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Biologie: Rentiere können gleichzeitig schlafen und fressen

Um während des futterreichen arktischen Sommers möglichst viel Nahrung aufzunehmen, versetzen sich Rentiere beim Wiederkäuen in einen schlafähnlichen Zustand.
Rentier bei der Suche nach Futter im Schnee
Auch für Rentiere ist Schlaf wichtig. Um davon genug zu bekommen, legen sie sogar beim Fressen ein Nickerchen ein.

Der Sommer liegt für Rentiere in der Arktis schon lange zurück. Diejenigen, die sich in den warmen Monaten satt gefressen haben, sind gut gerüstet, um den Winter zu überstehen. Eine am 22. Dezember 2023 im Fachjournal »Current Biology« veröffentlichte Studie berichtet, dass Rentiere ihr Gehirn in einen schlafähnlichen Zustand versetzen können, während sie kauen. Damit sind sie in der Lage, ihre Fresszeit während des arktischen Sommers zu maximieren.

»Rentiere können ihre Verdauungs- und Schlafbedürfnisse gleichzeitig befriedigen«, sagt Melanie Furrer, Erstautorin der Studie und Neurowissenschaftlerin an der Universität Zürich. Wie eine Kuh hat auch ein Rentier vier Magenkammern, von denen es die erste nutzt, um Gras aufzunehmen, es später wieder hochzuwürgen und dann erneut zu kauen – ein Vorgang, der als Wiederkäuen bekannt ist.

Die Forscherinnen und Forscher zeichneten das Elektroenzephalogramm (EEG) von in Gefangenschaft lebenden eurasischen Tundra-Rentieren (Rangifer tarandus tarandus) im norwegischen Tromsø auf und verfolgten deren Hirnaktivität während der Tag-und-Nacht-Gleiche im September, der Sommersonnenwende im Juni und der Wintersonnenwende im Dezember.

Weniger Bedürfnis nach Schlaf

Das Gehirn der Rentiere zeigte während des Wiederkäuens vermehrt langsame Wellen und rhythmische Aktivitätsschübe – Muster, die man normalerweise mit dem Non-REM-Schlaf (einer Schlafphase ohne Augenbewegungen) in Verbindung bringt. Obwohl die Tiere ihre Augen nicht immer geschlossen hatten, zeigten sie beim Wiederkäuen schlafähnliche Verhaltensweisen. Sie saßen oder standen ruhig da und reagierten weniger auf Geräusche, die andere Rentiere machten.

Je häufiger sie wiederkäuten, desto weniger Schlaf schienen die Rentiere zu brauchen. Als die Forscher die übliche Schlafzeit der Tiere um zwei Stunden verkürzten, indem sie laut mit ihnen sprachen, sie streichelten und mit frischem Futter lockten, beobachteten sie eine Zunahme der Slow-Wave-Aktivität im Gehirn der Rentiere, was auf einen erhöhten Schlafdruck (den normalen biologischen Antrieb zum Schlafen) hindeutet.

Wenn die Rentiere wiederkäuten, war die Slow-Wave-Aktivität im anschließenden Schlaf niedriger als bei Rentieren, die vorher nicht gefressen hatten. »Das Schlafbedürfnis sinkt beim Wiederkäuen. Wahrscheinlich liegt das daran, dass Rentiere während des Wiederkäuens ›schlafen‹ können«, sagt Furrer.

Sie vermutet, dass dies eine Reaktion auf die arktische Umgebung mit ihren üppigen, grasreichen Sommern und schneereichen Wintern ist. »Es ist eine Strategie, mit der sich die Tiere im Sommer genügend Zeit für eine nahezu konstante Nahrungsaufnahme sichern, um sich vor dem arktischen Winter mit geringem Nahrungsangebot zu mästen.«

»Die Arbeit zeigt, wie wichtig Schlaf ist und dass er bei Rentieren stark reguliert ist«Melanie Furrer, Neurowissenschaftlerin

Laut Furrer veränderte sich die gesamte Schlafzeit – gemessen als die Zeit, die die Tiere in inaktiven Zuständen verbrachten – im Lauf des Jahres überraschenderweise nicht. Das Team hatte erwartet, dass Rentiere im Sommer weniger und im Winter mehr schlafen, wenn sie deutlich weniger aktiv sind und Energie sparen müssen. »Diese Ergebnisse sind von besonderem Interesse, denn wir wissen, dass es Tiere gibt, die ihre Schlafdauer an die Umweltbedingungen anpassen, aber das scheint bei Rentieren nicht der Fall zu sein«, sagt Furrer. »Das zeigt, wie wichtig Schlaf ist und dass er bei Rentieren stark reguliert ist.«

Dem Neurobiologen Jerome Siegel von der University of California in Los Angeles zufolge ergänzt die Studie andere Arbeiten bei Tieren einschließlich Meeressäugern. Diese haben gezeigt, dass Tiere ihr Schlafverhalten an ihre Umgebung anpassen. In mehreren Studien stellten Fachleute bei Schafen, Rindern und Zwerghirschen (Tragulus kanchil) Hirnwellenmuster fest, die dem Non-REM-Schlaf während des Wiederkäuens ähneln. In der aktuellen Arbeit wurde jedoch zum ersten Mal untersucht, wie die schlafähnliche Hirnaktivität während des Wiederkäuens den Bedarf an Tiefschlaf verändert.

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