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Nachlassende Immunität: Warum Impfdurchbrüche wohl nicht tragisch sind

Für die meisten Geimpften ist eine Ansteckung ungefährlich und vielleicht sogar hilfreich. Allerdings nicht für alle. Manche Menschen brauchen die dritte Impfdosis eben doch.
Ein Aufstellschild mit Hinweis auf die 3G-Regeln, im Hintergrund der Außenbereich eines Cafés.

Mit der Delta-Variante von Sars-CoV-2, das zeigen diverse Studien, können sich auch Geimpfte leichter anstecken als mit bisherigen Mutanten. Zuletzt legte eine Vorabveröffentlichung aus Portugal nahe, dass Geimpfte sich unter gleichen Bedingungen mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit mit Delta anstecken wie mit Alpha. Eine Arbeitsgruppe in Israel bestimmte die Effektivität des mRNA-Impfstoffs von Biontech/Pfizer für Juni mit nur noch 64 Prozent – danach kursierte sogar die Zahl 39 Prozent auf Basis der Daten vom Juli. Das bedeutet: Geimpfte wären damit nur noch 64 beziehungsweise 39 Prozent besser vor einer Ansteckung mit Sars-CovV-2 geschützt als Ungeimpfte.

»Das wird in Deutschland genauso kommen«, sagt Andreas Radbruch, Senior-Professor für Experimentelle Rheumatologie an der Charité-Universitätsmedizin und wissenschaftlicher Direktor des Deutsches Rheuma-Forschungszentrum (DRFZ) in Berlin. »Das Wiederholen der Botschaft, dass Durchbruchinfektionen selten sind, schießt uns ins Bein«, twitterte Michael Mina, Professor für Epidemiologie und Immunologie an der Harvard Medical School. »Sie sind nicht selten, und die Öffentlichkeit sieht das.« Sind die neuartigen mRNA-Impfstoffe vielleicht doch nicht so gut, wie anfangs vermutet wurde? Oder nicht mehr so gut?

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Vieles spricht dafür, dass den Durchbruchinfektionen normale immunologische Prozesse zu Grunde liegen. »Die mRNA-Impfstoffe sind sehr effektiv, kurzfristig Ansteckungen und langfristig schwere Covid-19-Verläufe zu verhindern«, sagt Andreas Radbruch. Immunologen unterscheiden dabei zwischen protektiver und reaktiver Immunantwort. Erstere beschreibt, dass zwei Wochen nach einer Infektion oder Impfung sehr viele Antikörper im Blut und auf den Schleimhäuten sind – der Körper ist meist völlig gegen eine neuerliche Infektion mit dem gleichen Erreger geschützt.

Warum die Zahl der Antikörper sinkt

Danach sinken die Antikörperspiegel kontinuierlich. »Ein halbes Jahr nach der Impfung ist die Antikörperkonzentration auf 20 Prozent des Maximalwerts gesunken – das ist normal nach einer Infektion oder Impfung«, sagt Radbruch. »Das Immunsystem arbeitet Ressourcen schonend. Es kann ja sein, dass man nur einmal im Leben mit einem Erreger konfrontiert wird und es wäre unmöglich, für alle Erreger eine so große Zahl von Antikörpern vorzuhalten, dass man vor jeglichem Infekt komplett geschützt wäre.«

Radbruch entdeckte mit Kollegen 1997, dass es stabile Plasma-Gedächtniszellen im Knochenmark gibt, die sehr lange leben. »Das sind regelrecht Proteinfabriken, die pro Sekunde mehrere tausend Antikörper produzieren«, sagt er. 10 bis 20 Prozent der ursprünglich als Antikörper produzierende gebildeten Zellen werden zu solchen Gedächtniszellen. Dadurch schaffen sie es, 10 bis 20 Prozent des ursprünglichen maximalen Antikörperlevels über lange Zeit aufrechtzuerhalten. Eine Studie, veröffentlicht im Mai in »Nature«, fand tatsächlich langlebige Plasma-Gedächtniszellen im Knochenmark von Sars-CoV-2-Genesenen – und zwar in etwa gleicher Menge, wie sie auch nach Impfungen gegen Diphterie und Tetanus dort vorliegen.

Durch die beständige Antikörperproduktion im Knochenmark ist der Körper nicht mehr wehrlos gegen eine Reinfektion. »Aber wenn man eine hohe Dosis Virus abbekommt, kann man sich trotzdem infizieren«, sagt Radbruch. Diese Sichtweise passt zu dem Befund, dass die Durchbruchinfektion insbesondere mit Aufkommen der Delta-Variante zugenommen haben – sie ruft eine etwa 1000-fach höhere Viruslast hervor als vorherige Virusstämme.

Warum Impfdurchbrüche mild verlaufen

Aber der Körper ist trotzdem nach einer Impfung oder einer Infektion mit Sars-CoV-2 weitaus besser gewappnet gegen eine neuerliche Episode von Covid-19 – und zwar wegen der so genannten reaktiven Immunantwort. Dieses kann durch Gedächtniszellen ausgelöst werden, die im Blut patrouillieren. Bei Kontakt mit ihrem spezifischen Antigen werfen sie die Antikörperproduktion schnell wieder an. Das ist wohl einer der Gründe, warum Durchbruchinfektionen meist schnell eingedämmt werden dann mild verlaufen, ein anderer ist die zelluläre Immunabwehr durch zytotoxische T-Zellen.

