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Sprache und Wahrnehmung: Seltsamer Fall von Wortfindungsstörung

Ein Patient mit ungewöhnlicher Schwäche für Farbnamen bringt Licht in ein altes Rätsel: Erkennen wir Farben nur deshalb in Kategorien wie Rot und Blau, weil die Sprache uns diese Kategorien vorgibt?
Farbstreifen überlagert mit Störsignalen

Wenn wir einen Blauton sehen, stecken wir ihn in die Kategorie Blau. Doch für deren Grenzen gibt es keine schlüssige Begründung, außer der Konvention, dass wir einen bestimmten Teil des Farbspektrums als »blau« bezeichnen. Eine verbreitete Theorie lautet, dass diese Kategorisierung vom Sprachkortex in der linken Hirnhälfte »top-down« erfolgt. Aber würden wir unsere Farbeindrücke auch dann in die bekannten Kategorien unterteilen, wenn wir sie nicht sprachlich unterscheiden könnten?

Genau dafür spricht eine Fallstudie, die jetzt in der Zeitschrift »Cell Reports« erschienen ist: Sie schildert Experimente mit einem Schlaganfallpatienten, der Farbtöne zwar korrekt kategorisieren, die Kategorien aber nicht mehr benennen kann. Der Fall werfe ein neues Licht auf eine alte Debatte, meint die zehnköpfige Forschungsgruppe um Katarzyna Siuda-Krzywicka von der Universität Sorbonne in Paris, die den Fall untersuchte.

Bei dem Patienten handelt es sich um einem 54-jährigen gebürtigen Portugiesen, der 2014 einen Schlaganfall erlitten hat. Fälle wie der seine sind selten: Die Folgeschäden in bestimmten Teilen seines linksseitigen Hinterhaupt- und Schläfenlappens erschweren es ihm, Wörter und Zahlen zu lesen sowie Farben zu benennen, während ihm für Gegenstände, Tiere oder Menschen die richtigen Worte einfallen. Seine Farbwahrnehmung selbst, darunter die Fähigkeit, Farben zu unterscheiden, hat sich laut seinen Angaben nicht verschlechtert, und das bestätigten auch weitgehend unauffällige Testergebnisse.

Mit Weiß, Schwarz und Grau tat er sich ebenfalls nicht sonderlich schwer; der korrekte Farbname fiel ihm in 80 Prozent der Fälle ein. Doch dasselbe gelang ihm nur bei rund einem Drittel der 26 »bunten« Farben wie Rot, Grün und Blau. Manche korrekte Bezeichnung erschloss er sich mühsam, etwa so: »Das ist die Farbe des Himmels, es muss Blau sein.« Er wusste entsprechend auch oft nicht, ob zwei bunte Farben, etwa zwei Blautöne, zur gleichen Kategorie zählten. Doch sofern er keine Verbindung zu einem Farbwort herstellen musste, konnte er die Farbtöne ähnlich gut wie gesunde Versuchspersonen nach Farbgruppen ordnen. Er konnte die Kategorien voneinander unterscheiden, nur die Namen fielen ihm nicht ein.

Die Forschenden halten den Einzelfall für aussagekräftig, weil sie beim Vergleich mit gesunden Versuchspersonen keine besonderen anomalen Netzwerkaktivitäten feststellten. Sie schließen daraus zum einen, dass Schwarz, Weiß und Grau anders verarbeitet werden als bunte Farben. Zum anderen ließen sich die Beobachtungen schwer mit der Annahme vereinbaren, dass das Kategorisieren und Benennen von Farben von den gleichen neuronalen Prozessen im Sprachnetzwerk der linken Hemisphäre abhängt. Vielmehr verteilen sie sich offenbar über beide Hemisphären, wie die spezifischen Schäden und Defizite des Patienten zeigten. Der Farbeindruck gelangte bei ihm zwar in die linke Hemisphäre, die Läsionen betrafen dort jedoch genau jene Areale, die Farbeindrücke und -wörter miteinander verbinden.

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