Direkt zum Inhalt

Schönes Lehrbuch unter falschem Titel

Dieses Werk liefert verständliches Basiswissen zur Neurobiologie – leider weitgehend ohne aktuelle Befunde.

Das komplexe Gehirn verständlich zu erklären – das ist das Ziel von Marc Dingman. So, dass man ohne Vorwissen und möglichst ohne dass wichtige Inhalte verloren gehen, nachvollziehen kann, wie Forscher zu ihren Ergebnissen kommen. Der Autor nimmt sich also einiges vor und liefert auch vieles; nur das Versprechung des Buchtitels hält er nicht ein, nämlich »neueste Erkenntnisse« zu präsentieren.

In zehn Kapiteln erklärt Dingman je eine Funktion des Gehirns, etwa Angst, Lust, Trauer, Schlaf, Sprache und Aufmerksamkeit. Sein Werk soll kein Lehrbuch sein, doch genau so wirkt es mitunter – immerhin wie ein unterhaltsames mit vielen guten Fallbeispielen.

Einschübe und Nebensatzgewirr

Dem promovierten Neurowissenschaftler merkt man sein profundes Verständnis der Materie an. Man spürt, dass er sich gern damit beschäftigt, Wissenschaft verständlich zu machen. Seine Freude an der Forschung ist durchaus mitreißend. Ein wenig irritiert allerdings sein Hang, ellenlange Sätze mit Einschüben, Nebensatzgewirr, Trennstrichen, Doppelpunkten und Klammern zu bilden. Dingman beschreibt im Detail den Werdegang des jeweiligen Forschungsgebiets, bleibt aber vor den neuesten Befunden stecken. Was er als »jüngste Forschung« bezeichnet, ist schon mal mehr als fünf Jahre alt, obwohl die englische Originalausgabe erst 2019 veröffentlicht wurde. Auf wirklich neue Entwicklungen geht er selten ein – und wenn, dann eher in Nebensätzen oder Klammern. Bei der genaueren Beschreibung von Experimenten konzentriert er sich ebenfalls auf ältere Forschung. Dabei wäre es besonders spannend gewesen, zu erfahren, wie Wissenschaftler aktuell zu Erkenntnissen kommen.

Störend sind oft die Kästen. So recht wird nicht klar, was sie jeweils sollen. Sie liefern zusätzliche Informationen, die hätten aber genauso viel oder wenig in den Text gepasst und stören oft bloß den Lesefluss. Teilweise vermitteln sie fragwürdige Inhalte wie Dingmans Empfehlung, bei Schlafproblemen das rezeptfreie Hormon Melatonin einzunehmen. Zwar rät er, sorgfältig zu recherchieren, welche Präparate seriös sind. Dass es aber sinnvoller wäre, bei Schlafstörungen einen Arzt aufzusuchen, erwähnt er nicht. Viel hilfreicher wären statt der Kästen kurze Zusammenfassungen mit den wichtigsten Punkten am Schluss jedes Kapitels gewesen.

Trotz allem stellt das Buch gelungen die Grundlagen der Neurowissenschaften dar. Wie aktuelle Forschung funktioniert, welche neuen Erkenntnisse es gibt und was man bei der Interpretation von Studienergebnissen beachten sollte – genau diese Informationen bleibt Dingman den interessierten Lesern jedoch schuldig.

Kennen Sie schon …

Gehirn&Geist – Wer entscheidet? Wie das Gehirn unseren freien Willen beeinflusst

Was bedeutet es, ein Bewusstsein zu haben? Haben wir einen freien Willen? Diese Fragen beschäftigen Neurowissenschaft, Philosophie und Theologie gleichermaßen. Der erste Artikel zum Titelthema zeichnet die Entwicklung der neurowissenschaftlichen Forschung nach und zeigt, wie das Gehirn das subjektive Erleben formt. Anschließend geht es im Interview mit dem Neurophilosophen Michael Pauen um die Frage, ob wir frei und selbstbestimmt handeln oder nur Marionetten unseres Gehirns sind. Die Antwort hat Konsequenzen für unser Selbstbild, die Rechtsprechung und unseren Umgang mit KI. Daneben berichten wir, wie virtuelle Szenarien die traditionelle Psychotherapie erfolgreich ergänzen und vor allem Angststörungen und Posttraumatische Belastungsstörungen lindern können. Ein weiterer Artikel beleuchtet neue Therapieansätze bei Suchterkrankungen, die die Traumata, die viele Suchterkrankte in ihrer Kindheit und Jugend erfahren haben, berücksichtigen. Zudem beschäftigen wir uns mit der Theorienkrise in der Psychologie: Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer erklärt, warum die Psychologie dringend wieder lernen muss, ihre Theorien zu präzisieren.

Gehirn&Geist – Verbrechen: Die Psychologie des Bösen

Warum faszinieren wahre Verbrechen? True Crime ist ein Spiegel unserer psychologischen Neugier: Was macht Menschen zu Tätern – und wie gelingt es Ermittlern, die Wahrheit ans Licht zu bringen? In dieser Ausgabe geht es um die Kräfte, die Menschen in den Abgrund treiben oder zurückholen. Wir zeigen, warum Rache selten Frieden bringt, wie gefährliche Häftlinge in Sicherungsverwahrung leben, was das Stockholm-Syndrom über Überlebensstrategien verrät und mehr.

Spektrum edition – Sprache

In dieser »edition« behandeln wir das Thema Sprache von den Wurzeln bis hin zur Entschlüsselung von tierischer Kommunikation mit KI. Wie klingt eine Sprache, die fast niemand kennt? Denken Menschen anders, wenn sie anders sprechen? Und was verrät der Klang einer Sprache über unsere Wahrnehmung?

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.