Teilchenphysik: Chinesischer Beschleuniger findet Hinweise auf Gluonenball
Fast alle vom Standardmodell der Teilchenphysik vorhergesagten Phänomene wurden inzwischen nachgewiesen: angefangen mit dem Higgs-Teilchen über Pentaquarks bis hin zu anderen exotischen Formationen. In der Liste fehlt aber noch ein Gluonenball, ein Zusammenschluss aus Teilchen, welche die starke Kernkraft vermitteln. Hinweise auf ein solches Partikel hat nun die BESIII-Kollaboration im Fachjournal »Physical Review Letters« gemeldet. Das am chinesischen Beschleuniger gemessene Teilchen X(2370) scheint die vorhergesagten Eigenschaften eines Gluonenballs zu erfüllen.
Ein solches Teilchen wäre eine Sensation, denn es käme völlig ohne materieartige Elementarteilchen aus – man kann es sich wie einen Ball aus Photonen vorstellen. Dass Gluonenbälle existieren könnten, haben theoretische Physikerinnen und Physiker schon vor einigen Jahrzehnten vermutet. Doch die Berechnungen, die vorhersagen, in welchen Energiebereichen die Objekte auftauchen könnten, ließen sich erst in den vergangenen Jahren durchführen. Denn die Theorie der starken Kernkraft ist extrem komplex: Moderne Supercomputer müssen mehrere Tage am Stück auf Hochtouren laufen, um verlässliche Vorhersagen zu liefern. 2019 gelang es Forschenden von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking, durch die bisher präziseste Berechnung die Masse des leichtesten Gluonenballs mit 2,395 GeV/c2 anzugeben. Dieses Teilchen besteht demnach aus zwei Gluonen und hat einen Spin von null.
Das Standardmodell der Teilchenphysik
Das Standardmodell enthält alle bisher bekannten Elementarteilchen. Links oben sind die sechs Quarks Up (u), Down (d), Charm (c), Strange (s), Top (t) und Bottom oder auch Beauty (b) verzeichnet. Sie können jeweils drei verschiedene Farbladungen besitzen (Rot, Grün oder Blau). Diese Ladung bestimmt, wie sie an Gluonen (g) koppeln, die selbst zwei Farbladungen tragen. Neben der durch die Gluonen vermittelten starken Kernkraft unterliegen die Quarks der schwachen Kernkraft und dem Elektromagnetismus. Ihre elektrische Ladung beträgt entweder 2/3 oder –1/3 der Elektronenladung. Die Masse der sechs Quarks variiert stark, vom leichtesten Up-Quark mit 2,3 MeV/c2 bis zum schweren Top-Quark mit über 170 GeV/c2.
Außerdem gibt es sechs verschiedene Leptonen: das Elektron (e), das Myon (μ), das Tauon oder Tau (τ) und für jedes dieser Teilchen ein dazugehöriges Neutrino (ν). Sie unterliegen alle der schwachen Wechselwirkung, und bis auf die drei Neutrinos haben sie eine negative Elektronenladung. Wie bei den Quarks schwankt auch ihre Masse: von 511 keV/c2 des leichten Elektrons bis zu mehr als 1,7 GeV/c2 des schweren Tauons. Die Masse der Neutrinos ist tatsächlich so klein, dass sie bisher noch nicht bestimmt werden konnte.
Quarks und Leptonen bilden zusammen drei Teilchenfamilien, die sich bis auf ihre Massen nicht voneinander unterscheiden. Sie wirken damit wie drei praktisch identische Kopien; diese Symmetrie lässt sich durch die Gruppentheorie beschreiben.
Neben den Gluonen befinden sich in der rechten Spalte die übrigen Teilchen, welche die drei Grundkräfte des Standardmodells übermitteln. Das W+-, das W–- und das Z-Boson sind für die schwache Kernkraft verantwortlich, die radioaktive Zerfälle bewirkt. Das Photon übermittelt die elektromagnetische Kraft. Für die vierte Grundkraft, die Gravitation, wird vermutet, dass ein Graviton existiert. Das Higgs-Boson unterscheidet sich von seinen Artgenossen. Es hängt nicht mit einer fundamentalen Kraft zusammen, sondern verleiht den Teilchen ihre Masse. Außerdem unterliegt es der schwachen Wechselwirkung.
Um das Standardmodell zu vervollständigen, kommen noch die Antiteilchen der Quarks und der Leptonen hinzu, die sich lediglich durch das Vorzeichen ihrer elektrischen Ladung von den ursprünglichen Partikeln unterscheiden.
Am chinesischen Teilchenbeschleuniger BESIII in Peking werden Elektronen und ihre Antiteilchen (Positronen) aufeinandergeschossen, um exotische Reaktionen hervorzurufen. Unter anderem produzieren sie dort zahlreiche J/Ψ-Mesonen. Diese Teilchen bestehen aus einem Charm- und einem Anticharm-Quark. Sie sind für die Erzeugung von Gluonenbällen sehr viel versprechend, denn J/Ψ-Mesonen zerfallen mit einer Wahrscheinlichkeit von 64,1 Prozent in drei Gluonen. Diese reagieren wiederum miteinander und könnten kurzzeitig einen Gluonenball bilden, bevor sie in ein anderes Teilchen zerfallen. Wie die Forschenden in Peking feststellten, erzeugte etwa eines von 77 000 J/Ψ-Mesonen ein Teilchen, das sie X(2370) nennen. Dieses wurde inzwischen mit einer Signifikanz von 11,3 Sigma nachgewiesen – in der Teilchenphysik gelten 5 Sigma als Goldstandard, alles darüber hinaus gilt als gesichertes Signal. Damit ist die Existenz des X(2370)-Teilchens inzwischen unstrittig.
Die Hinweise verdichten sich
Physiker und Physikerinnen haben das X(2370)-Teilchen erstmals 2022 detektiert. In ihrer neuesten Veröffentlichung hat die BESIII-Kollaboration seine Eigenschaften genauer untersucht, um herauszufinden, aus welchen Elementarteilchen es aufgebaut ist. Sie konnten eine Masse von 2,395 GeV/c2 messen, was hervorragend zu den theoretischen Vorhersagen des leichtesten Gluonenballs passt. Und auch der Spin des neuen Teilchens, der null beträgt, scheint damit übereinzustimmen. Damit verdichten sich die Hinweise darauf, dass es sich bei X(2370) tatsächlich um den lange gesuchten Gluonenball handelt.
Doch gesichert ist das Ergebnis noch nicht. Die Entstehung eines X(2370) pro 77 000 J/Ψ-Mesonen ist um den Faktor zehn höher als vom Standardmodell vorhergesagt. Zudem besteht weiterhin die Möglichkeit, dass sich X(2370) in Wirklichkeit aus zwei Quarks zusammensetzt. Es braucht also noch weitere Messungen, bevor ein eindeutiger Erfolg vermeldet werden kann.
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