Clare, der seine Ergebnisse in einem Aufsatz in den »e-Forschungsberichten« des DAI zusammengefasst hat. Und offensichtlich hatten sich die Menschen vom Göbekli Tepe auch um eine ausreichende Wasserversorgung gekümmert. Bereits 2013 grub Schmidt einen sorgfältig in den Felsen gehauenen Kanal aus, der mit einer Steinplatte abgedeckt war. Nun stießen die Ausgräber um Lee Clare auf eine große Zisterne. Sie diente wahrscheinlich als Auffangbecken für Regen und versorgte die Siedlung mit Wasser.

Gräber unterm Haus

Auch Bestattungen fanden Clare und sein Team – unter den Fußböden der Häuser. Sie legten zwei Gräber mit den sterblichen Überresten von vier Menschen frei. Zwei der Toten identifizierten sie als weiblich, das Geschlecht der beiden anderen konnten sie nicht bestimmen. Bislang haben die Archäologen nur einen Bruchteil des Platzes ausgegraben. Doch sehr wahrscheinlich, so vermuten sie, kommen in Zukunft weitere Wohnbauten und Bestattungen zum Vorschein. Nach derzeitigem Ausgrabungsstand schätzt Clare, dass etwa 100 Menschen gleichzeitig auf dem Göbekli Tepe gelebt haben. Ob sie die Wohngebäude nur zeitweise oder dauerhaft nutzten, ist aber bislang offen.

Unklar ist auch, ob die Bewohner und Bewohnerinnen des Göbekli Tepe die Pfeileranlagen erbaut haben. Klaus Schmidt war überzeugt davon, dass die Jäger-und-Sammler-Gruppen der Region auf dem Hügel zusammenkamen, um in einem gemeinsamen Kraftakt die Monumentalbauten zu errichten. Lee Clare sagt: »Wenn man an die Hochreliefs denkt, die sehr detailliert und schön sind, glaube ich nicht, dass jeder sie hätte machen können. Dafür war sicher ein gewisses Knowhow nötig.« Spezialisierte Handwerker, die von Ort zu Ort zogen, könnten seiner Meinung nach die Reliefs aus dem Stein gemeißelt haben. Das würde eine Mitarbeit der Anwohner aber nicht ausschließen. Schließlich könnten diejenigen, die sich in den Wohngebäuden niederließen, selbst die Handwerker gewesen sein.

Eines lässt sich jedoch mit einiger Gewissheit sagen: Bäuerinnen und Bauern waren diese ersten Siedler nicht. »Wir haben keinerlei Nachweise für den Anbau von Getreide oder die Domestikation von Tieren«, sagt Clare. »Alles, was sie brauchten, fanden sie in ihrer natürlichen Umwelt. Die Landschaft war am Anfang des Holozäns feuchter als heute – es war deshalb ein Paradies für Jäger-und-Sammler-Gruppen.«

Nicht von Menschen, sondern einer Naturkatastrophe begraben

Die neuen Grabungen haben eine weitere Gewissheit über den Göbekli Tepe ins Wanken gebracht: nämlich die These, die Nutzer der Pfeilerkreise hätten die Anlagen rituell beerdigt. Laut Schmidt hätten die Erbauer die Steinkreise bewusst verfüllt, als sie ihr Kultzentrum nicht mehr brauchten. Damit erklärte er auch, warum die Monumente im Lauf der Jahrtausende kaum verfallen waren. Doch Lee Clare und sein Team halten mittlerweile ein anderes Szenario für wahrscheinlicher. Sie gehen von einem Hangrutsch aus, möglicherweise ausgelöst durch ein Erdbeben. Und Starkregen könnte die Erosion noch verstärkt haben. Am Ende begruben Erde und Geröll die Pfeilerkreise unter sich.

Dorf | Schon das Team von Klaus Schmidt legte die rechteckigen Gebäude (oben) frei und rechnete sie zur Tempelanlage. Nachuntersuchungen ergaben, dass in den Bauten einst Menschen wohnten. Und sie begruben dort ihre Toten: Unter einem Haus fanden sich zwei Skelette (unten).