»Ich wette, wenn man bei einem Masernausbruch PCR-Tests machen würde, würde man auch Maserninfektionen bei Geimpften entdecken«Andreas Radbruch

Für die Antikörperantwort sind B-Gedächtniszellen zentral – sie werden bei Kontakt mit dem Antigen zu Antikörperfabriken. Außerdem werden T-Helfer-Gedächtniszellen benötigt, die erst eine effiziente Aktivierung der B-Zellen möglich machen, wenn sie stimuliert werden. Eine aktuelle Vorabveröffentlichung der Pennsylvania State University zeigt nun für mRNA-Impfstoffe von Moderna und Biontech/Pfizer: Auch wenn die Antikörperkonzentration bei doppelt mit mRNA Geimpften mit der Zeit abnimmt, steigt die Zahl der B-Gedächtniszellen und der T-Helfergedächtniszellen. »Diese Zellen binden alle Varianten inklusive Delta sogar besser als B-Gedächtniszellen, die nach mildem Covid-19 gebildet werden«, twitterte Erstautor Rishi Goel. »Unsere Ergebnisse suggerieren, dass mRNA-Vakzine eine lang anhaltende, vielfältige Gedächtnisreaktion hervorruft.«

Das sieht auch Andreas Radbruch so: »Ich erwarte durch die mRNA-Impfstoffe eine jahrzehntelang anhaltende Immunität«, sagt der Immunologe. »Wenn Geimpfte oder Genesene eine hohe Dosis Virus abbekommen, können sie sich noch mal anstecken, werden aber nur milde oder gar symptomlos erkranken.« Das sei bei anderen Impfungen genauso. »Ich wette, wenn man bei einem Masernausbruch unter Ungeimpften in deren Umfeld PCR-Tests machen würde, würde man auch milde und asymptomatische Maserninfektionen bei Geimpften entdecken«, sagt Radbruch.

Sind Impfdurchbrüche sogar vorteilhaft?

Für die Geimpften könnten Ansteckungen mit Sars-CoV-2 sogar von Vorteil sein. »Solange die Immunisierung noch nicht zu lange her ist, ist die Reinfektion eigentlich gut«, sagt Christian Münz, Professor für virale Immunbiologie an der Universität Zürich. »Sie verläuft in der Regel sehr mild und sie ist ein natürlicher Boost für die Abwehr, so dass man wieder eine Zeit Ruhe hat vor der nächsten Ansteckung.«

Sind Drittimpfungen also unnötig? Eine neue Erhebung unter 4,5 Millionen Israelis veranschaulicht, welche Gruppe von Menschen von diesen profitieren könnten. Sie zeigt, dass der Schutz vor schwerer Erkrankung tatsächlich abnimmt, je länger die Impfung vergangen ist. Bei den Menschen über 60 Jahre steigt die Rate – von einem schwer Erkrankten unter 10 000 infizierten Geimpften, wenn die Immunisierung erst drei Monate vergangen war, auf drei Erkrankte sechs Monate nach der Impfung.

»Angesichts des massiv erhöhten Risikos der Ältesten fällt dieser Unterschied ins Gewicht«, schrieb Leif Eric Sander, Professor für Infektionsimmunologie und Impfstoffforschung am Berliner Universitätsklinikum Charité auf Twitter. »Aus meiner Sicht ein Argument für Boosterimpfung dieser Gruppe.«

Wer die dritte Impfdosis bekommen sollte

Der Grund für den abnehmenden Schutz gegen schwere Verläufe ist wahrscheinlich die Alterung des Immunsystems. Denn ältere oder immunsupprimierte Menschen reagieren schon zu Beginn mit einer schwächeren Antikörperantwort. »Wenn bei diesen Menschen dann die Antikörperspiegel weiter abfallen, sind auch schwerere Verläufe wieder möglich«, sagt Münz. Auch der zweite Arm des Immunsystems ist bei Älteren schwächer. Ausgerechnet die naiven T-Zellen, die durch Konfrontation mit dem Impfstoff zu Sars-CoV-2-spezifischen zytotoxischen T-Zellen geprägt werden können, nehmen mit dem Alter stark ab.

Zwar zeigt die neue israelische Studie auch, dass das Risiko von schweren Covid-19-Verläufen für doppelt Geimpfte auch nach einem halben Jahr nach der zweiten Injektion noch um mehr als das Zehnfache verringert ist, verglichen mit Ungeimpften. Dennoch sprechen sich viele Immunologen für die dritte Impfung für Ältere aus. Denn eine aktuelle Untersuchung zeigt, dass diese auch das Risiko einer Infektion um mehr als das Zehnfache reduziert. »Wir haben in der Pandemie sehr viel getan, um die Älteren zu schützen«, meint Christian Münz. »Daher empfiehlt es sich, diese einfach Maßnahme der dritten Impfung für diese Risikogruppe ins Auge zu fassen.«

»Und gefährdete Gruppen wurden ja sehr früh geimpft – dagegen können Menschen, die im Juni, Juli, vielleicht noch Mai die erste Dosis bekommen haben und dann die zweite eben einen Monat später, vermutlich relativ beruhigt in den Winter gehen.« Die Experten haben dabei keine Sicherheitsbedenken. »Gerade bei den Älteren ist die mRNA-Impfung sehr gut verträglich«, sagt Leif-Eric Sander.

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