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»Geschichte der Zärtlichkeit«: Macht ohne Gewalt

Johannes Kleinbeck analysiert eindrücklich die Unterdrückung der Frau im Kontext der Liebe.
Küssendes Pärchen

Lange verpflichtete der Staat Eheleute zum Sex. Als Napoleon diese gesetzliche Pflicht 1804 abschaffte, begann eine Ära des Konsenses – allerdings nur vermeintlich. Denn die Unterdrückung der Frau setzte sich weiter fort. Sie änderte lediglich ihre Form, so die Kernthese in Johannes Kleinbecks »Geschichte der Zärtlichkeit«.

Der Literaturwissenschaftler untersucht nicht nur Fachtexte, sondern bezieht sich auch auf literarische Werke wie Jean-Jacques Rousseaus »Émile« sowie Briefwechsel zwischen Denkern wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Sigmund Freud und ihren Partnerinnen. Nur beim ewigen Junggesellen Immanuel Kant bleibt Kleinbeck bei den philosophischen Arbeiten. Er beschreibt folgendes Muster: Die Philosophen und der Psychoanalytiker stülpten der Frau das reichlich schwammige Konzept der Zärtlichkeit über und stellten es dar als natürliche Eigenschaft. So rechtfertigten sie eine Trennung der Geschlechter. Außerdem werteten sie Weiblichkeit ab, indem sie diese mit Zerbrechlichkeit und geistigem Unvermögen in Verbindung brachten.

Von Rousseau und Kant über Hegel bis zu Freud

Die Geschichte der Zärtlichkeit begann mit Rousseau. Mitte des 18. Jahrhunderts entstand die Idee der Liebesheirat. Die »Fortpflanzung als Hauptzweck der Ehe« war passé, der eheliche Beischlaf sei die »freieste und süßeste aller Handlungen« und keiner rechtlichen Pflicht unterworfen, schreibt der Philosoph in seinem Bildungsroman »Émile«.

Immanuel Kant hingegen mühte sich damit ab, überhaupt eine moralische Rechtfertigung für Sex zu finden, da er ihn als entwürdigend und tierisch ansah. Aus diesem Grund führte er die Geschlechterunterschiede ins Feld: Der feinen Frau wohne eine »natürliche Sittlichkeit« inne. Diese solle sie nutzen, um den forschen Mann zu bändigen. Dadurch werde die »viehische Geschlechtsneigung« zur »moralischen Liebe«.

Mit Hegel verschärfte sich die Geschlechterdifferenz – auch weil sich die gesellschaftliche Rolle der Frau änderte. Früher half sie in allen Bereichen mit. Mit dem Kapitalismus bekam sie eine eigene Sphäre: Die Frau wurde zur Hausfrau. »Weil diese Funktion weiterhin dem männlichen Familienoberhaupt untergeordnet bleibt, (…) bedeutet diese Veränderung allerdings keinesfalls eine Emanzipation der Frau, sondern lediglich eine Ausdifferenzierung der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern«, schreibt Kleinbeck.

Bei Freud wurde diese Ausdifferenzierung endgültig zu einem abwertenden Herrschaftsinstrument. In seinen Briefen an seine spätere Ehefrau Martha Bernays deutete er Zärtlichkeit um in körperliche und geistige Schwäche und versuchte seine angeblich widerspenstige Frau auf diese Weise zu disziplinieren.

Mit seinem Buch legt Kleinbeck eindrücklich offen, wie eng philosophische Arbeit mit persönlichen Erfahrungen verflochten sein kann. Die Briefwechsel bestätigen Kleinbecks These: Sie buchstabieren aus, was eine männliche Herrschaft ist, die nicht auf Gewalt basiert, sondern auf Status und Geschlechterrollen. Der Literaturwissenschaftler arbeitet dabei mit vielen Zitaten. Dies hilft ihm natürlich, seine Thesen zu belegen, beeinträchtigt aber Lesefluss und Verständlichkeit – vor allem, weil er sich damit auf die Begriffe der Philosophen festlegt, anstatt eigene, besser verständliche Formulierungen zu wählen. Man kann Johannes Kleinbeck daraus keinen Vorwurf spinnen, schließlich handelt es sich bei dem Buch um eine überarbeitete Variante seiner Doktorarbeit, die eine bestimmte Begrifflichkeit erfordert. Das wichtige Thema und die tief greifende Analyse hätten es aber verdient, in einer weniger formellen und damit leichter zugänglichen Sprache erschlossen zu werden.

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