14C-Daten stützen diese These. Die Archäologen ließen organische Überreste analysieren, die in den Schichten um die Pfeileranlagen steckten. Das Ergebnis: Die Kohle- und Knochenstücke stammen aus unterschiedlichen Zeiten, das Material war demnach stark durchmischt. Offenbar war die Erde aus höheren Hangabschnitten abgerutscht und trug Bodenlagen aus verschiedenen Phasen den Berg hinunter.

Das hat auch Auswirkungen auf die Deutung der Tierknochen, die man in den Pfeileranlagen fand. Bislang interpretierten Fachleute sie als Überbleibsel großer Feste, zu denen die Wildbeuter auch reichlich Bier konsumierten. Jetzt hegen sie die Vermutung, dass die Knochen ebenfalls aus höher gelegenen Hangabschnitte herabgepurzelt waren. Warum sie dort ursprünglich lagen, ist noch unklar. Es könnte aber der alltägliche Abfall einer Dorfgemeinschaft gewesen sein.

Ein Erinnerungsort für eine schwindende Lebensweise

Damit sind einige der bisherigen Hypothesen über den Göbekli Tepe hinfällig. Religion war wohl eher nicht der Grund für den Übergang zur bäuerlichen Lebensweise. Die Theorie, der Göbekli Tepe sei der Platz, von dem die Neolithisierung ausging, lässt sich ebenso wenig aufrechterhalten. Könnte die Monumentalanlage aber nicht dennoch im Sinne von Klaus Schmidt ein heiliger Ort gewesen sein, an dem Jäger und Sammler einen uns unbekannten Kult praktizierten? Lee Clare hat eine andere Interpretation.

Als er die archäologischen Daten aus Fundorten des frühen Neolithikums auswertete, fiel ihm auf: In der Şanlıurfa-Region gab es einst Dörfer, deren Bewohner bereits Ackerbau und Viehzucht betrieben – bei anderen war das jedoch noch nicht der Fall. Clare vermutet, dass dies auf einer bewussten Entscheidung beruhte. Denn mit den Vorteilen der bäuerlichen Lebensweise kamen auch Nachteile. Die Bevölkerung wuchs zwar, doch zugleich stieg die Konkurrenz um Ressourcen. Anders als in den egalitären Jäger-und-Sammler-Gesellschaften ging es um die Frage, wer Zugang zu Nahrung, Vieh und Äckern hatte und wer nicht. Die Folge könnten Konflikte gewesen sein. Die agrarische Lebensweise brachte mehr Ungleichheit mit sich.

Vielleicht gab es deshalb eine Gegenbewegung. Clare hält diese Möglichkeit jedenfalls für denkbar. Die Protagonisten jener Bewegung könnten auf dem Göbekli Tepe gewohnt haben. Die Jäger und Sammler dort wollten ihrem »bisherigen Lebensstil treu bleiben«, sagt Clare. Dabei hatten die Steinkreise auf dem Berg eine wichtige Funktion. Sie waren einerseits ein Versammlungsplatz, andererseits ein steinernes Manifest uralter Mythen. Die Jäger und Sammler hätten sich dort auf ihre gemeinsame Vergangenheit besonnen, schlägt Clare vor.

Dann wären die Monumente auf dem Hügel keine Tempel, sondern ein Ort gewesen, an dem Wildbeuter ihren Ursprung und ihre Traditionen beschworen. Beweisen lässt sich Clares These nicht. Daher betont der Grabungsleiter, dass es vorläufige Überlegungen sind. Um herauszufinden, was wirklich auf dem Göbekli Tepe geschah, dafür müssen und werden die Archäologinnen und Archäologen weiter forschen.

Sicher ist hingegen: Ungefähr um 8200 v. Chr. verließen die Menschen den bauchigen Berg. Ob sie sich in den umliegenden Tälern niederließen, um fortan Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, oder in eine andere Region weiterzogen, ist nicht bekannt. Noch nicht jedenfalls.

