»Die Verteidigung der Wahrheit«: Wissen in der Zange zwischen Trollen und Cancel Culture

Wer sich häufig auf Twitter und anderen Social-Media-Plattformen äußert, entgeht kaum einem Shitstorm wegen Banalitäten, verfängt sich leicht in Verschwörungstheorien oder bekommt es mit Cancel Culture zu tun. Trotzdem findet man dort auch hochkonzentrierte Threads zu wissenschaftlichen Theorien und ernsthafte Diskussionen.
In diesem Rahmen bewegt sich der amerikanische Journalist und Politologe Jonathan Rauch mit seinem Buch »Die Verteidigung der Wahrheit. Fake News, Trolle, Verschwörungstheorien und Cancel Culture«. Leider hat der deutsche Verlag für das Marketing den amerikanischen Originaltitel zugespitzt. »The Constitution of Knowledge: The Defence of Truth« passt besser zur Absicht des Autors. Ihm geht es um die »Verfassung des Wissens« und dessen Gefährdung in den Wirren des Internets und mancher Engstirnigkeit in Hochschulen und öffentlichem Sprechen.
Auf der Suche nach Wissen und Wahrheit spannt Rauch einen weiten Bogen. Er beginnt mit Platons Dialog »Theaitetos« und der Frage, ob man zwischen Meinen und Behaupten sinnvoll unterscheiden könne, ob es eine gesicherte Wahrheit gäbe. Platons Dialog mündet zwar in Skepsis, regt aber zugleich die Fortsetzung des Gesprächs an. Rauch springt von da zu John Locke, Adam Smith, James Madison, den großen Liberalen, die die Verfassung des Wissens in Politik, Ökonomie und der Wissenschaft niedergeschrieben haben, geht dann zu Charles S. Peirce über, der die Wahrheit im »Wir«, der Gemeinschaft, sah, und endet bei Karl Popper, für den Thesen zu falsifizieren erst das Destillat von Wahrheit schaffe bzw. temporär begründe.
Damit hat Rauch einen Rahmen entworfen für das, woran Wissen sich erweisen muss: an einer Empirie, bei der keiner das letzte Wort habe und es keine an persönliche Autorität gebundene Wahrheit gebe. Objektive Wahrheit ist das, was eine Gemeinschaft in der gemeinsamen Diskussion anhand von methodisch erworbenem Wissen zeitweise als gültig betrachte. Rauch schließt damit nicht nur Homöopathen, Kreationisten, Verschwörungstheoretiker etc. aus, sondern auch »postmoderne Professoren«, die den Wahrheitsbegriff verflüssigten, sowie alle »populistischen und dogmatischen Stimmungen unserer Zeit«.
Mit dem Rüstzeug und den Gewährsleuten auf seiner Seite wendet sich Rauch den stärksten Tendenzen im Netz und im öffentlichen Diskurs zu. Sie untergraben, so Rauch, die Verfassung des Wissens: die Desinformationstechnologien von Plattformen, die Troll-Epistemologien sowie die Cancel Culture. Während Plattformen eine »Milliarde privater Realitäten« schafften und Unwahrheiten beschleunigten, überfluteten Trolle das Netz mit »Scheiße«, wie John Bolton, der ehemalige Berater von Donald Trump, einst strategisch einforderte. Für Rauch zerstören Plattformen und Troll-Fabriken die Wahrheit, indem sie die Aufmerksamkeit der Menschen mit der Fülle erfundener Informationen überforderten. Wenn alles behauptet werden könne, auch das unmittelbare Gegenteil, schaffe das Netz totale Verwirrung – nichts sei mehr gesichert, Fakten würden beliebig erfunden oder zu »alternativen Fakten« umbenannt wie von Donald Trump.
Während die politisch Rechten sich dieser Verwirrungsstrategien bedienten und sie nutzten, bedienten sich die Linken, so Rauch, der Cancel Culture, einer Taktik der Einschränkung der Rede, einer Despotie der Wenigen. Sie findet Rauch hauptsächlich in Universitäten, Hochschulen, unter militanten Studierenden wie eingeschüchterten Professoren vor.
Abhilfe schaffe nur Standhaftigkeit und Gegenwehr. Das Schlusskapitel ist ein optimistisches Plädoyer für die Wirkmacht der freien Rede, für die Wahrheit und gegen die »gefühlte Wahrheit«. Rauch drückt darin die Hoffnung aus, dass es sich lohne, für Demokratie und Freiheit zu kämpfen.
Sowohl für die Überflutung des Netzes mit »Scheiße« wie auch für die Einschränkung der Rede im Glauben an die alleinige Wahrheit und Moral bringt Rauch eine erschlagende Fülle an Beispielen. Darin liegt zugleich das Manko des Buches: Alle Beispiele stammen aus dem US-Amerikanischen, für dessen Markt das Buch verfasst ist. Wer aufmerksam Tageszeitungen liest, kennt ausreichend die Welt von Trump und den Snowflakes amerikanischer Universitäten. Für deutsche Leser hätte das Buch daher um gut ein Drittel kürzer ausfallen können, zumal Rauch zu Redundanzen und Wiederholungen neigt.
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