Alienartig | Der Finder der rätselhaften Figur behauptete, sie im Dorf Kilisik bei Adıyaman entdeckt zu haben. Grabungen dort lieferten aber keine weiteren Ergebnisse. Abgebildet sind zwei Ansichten eines Gipsabgusses der Skulptur.

Göbekli Tepe ist nicht allein

Im Südosten der Türkei sind 
mehrere Fundplätze aus der Zeit des Göbekli Tepe bekannt. Einige davon ähneln den dortigen Steinkreisen. Zeugen sie von der Vorstellung eines männlichen Schöpfergottes?

Die Pfeilerkreise auf dem Göbekli Tepe sind weltberühmt, aber es sind nicht die einzigen Rundanlagen, in denen meterhohe Monolithe stehen. Im Gebiet um die türkische Stadt Şanlıurfa legten Archäologen weitere T-förmige Kalksteinstelen frei, bei denen teils auch Häuserreste im Erdreich schlummern. Doch diese Fundstätten, deren Relikte als Tepeler-Kultur bekannt sind, werfen mehr Fragen auf, als sie alte beantworten.

Das Rätselraten begann bereits im Jahr 1965. Damals fiel zwei Archäologiestudenten ein bizarrer Fund in die Hände. Ein Bauer hatte ihnen eine etwa 80 Zentimeter hohe Kalksteinskulptur übergeben. Die Figur glich einer T-Form, Gesichtszüge waren jedoch keine daran zu erkennen. So ähnelt das gesamte Stück eher einer Art Alien, an dem Erich von Däniken seine helle Freude hätte. Dass aber tatsächlich eine menschliche Gestalt gemeint ist, belegen die angewinkelten Arme, die an den Seiten zu erkennen sind. Vorne hält die Figur offenbar einen menschlichen Kopf in Händen, ihren Schoß bedeckt eine Art Tierfell. Darunter folgt ein großes Loch – dort, wo sich das Geschlechtsteil befinden könnte, das möglicherweise separat eingesetzt war.

Funde von großen T-Pfeilern wie auf dem Göbekli Tepe machten Archäologen erstmals in den 1980er Jahren. Anlass gab der Bau des Atatürk-Staudamms unweit von Şanlıurfa. Weil vorgeschichtliche Siedlungshügel unerforscht im Stauwasser zu versinken drohten, begann man zu graben. Ein Team um Harald Hauptmann von der Universität Heidelberg und dem Archäologischen Museum Şanlıurfa legte den Hügel von Nevalı Ҫori frei. Dort kamen monolithische T-Pfeiler zum Vorschein, die teils mit ähnlichen Reliefs dekoriert sind wie die auf dem Göbekli Tepe. Radiokarbondaten belegten, dass Nevalı Ҫori aus der Zeit zwischen 8800 und 7000 v. Chr. stammte. Die Fachwelt hielt das hohe Alter für völlig unglaubwürdig und stellte die Datierung fast einhellig in Frage.

Pfeiler und noch mehr Pfeiler

Spätestens mit der Entdeckung des Göbekli Tepe im Jahr 1994 war dann alle Skepsis verflogen. Inzwischen sind in der Provinz Şanlıurfa weitere Fundplätze hinzugekommen – Sefer Tepe, Hamzan Tepe und Karahan Tepe. Letztere Stätte liegt rund 35 Kilometer östlich vom Göbekli Tepe. Auf dem Karahan Tepe stecken geschätzte 250 T-Pfeiler im Boden, lediglich die Oberseite ragt aus der Erde. Das erklärt, warum die Fundplätze so lange unerforscht blieben: Man hielt die Steinsetzungen für Grabsteine islamischer Friedhöfe, die unter keinen Umständen hätten frei gelegt werden dürfen. Seit 2019 graben Archäologen der Universität Istanbul auf dem Karahan Tepe. Neben T-Monolithen entdeckten sie Hausreste, die wie auf dem Göbekli Tepe wohl Wildbeuter bewohnten – und einen Raum, in dem die Pfeiler direkt aus dem Felsen gehauen wurden. Über einer Wand lugt dort sogar ein menschlicher Kopf aus Stein hervor.

Der bislang jüngste Fund der Tepeler-Kultur kam in einem Dorf der Region ans Licht. In Sayburç hob 2011 ein Bewohner Erde für den Hausbau aus, als er auf eine Steinbank mit Reliefs stieß. Er verschwieg den Fund, bis ihn zehn Jahre später ein Nachbar bei den Behörden meldete. Mittlerweile arbeiten dort Archäologen, die auch prompt Steinkreise mit T-Pfeilern entdeckten. Das Felsrelief, das Eylem Özdoğan von der Universität Istanbul 2022 in der Fachzeitschrift »Antiquity« veröffentlichte, dürfte ungefähr 11 000 Jahre alt sein. Dargestellt ist ein Mann in Frontalansicht, der einen v-förmigen Halsschmuck trägt und mit einer Hand seinen Penis umfasst. Neben ihm sind zwei Raubkatzen abgebildet. Links von dieser Gruppe ist ebenfalls ein nackter Mann zu sehen, der etwas Längliches festhält. Er steht vor einem Stier, dessen Körper in zwei Ansichten wiedergegeben ist: den Kopf mit Hörnern von oben und den Rest von der Seite. Ein ganz ähnlicher Fund kam jüngst, im Oktober 2023, in Karahan Tepe ans Licht: eine kolossale Statue ebenfalls eines Mannes, der seinen Penis umgreift.

Ein Schöpfergott wie der ägyptische Min?

Was sollen dieses Bild und all die anderen Darstellungen sowie die T-Pfeiler bedeuten? Zweifelsfrei interpretieren lassen sie sich nicht, aber zumindest in Ansätzen erklären. Das Gesicht der Männerfigur von Sayburç in Vorderansicht ähnelt dem Kopf aus dem Raum vom Karahan Tepe. Den v-förmigen Halsschmuck kennen Experten von anderen Figuren aus dieser Zeit. Auch Statuen von Männer, die ihren Phallus umgreifen, sind überliefert; zum Beispiel die Kilisik-Skulptur oder der Neufund in Karahan Tepe. Es handelt sich also um eine typische Darstellungsweise. Und ihre Bedeutung? Naheliegend ist, dass es in irgendeiner Form um männliche Fruchtbarkeit geht. Welche Vorstellungen damals vor rund 11 000 Jahren vorherrschten, wird sich vielleicht nie genau sagen lassen, doch es gibt Vergleiche aus anderen Kulturen.

Im alten Ägypten etwa galt der Urgott Min als Schöpfer der Welt. Wie er sie erschaffen hatte? Er masturbierte, und aus seinem Samen erwuchs der gesamte Kosmos. Den Schöpfungsakt beschrieben die Ägypter mit den Worten: »Seine Hand war seine Gemahlin.« Vielleicht hingen die Menschen am Übergang zur Jungsteinzeit einer ähnlichen Vorstellung an – im Samen des Mannes würde das fertige Kind liegen, das er beim Geschlechtsakt lediglich zum Austragen in den Bauch der Frau transferiert.

Vielleicht stellt die frontale Gestalt von Sayburç also ebenfalls einen Schöpfergott dar? Ausgräberin Özdoğan vermutet etwas anderes. Das Bild zeige keine symbolischen Embleme, sondern erzählerische Szenen, weil die einzelnen Motive nebeneinander dargestellt sind. Doch die Bildteile greifen nicht ineinander, vielmehr sind es zwei getrennte Figurengruppen – die eine davon statisch, die andere dynamisch. Wo soll man bei dieser Geschichte zu lesen beginnen?

Mangels Inschriften wird es kaum möglich sein, solche Bilder je genau zu verstehen. Sicher ist aber: Die T-Pfeiler mit ihren Armen im Relief stellten menschenförmige Gestalten dar, genau genommen Männer, umgeben von einer wilden, männlich dominierten Tierwelt.

Joachim Willeitner ist Archäologe, Journalist und Sachbuchautor.

Karahan Tepe | Aus dem Felsen hatte man einen Raum mit frei stehenden Pfeilern gehauen. Am Rand ragt ein menschlicher Kopf hervor. Experten datieren den Fundplatz ins 10. Jahrtausend v. Chr.

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